Christoph Hein
 
 
Schriftsteller
 
         
   
Liebe mündig gewordene Mitbürger. Es gibt für uns alle sehr viel zu tun, und wir haben wenig Zeit für diese Arbeit. Die Strukturen dieser Gesellschaft müssen verändert werden, wenn sie demokratisch und sozialistisch werden sollen. Und dazu gibt es keine Alternative. Es ist a
uch von den schmutzigen Händen, von den schmutzigen Westen zu sprechen. Verfilzung, Korruption, Amtsmißbrauch, Diebstahl von Volkseigentum, das muß aufgeklärt werden, und diese Aufklärung muß auch bei den Spitzen des Staates erfolgen. Sie muß dort beginnen.

Hüten wir uns davor, die Euphorie dieser Tage mit den noch zu leistenden Veränderungen zu verwechseln. Die Begeisterung und die Demonstrationen waren und sind hilfreich und erforderlich, aber sie ersetzen nicht die Arbeit.

Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Begeisterung täuschen! Wir haben es noch nicht geschafft. Die Kuh ist noch nicht vom Mist. Und es gibt noch genügend Kräfte, die keine Veränderungen wünschen, die eine neue Gesellschaft fürchten und auch zu fürchten haben.

Ich möchte uns alle an einen alten Mann erinnern, an einen alten und wahrscheinlich jetzt sehr einsamen Mann. Ich spreche von Erich Honecker. Dieser Mann hatte einen Traum, und er war bereit, für diesen Traum ins Zuchthaus zu gehen. Dann bekam er die Chance, den Traum zu verwirklichen. Es war keine gute Chance, denn der besiegte Faschismus und der übermächtige Stalinismus waren dabei Geburtshelfer. Es entstand eine Gesellschaft, die wenig mit Sozialismus zu tun hatte. Von Bürokratie, Demagogie, Bespitzelung, Machtmißbrauch, Entmündigung und auch Verbrechen war und ist diese Gesellschaft gezeichnet.

Es entstand eine Struktur, der sich viele gute, kluge und ehrliche Menschen unterordnen mußten, wenn sie nicht das Land verlassen wollten. Und keiner mehr konnte erkennen, wie gegen diese Struktur vorzugehen sei, wie sie aufzubrechen ist.

Und ich glaube, auch für diesen alten Mann ist unsere Gesellschaft keinesfalls die Erfüllung seiner Träume. Selbst er, an der Spitze dieses Staates stehend und für ihn, für seine Erfolge, aber auch für seine Fehler, Versäumnisse und Verbrechen besonders verantwortlich, selbst er war den verkrusteten Strukturen gegenüber fast ohnmächtig.

Ich erinnere an diesen alten Mann nur deshalb, um uns zu warnen, daß nicht auch wir jetzt Strukturen schaffen, denen wir eines Tages hilflos ausgeliefert sind. Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet. Das wird für uns alle viel Arbeit geben, auch viel Kleinarbeit, schlimmer als stricken.

Und noch ein Wort. Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Offenbar glauben viele, die Veränderungen in der DDR sind schon erfolgreich, denn es melden sich jetzt viele Väter dieses Erfolgs, merkwürdige Väter. Bis hoch in die Spitzen des Staates. Aber ich denke, unser Gedächtnis ist nicht so schlecht, daß wir nicht wissen, wer damit begann, die übermächtigen Strukturen aufzubrechen, wer den Schlaf der Vernunft beendete. Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes. Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden, könnte die Arbeit, die gerade beginnt, nicht erfolgen. Und da ist an erster Stelle Leipzig zu nennen.

Ich meine, der Oberbürgermeister unserer Stadt sollte im Namen der Bürger Berlins, da wir alle mal hier zusammenstehen, dem Staatsrat und der Volkskammer vorschlagen, die Stadt Leipzig zur Heldenstadt der DDR zu ernennen.

Wir haben uns an den langen Titel: Berlin, Hauptstadt der DDR, gewöhnt, ich denke, es wird leichter sein, uns an ein Straßenschild: Leipzig, Heldenstadt der DDR, zu gewöhnen.

Der Titel wird unseren Dank bekunden. Er wird uns helfen, die Reform unumkehrbar zu machen.

Er wird uns an unsere Versäumnisse und Fehler in der Vergangenheit erinnern, und er wird die Regierung an die Vernunft der Straße mahnen, die stets wach blieb und sich, wenn es notwendig ist, wieder zu Wort meldet. Ich danke Ihnen.

 
         
  Originaltext