Vorwort
von Christoph Stölzl
 
 
 
 

Im Sommer 1994 fanden die Transparente der Berliner Massendemonstration vom 4. November 1989 den Weg in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums.

Die großherzige Schenkung der Initiatoren jener Veranstaltung beendete ein Rätselraten: Denn schon einmal, im Frühjahr 1990, waren einige hundert Objekte aus Stoff und Papier im Zeughaus zu Gast gewesen, nicht aus antiquarischen Gründen, sondern zu einem symbolischen Akt, der in den Hallen des DDR-Museums für Deutsche Geschichte noch einmal die Geste des 4. November wiederholte. Die Transparente verhüllten die Vitrinen der Ausstellung "Sozialistisches Vaterland DDR".

Nach einem kurzen Gastspiel in Bonn, wo die Präsentation durch den Aufbaustab des »Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« zu einer besorgten parlamentarischen Anfrage der CSU führte, verschwanden die Objekte aus dem Gesichtskreis der Öffentlichkeit. Wem bekannt ist, daß im Deutschen Historischen Museum die sicherlich umfangreichste Sammlung von Dokumenten der DDR-Propaganda gehütet wird, der mag es als Ironie der Geschichte nehmen, daß nun unter dem gleichen Dach die Rufe vom Herbst 1989 musealisiert werden, welche halfen, eben jene DDR zu beenden.

Es gibt freilich auch Stimmen, die hier Einspruch erheben würden. Daß die Massenversammlung am Alexanderplatz zwar gegen die Parteidiktatur der SED, aber für eine sozialistische DDR plädiert habe, ist eine Deutung, die sich auf viele Formulierungen der Reden des 4. November stützen könnte.

Genausoviel Glaubwürdigkeit hätte aber auch die These, daß allein die Möglichkeit einer "demokratischen" Großdemonstration das Ende der eigentlichen DDR bezeuge, unbeschadet der dort gesprochenen Worte. Wer sich einer solchen Deutung nähert, muß nicht unbedingt einer platten Kausalität huldigen, die vom wohlbekannten Ausgang der Geschichte, nämlich der Wiedervereinigung, zurückrechnet in den November 1989.

Vielmehr ist es das Charakteristische vieler Revolutionen, daß sie von einer auffälligen Ungleichzeitigkeit im Bewußsein der Handelnden gekennzeichnet sind. Man mußte nicht, so könnte man überspitzt sagen, subjektiv die Wiedervereinigung als Ziel haben, um objektiv derselben durch das eigene Handeln Vorschub zu leisten. Den Faktor "List der Geschichte" im turbulenten Einigungsjahr zu verfolgen, wird später einmal zu den spannendsten Aufgaben gehören, und man kann jetzt schon neugierig darauf sein, welchen historischen Ort die Forschung dem Berliner 4. November dabei geben wird.

Peter Bender, der langjährige Beobachter der deutschen Teilung, hat kürzlich (Merkur September/ Oktober 1994) angemahnt, sich von der Konjunktur der "Deutschen Legenden" in Ost und West nicht den Blick vernebeln zu lassen für die verschiedenen Phasen in der Geschichte der DDR.

Es ist das Faszinierende am 4. November 1989, daß fast wie in einer - sit venia verbo! - Geschichtsrevue Protagonisten fast aller dieser Phasen das Wort ergriffen: Stefan Heym wie Friedrich Schorlemmer, Steffi Spira wie Gregor Gysi, Ekkehard Schall wie Jens Reich, Markus Wolf wie Christa Wolf. So ist denn eines jedenfalls sicher in der Einordnung des 4.11.1989: Seine Hinterlassenschaft, als die eines bedeutenden Ereignisses, ist selbst auch bedeutend.

Darauf, und nur darauf kommt es im Museum zunächst an - die strenge Erforschung der historischen Ereignisse ist Sache anderer Institutionen. Wir haben es auf diesem Hintergrund für sinnvoll gehalten, den Kommentar zu den Transparenten des 4. 11. 1989 von einem Augenzeugen und Beteiligten schreiben zu lassen; Frank Beuths Text ist gleichermaßen ordentliche Chronik wie Stimmungsbild des DDR-internen Raisonnements. Deshalb erzählt er, und sei es zwischen den Zeilen, viel mehr vom Inhalt des 4. 11. 1989, als es eine lückenlose Fernsehdokumentation des sichtbaren Ereignisses jemals könnte.

 
     
  Christoph Stölzl