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Monika Uliczka

Arbeit an einer neuen Zukunft. Wie aus Flüchtlingen Wolfsburger wurden



Kriegsspiel in einer Barackensiedlung am Hohenstein, 1955. Nach Kriegsende kamen über zwanszigtausend Flüchtliinge und heimatvertriebene nach Wolfsburg
(Photo:Willi Luther)




"Hier heißt es zusammenrücken!", 1953. An jedem Sprechtag des Wohnungsamtes kamen etwa hundert Ratsuchende
(Photo: Willi Luther)

Jahre des Übergangs
Entlang der Grenze zur sowjetisch besetzten Zone kam es in den ersten Nachkriegsjahren zu einer sehr ungleichmäßigen Verteilung der Flüchtlinge. Gegen Ende des Jahres 1945 hatte sich die Einwohnerzahl des Regierungsbezirks Lüneburg um fast 70 Prozent erhöht. Davon waren der Kreis Gifhorn und die Stadt Wolfsburg auf besondere Weise betroffen, weil ehemalige Wehrmachtsangehörige mit Flüchtlingen und Ausgewiesenen um die knappen Lebensmittel und Unterkünfte konkurrierten. (1) Obwohl der Kreis Gifhorn im Sommer 1946 zum Versuchskreis für die Durchführung eines Flüchtlings-Notprogramms erklärt wurde, konnte kaum die Grundversorgung sichergestellt werden. Unterernährung und Tbc waren die Folge. Die Anträge auf Hausratshilfe kennzeichnete ein Kreistagsabgeordneter zutreffend als "Dokumente der Not". Das erste eigene Bett in der neuen Heimat konnten viele Vertriebene erst nach der Währungsreform erwerben. In der allgemeinen Ratlosigkeit schlug ein Obmann des Wolfsburger Sozialausschusses im September 1946 vor, über eine Zwangsabgabe nachzudenken. Der Bedarf an Kleidung wurde immer größer, weil ständig neue Wellen Hilfsbedürftiger versorgt werden mußten. Im Oktober 1949 zählten von den 25 000 Einwohnern der Stadt Wolfsburg 10 000 zur Gruppe der Vertriebenen, Bombengeschädigten und Evakuierten.

Das Jahr 1950 wurde vom Konflikt über die Darlehensvergabe aus Landesmitteln überschattet. Seit längerer Zeit bestand zwischen dem Kreis Gifhorn und der Stadt Wolfsburg bei der Vergabe öffentlicher Mittel erhebliche Rivalität. Das Stadt-Flüchtlingsamt vertrat den Standpunkt, daß allein die Handhabung der Darlehensverteilung klar beweise, auf welch drastische Weise Wolfsburg gegenüber den anderen Städten im Kreis benachteiligt werde. Die Kreisbebörden hielten dem entgegen, "daß durch das Volkswagenwerk die Flüchtlinge in Wolfsburg bessere Arbeitsmöglichkeiten hätten als anderswo und eine Existenzgründung in Wolfsburg daher nicht vonnöten wäre".

Im Vordergrund der allgemeinen Flüchtlingsbetreuung stand in Wolfsburg über viele Jahre hinweg das Wohnungsproblem. Ratsherr Kiesel (SPD) bat 1946, folgende Stellungnahme ernstzunehmen: "Hier heißt es zusammenrücken! Das gilt aber für alle, ohne Ansehen der Person. Wir haben gemeinsam den Krieg verloren, wir haben auch gemeinsam die Folgen zu tragen; es kann niemand davon entbunden werden." Zwischen Stadtverwaltung und Werkleitung schwelte seit 1945 ein tiefgreifender Konflikt. Das Volkswagenwerk warb immer neue Arbeitskräfte an, obwohl die Stadtbebauung einem Torso glich. Nur wenige Bauabschnitte wurden bis Kriegsende restlos fertiggestellt. Im Juli 1946 sorgte der britische Kreiskommandant persönlich für die Unterbringung weiterer 2 000 männlicher Arbeitskräfte, indem er in den bestehenden Barackenlagern Unterkünfte herrichten ließ. Die Werkleitung drängte das Wolfsburger Wohnungsamt immer wieder, alle nicht dem Volkswagenwerk angehörenden Personen aus der Stadt zu weisen. Man fürchtete sogar die Familienzusammenführung, weil dadurch wertvolle Schlafplätze für die Arbeitskräfte verlorengingen.

