Der schönste Tag im Jahr - der 4. November 1989 -
Zeichen und Botschaften einer Demonstration
 
     
 

Am 15. 10. 1989 kommen um 11.00 Uhr im Deutschen Theater Mitarbeiter der Berliner Theater und der Theater der Republik, Vertreter der Künstlerverbände und verschiedener anderer Institutionen zusammen.
Es ist nicht das erste Treffen dieser Art. Bereits am 7.10.89 hatten die Schauspieler der Volksbühne Berlin ihre Kollegen zu einem Gedankenaustausch eingeladen.13
Der Anlaß lag auf der Hand: kaum jemand, der zu dieser Zeit über die politische Situation in der DDR nicht beunruhigt war. Es kommt zur Einigung über einen Vorschlag, sich am 4. 11. 89 zu einer Protestkundgebung zu versammeln. Am 16. 10. wird der Antrag auf Genehmigung einer Demonstration gestellt. Acht Tage später gibt es immer noch keine Antwort. Die Initiativgruppe beschließt, am 4. 11. auch ohne Erteilung der Genehmigung zu demonstrieren.
Am 26. 10. ist die Antwort da: die Demonstration ist genehmigt. Erlaubnisse würden widerruflich erteilt, wurde der Antragsteller pauschal per Vordruck belehrt. Die Gründe, wann solch ein Widerruf in Frage käme, enthielt der Vordruck nicht. Die eigentliche Arbeit beginnt. Beratungen mit Vertretern von Magistrat and Polizei sind fällig, eine Veränderung in der Streckenführung muß mühselig ausgehandelt werden, Ordner von den beteiligten Theatern werden dringend benötigt und bei allem diese eine den Initiatoren brennende Frage: wie kann garantiert werden, daß Demonstration und Kundgebung gewaltlos ablaufen?
Am Morgen des 4. 11.
ist der Alexanderplatz leer. Wieviele Menschen würden kommen? Würde überhaupt jemand dem Aufruf folgen? War vielleicht alle Mühe umsonst? Gut sechseinhalb Stunden später ist es vorbei. Die in der Geschichte der DDR erste bei den staatlichen Institutionen angemeldete nichtstaatliche Massendemonstration geht friedlich zu Ende.

Natürlich gab es unmittelbar vor Beginn die Sicherheitsleute des Ministeriums für Staatssicherheit:
" nichts los hier", "keine Demo", "zurück nach Hause", wurde manch frühzeitiger Passant oder Demonstrant - wer konnte das wissen? - begrüßt. Nicht mehr ganz so unfreundlich wie gewohnt. Aber umsonst.

Schätzungsweise eine knappe Million Teilnehmer verlassen ab 14.30 Uhr Alexanderplatz und Umgebung.14
Es liegen keine Meldungen über Gewalt oder besondere Vorkommnisse vor. Eine Demonstration war vorbei, was blieb sind die Zeichen jenes Tages, die vielen Transparente, Plakate, Verkehrsschilder, zweckentfremdeten Kleidungsstücke, Winkelemente ... und die auf ihnen transportierten Botschaften.
Und was außerdem blieb, ist die vielen Teilnehmern das einzige Mal lebendig gewordene Erfahrung, daß Einigkeit stark macht, wo sie aus dem freien Willen der Einzelnen entspringt.15 Die zig Botschaften jener größten Demonstration des Herbstes 89 auf einen Nenner zu bringen, ist unmöglich. Jeder Versuch einer Strukturierung wird zwangsläufig etwas vergessen müssen. Viel sicherer wird man sagen können, was nicht zum semantischen Bestand der Willensbekundung von knapp einer Million DDR-Bürgern gehörte, wenig später jedoch allerorten Priorität im Forderungskatalog von Demonstranten einnahm: 16 die Frage der deutschen Einheit.
Vermutlich hat kaum jemand der Demonstrationsteilnehmer ernsthaft daran gedacht, daß in diesen Tagen die Tage der DDR bereits gezählt waren. Der 4. 11. 89 war von der Emphase geprägt, seine eigene "Souveränität" zu erleben - in dem Sinne, daß die gesetzgebende Gewalt tatsächlich vom Volke ausgeht -, den Herrschaftsanspruch von Partei und Staat zurückzuweisen, Spaß zu haben an der Erfindung von Slogans, welche die eigenen Wünsche, Vorstellungen und Forderungen auf eine pointiertwitzige Kurzformel brachten, aufgehoben zu sein im Strom der Menge, ohne die Angst, darin zu verschwinden.