Nachdem die Wolfsburger Stadtverwaltung 1950 ein umfangreiches Wohnungsbauprogramm in Angriff nehmen konnte, entspannte sich die Lage geringfügig. In einer Sitzung am 4. Mai 1954 stellte der Wolfsburger Stadt-Flüchtlingsrat fest: "Ein Stillstand in der Flüchtlingsbewegung wird in absehbarer Zeit in Wolfsburg nicht eintreten. Das Volkswagenwerk mit seinen großen Arbeitsmöglichkeiten trägt in hervorragendem Maße dazu bei, daß die Flüchtlinge in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden." Noch 1959 zeigte die Wolfsburger Flüchtlingsstatistik eine steigende Tendenz. Da es in Wolfsburg in den ersten Jahren nach dem "Zusammenbruch" des Dritten Reiches keinen regulären Wohnungsmarkt gab, blieben soziale Spannungen nicht aus. Seit der Währungsreform trat die Ernährungsfrage in den Hintergrund, während die allgemeine Wohnungsnot in Wolfsburg immer groteskere Züge annahm. An jedem Sprechtag des Wohnungsamtes erschienen etwa hundert Ratsuchende. Lagen im März 1948 erst 1250 Anträge von Wohnungssuchenden vor, zählte der Wohnungsausschuß im Januar 1951 schon 3500. Von den schätzungsweise 14 000 Wohnungssuchenden wurden 1800 als
Notfälle registriert. Ein Jahr später grenzte selbst die Verlegung der 38 an offener Tbc Erkrankten in andere Wohnungen "an Unmöglichkeit".

Wolfsburg hatte sich längst an den Beinamen "Barackenstadt" gewöhnt. Die Lagerleitung und das Volkswagenwerk sahen sich immer häufiger mit Problemen konfrontiert, die sich daraus ergaben, daß Ehefrauen in die Gemeinschaftsunterkünfte der Männer zogen. Anfangs forderte man die Männer unter Androhung des Arbeitsplatzverlustes dazu auf, ihre Frauen wieder wegzuschicken. In der Regel wurde den Ultimaten keine Folge geleistet, obwohl sich fünf oder mehr Stubenbewohner auf engstem Raum zusammendrängten. Im Januar 1948 verfügten 359 Flüchtlingsfamilien über einen Haushalt mit eigener Wohnung. 1953 waren es bereits 1667 Flüchtlingsfamilien, wobei der Anteil der Lagerwohnungen stark rückläufig war. Die einander abwechselnden "FIüchtlingswellen" führten zu einer permanenten Differenzierung der Wohnbiographien: Während die Zuwanderer der ersten Stunde längst Hauptmieter waren, rückten weitere Flüchtlinge, die bis dahin in anderen Landesteilen und meist nicht viel besser untergebracht waren, in deren Untermietverhältnisse nach. Für diese "späten" Wolfsburger Flüchtlinge verlängerte sich also die Phase der Unsicherheit und der Übergangslösungen um wesentliche Jahre.

Wolfsburger Patchwork
Im Juni 1945 übernahmen britische Militärbebörden Stadt und Werk. Kurz darauf erging Befehl, zu produzieren. Die Zusammenstellung einer neuen deutschen Stammbelegschaft bereitete Schwierigkeiten: Einerseits wollte man nicht alle alten Stammarbeiter übernehmen, weil die Entnazifizierungsfrage noch nicht geklärt war. Andererseits war der Anteil der Facharbeiter schon gegen Ende des Krieges immer deutlicher zurückgegangen. Die Flüchtlingstrecks konnten die Lücken zunächst nicht schließen, weil diese sich zum großen Teil aus Frauen, Kindern und alten Männern zusammensetzten. Aus diesem Grund wurden im Sommer 1945 mehr als 1 000 Fachkräfte aus der gesamten britischen Zone in der Stadt zusammengezogen. Im folgenden Jahr veränderte sich die Belegschaft von Monat zu Monat. Entlassene Soldaten auf dem Weg zu ihren Familien machten für wenige Tage Station im Werk, um die notwendigen Lebensmittel zu verdienen. Erst die Währungsreform wirkte sich stabilisierend auf die Belegschaftsentwicklung aus. Anfang 1952 galt die Materialkrise im Volkswagenwerk als überwunden. Die Werkangehörigen gewannen durch die starke Nachfrage im In- und Ausland "in immer stärkerem Maße ein Gefühl der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes". 1959 beschäftigte das Werk Wolfsburg 19 853 (westdeutsche) Einheimische und 16 271 (ostdeutsche) Flüchtlinge. Die Schlesier waren mit Abstand die größte erfaßte Gruppe. Das Durchschnittsalter der Gesamtbelegschaft betrug 1953 nur 34,4 Jahre und fiel 1960 auf 33,1 Jahre.

Der Gymnasiast Andreas Konietzny, geboren in einer oberschlesischen Industriestadt, kam 1945 ins Volkswagenwerk. "Jedenfalls [...] traf ich da jemand, mit dem ich klar kam, und wurde dann eingestellt als Hilfsschlosser. Obwohl ich da nie was mit zu tun hatte. Ich sagte, ich kenne mich aus mit Motoren und so, Motorhitlerjugend-Führerschein. Und da bekam ich einen schönen Job und relativ viel Geld, das waren 95 Pfennig, das war viel." Viele der jungen Männer, die direkt aus den Kriegsgefangenenlagern ins Volkswagenwerk gingen, stammten ursprünglich nicht aus dem Arbeitermilieu. Jung, ledig, berufsunerfahren - aber aufstiegsorientiert -, konnte eine ganze Reihe von ihnen Karriere im Volkswagenwerk machen.

Im Juli 1945 kam Ewald Wefzow nach Braunschweig. Dort machte ihn das Arbeitsamt auf die Wolfsburger Motorenwerke aufmerksam. "Ich will mal so sagen, sie konnten keine Reichtümer erwerben, aber sie konnten von dem leben, ohne zu sparen." Die Situation im Oktober 1945 schildert er so: "Ich habe das also als kalt empfunden. Und das war nicht meine Aufgabe hier und mein Denken hier, in dieser Stadt mich zu etablieren. Das war eine vorübergehende, logische, konsequente Ausnutzung der Situation. Denn ich hatte Essen, Trinken und konnte jetzt also denken." Wefzow arbeitete bis Mitte 1947 in der Schlosserei und besuchte später die Abendschule. Im Werk machte er langsam, aber kontinuierlich Karriere.

Edith Rawert lebte vor ihrer Zwangsumsiedlung im Jahr 1945 in einem kleinen schlesischen Dorf nahe Breslau. Die Eltern betrieben dort eine einträgliche Schuhmacherei. "Meine Schwester, mein Schwager haben 1935 hier schon gewohnt. Mein Schwager war Vorzeichner im Werk. [...] waren wir dann in Oldenburg hier, und da hat uns die Schwester angefordert. Erst mal meinen Vater [...] und konnte gleich im Werk anfangen zu arbeiten als Schuhmacher. Das war 1946. [...] Ich war vier Jahre im Volkswagenwerk. 1947 ins Werk gekommen. [...] Da habe ich eine große Stanze gehabt und die Sohlen, die in die Schuhe kommen, alle gestanzt. [...] Ja, dann lernte ich meinen Schatz kennen, und dann haben wir geheiratet, und dann bin ich raus aus dem Werk." Von den Neuankömmlingen werden auch Schwierigkeiten mit den Belegschaftsteilen, die schon in den Kriegsjahren dabei waren, erinnert: "AIso im Werk [...], da sind wir die erste Zeit so als zweite Klasse angesehen worden. Von den Einheimischen. [...] wer schon im Gemeinschaftslager gewohnt hat, der war schon hinten durch. [...] einen schlechteren Job nicht, aber die haben einen nicht so voll genommen [...] zu Anfang. Die haben ja noch ihren Sonntagsanzug gehabt und das alles. Und wir hatten unsere Wehrmachtssachen." Das Verhältnis der Arbeitskollegen untereinander verbesserte sich im Laufe der Jahre merklich, wichtiger war aber die gute Versorgung: "Wir haben nun Glück gehabt, daß wir bei VW gearbeitet haben. Wir haben viele Vorteile gehabt." Dafür nahm man auch verschärfte Bedingungen in Kauf: "Da haben wir fünf Wochen nur Nachtschicht gemacht. [...] Ja, mir war es wichtig, daß ich einmal arbeitete, daß ich Grund kriegte. Da war mir jede Arbeit recht. An die Gesundheit in der Weise habe ich gar nicht gedacht. Ein Schichtarbeiter kam 1952 leicht auf 240 Arbeitsstunden im Monat."