Gleicher unter Gleichen zu sein, freilich nicht ohne seine noch so individuelle Forderung artikulieren zu dürfen. Ungeahnte Ironie und Witz, lebendige Vielfalt und Lust an der Karrikatur prägten diese Demonstration. Es kann kaum Zweifel darin bestehen: wer am 4. 11. auf der Straße war, wollte glücklich sein. Wie ein Happening auf den Trümmern eines Staates mutete die Demonstration zuweilen an - eine Situation, die nicht jedem Beobachter behagt haben mag. 17

An diesem Tag ging es nicht um die Abschaffung des Sozialismus, sondern um die Vereinigung von Sozialismus und Demokratie - einer Allianz, die seit dem Prager Frühling zumindest in der DDR ruhte. Darin trafen sich die Teilnehmer. Bei aller Verschiedenheit der Forderungen existierte als kleinster gemeinsamer Nenner ein demokratischer Grundkonsens, gepaart mit der symbolischen Forderung an die Regierung: Gebt diesen Staat heraus, den Ihr sowieso verspielt habt.

Die Demonstranten ergriffen Besitz von einer Staatsmacht, die kein wirklicher Gegner mehr war. Dennoch stand ihnen diese symbolische Machtübernahme zu. Im Zusammenhang mit den anderen Demonstrationen in nahezu allen Städten der DDR war die Demonstration vom 4. 11. ein wesentliches Moment bei der eigent-lichen Konstitution der DDR als demokratischer Republik. Daß die Veranstalter auf das Genehmigungsverfahren Wert legten, sollte diesen konstitutiven Akt noch bekräftigen. Sie wollten der Regierung und deren Machtorganen in Hegelschem Sinn deren eigene Melodie vorspielen.

Wir tun es jetzt und Ihr müßt ja sagen. Die demonstrierenden Bürger stellten einen politischen Raum her für öffentliches Handeln und Nachdenken. Das ist es, was sich bei den Beteiligten als das Erleben einprägte, ihre Geschichte selbst zu machen. Das ist es auch, was Unbeteiligten das Verstehen so schwer macht und sie zugleich fasziniert. Wo ein politischer Raum im Sinne von bestimmender Öffentlichkeit existiert, kann auch das politische Exil der Privatsphäre verlassen werden - daher die Vielzahl der Botschaften, Sprachspiele und individuellen Forderungen. Die DDR wurde durch einen Akt der Selbstverwirklichung zum Staat derer, die demonstrierten.

 
       
  13 Vergleiche"Tschüß SED - 4.11.89" Katalog zur Ausstellung der Initiativgruppe 4.11.89 im Museum für Deutsche Geschichte Berlin-Ost und im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn,S.1.  
  14 In den Medien wurden die verschiedensten Zahlen genannt. Von drei- bis fünfhunderttausend Teilnehmern war die Rede. Mitglieder der Initiativgruppe 4.11.89 sprachen später von knapp einer Million Teilnehmern. Die Zahl habe sich aus Luftbildaufnahmen rekonstruieren lassen.  
  15 Henning Schaller, Bühnenbildner am Maxim-Gorki-theater, der das Meeting leitete, bat zum Schluss der Kundgebung darum, die Transparente und Plakate vorsichtig abzulegen, damit sie gesammelt und dann zu einer Art neuen Kunstausstellung zusammengestellt werden könnten.  
  16 Die Demonstration vom 4.11.89 war zugleich die letzte große Demonstration, deren Grundtenor "Wir sind das Volk", statt "Wir sind ein Volk" hieß.  
  17 Vgl. bspw.Heiner Müller "Krieg ohne Schlacht, Leben in zwei Diktaturen", Kiepenheuer & Witsch, 1992, S. 354 ff.