300 Morgen Land, Schweine, eine Mühle und eine gewerbliche Privatmolkerei ließ Rudi Tamm am kurischen Haff zurück. "AIso drei Jahre in der Gefangenschaft beim Russen, und [...] dann waren wir noch heimatlos. Hier hatten sie noch Heimatreich [...]. Meine Heimat hatte der Russe besetzt [...], man konnte da gar nicht hin. [...] Kam ich nach Wolfsburg, blieb [...] und habe dann sieben Jahre zuerst im Volkswagenwerk gearbeitet. 1948 bis 1955. [...] Da habe ich 92 Pfennig Stundenlohn gekriegt! Und versuchte aber immer, mich selbständig zu machen. Weil ich doch meinen Beruf wollte - Molkereifachmann!". Herr Tamm entwarf sofort nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft einen detaillierten Lebensplan. Er war zwar nicht mehr ganz jung, aber ledig und kinderlos. Tamm sparte seinen Verdienst eisern, und mit einem Aufbaudarlehen und dem Lastenausgleich riskierte er den Schritt zum Lebensmittelkaufmann. In den Jahren 1945 bis 1952 nahmen die Betroffenen die Dequalifizierung als unumgänglich hin, da kaum Chancen zur mittelfristigen Veränderung bestanden. Anfang der fünfziger Jahre begann sich die Situation ganzer Belegschaftsteile leicht zu verändern. Die größten Abwanderungschancen hatten ehemalige Beamte, Angestellte und Facharbeiter. Dieselben Gruppen hatten allerdings auch innerhalb des Volkswagenwerks die besten Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung.

Nachdem 1952 die Energiekrise langsam abklang, setzte im Volkswagenwerk die schnelle Expansion ein. Die Fabrik konnte eine ständig wachsende Zahl ungelernter Arbeiter aufnehmen. Diese Arbeiter unterschieden sich von den ungelernten Kräften der vierziger Jahre allerdings in einem entscheidenden Punkt: Sie suchten nach einer Lebensstellung. "Ja, dann kam man hierher [...] nach den zehn vergangenen verlorenen Jahren [...], spuckte in die Hände und hat es geschafft." Otto Hasslinger verlebte seine Jugend auf dem elterlichen Hof in Gumbinnen. Nach
einer kriegsbedingten Beinamputation besuchte er die Meisterschule in Königsberg, um als ziviler Heeresschneider tätig zu werden. 1945 kam er nach Delmenhorst, wo er seit 1951 als Schneider keine Arbeit mehr fand. Verwandte verschafften ihm die Anstellung im Volkswagenwerk. "War für mich eine große Umstellung hier! [...] Schneider, und dann kommst du an die Maschine ran. [...] es geht alles, wenn man will. Und ich habe gern im Werk gearbeitet. Und wir können auch froh sein [...]. Unser Professor Nordhoff hat für alle gesorgt, für Arbeit. Daß der Absatz da war, und wir müssen ihm immer noch dankbar sein, daß wir unser Brot hier hatten." Lambert Hahn - aus einem kleinen Dorf im Warthegau - und ebenfalls beinamputiert, erinnert sich: "Da war ich zwei Jahre arbeitslos. [1950-1952] Es war doch nichts da. Das einzige: VW-Werk, und da wollte doch jeder rein! Da haben wir zwei Jahre gewartet. Und Arbeitslosenunterstützung [...], das war verdammt wenig. Acht Mark zwanzig pro Woche. Das hat gerade gereicht für Brot und Margarine knapp. [...] habe fünfzig Mark Rente gekriegt, aber das mußte ich fürs Zimmer und Mittagbrot bezahlen. Da war die Rente weg. Und 1952 haben sie erst richtig eingestellt im Werk. Das war eine böse Zeit! Und dann, wie wir nach dem Werk reingekommen sind, nun, dann hatten wir es geschafft!"

Ludwig Rawert hat ähnliche Erinnerungen, vermerkt aber auch die innerbetrieblichen Veränderungen im Laufe der Zeit: "Ja, schöne Zeiten
waren, auf einmal gesagt: von 1950 bis 1954. Das waren gemütliche Zeiten. Also man konnte alles in Ruhe machen [...], mitarbeiten und alles. Und von 1954 fing es dann an, immer mehr, immer mehr, immer mehr, nicht! [...] Also, die Stückzahl wurde erhöbt. Man kann sagen, die Stückzahl wurde von Jahr zu Jahr immer erhöht. Und dann war noch einmal eine schöne Zeit, dann waren wir [...] auch bald zehn Jahre zusammen mit den Kumpels. Da hat einer den anderen gekannt, auch gegenseitig so geholfen, und die letzte Zeit, da haben sie uns immer so durcheinander gewürfelt. Also dann wurden die Abteilungen immer kleiner; dann kamen die Transferstraßen [...], dann mußten soundsoviele wieder verschwinden. Und dann war das Band nicht mehr schön."

Der Anteil der Flüchtlinge an allen erwerbslosen Männern im Arbeitsamtsbezirk Wolfsburg betrug 1949 im Durchschnitt 52 Prozent. Im Laufe der Jahre entwickelte sich das Volkswagenwerk jedoch regelrecht zu einem "Schwamm" für Flüchtlinge und Vertriebene im nordöstlichen Niedersachsen. 1961 erwartete der Wolfsburger Stadtflüchtlingsrat die beachtliche Neueinstellung von 80 Prozent Flüchtlingen und Vertriebenen. Wie ein umfangreicher Schriftwechsel zwischen Werkleitung und Stadt-Flüchtlingsamt Wolfsburg jedoch belegt, genügte die Ortsnähe zum Werk jedoch keineswegs, um eine Einstellung zu jeder Zeit zu erwirken. Selbst Autoschlosser wurden abgewiesen, wenn gerade "unser Arbeitskräftebedarf gedeckt" war. Im Laufe des Jahres 1950 wurden die Einstellungsbedingungen dahingehend gelockert, daß Kräfte, die ihren Wohnsitz außerhalb der Fünf-Kilometer-Grenze rund um Wolfsburg hatten, nun auch eine Zuweisung ins Werk erhielten. Ende 1952 war der regionale Arbeitsmarkt "leergefegt".

Als das Volkswagenwerk 1954 eine Kapazitätsausweitung plante, suchte der niedersächsische Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte sofort Generaldirektor Nordhoff auf, weil er in der Produktionsausweitung eine Chance zur Überwindung der strukturellen Arbeitslosigkeit von Vertriebenen in Notstandsgebieten sah. Innerhalb weniger Jahre veränderten innerbetriebliche Umstrukturierungsmaßnahmen und Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt die Belegschaftszusammensetzung des Volkswagenwerks. Daher zeigen die Häufungen bestimmter biographischer Ausgangssituationen der Angeworbenen zu den unterschiedlichen Einstellungsterminen deutliche Unterschiede. Scheinbare Gemeinsamkeiten wie die Vertriebeneneigenschaft wurden durch unterschiedliche Lebensphasen aufgehoben, in denen die verschiedenen Zuwandererwellen aufeinandertrafen.

Die biographischen Merkmale wirkten sich auch auf die Gruppenbildung innerhalb der Stadt aus. Junge Männer, die östlich der Oder-Neiße-Linie geboren waren, fühlten sich nicht notwendigerweise als Flüchtlinge. Ihr Erfahrungsschatz war viel stärker durch die Kriegs- und Gefangenschaftserlebnisse geprägt. Das Auseinanderbrechen ihrer Herkunftsfamilie machte ihnen häufig mehr zu schaffen als der "Heimatverlust". Wolfsburg - der Sammelplatz für junge Männer der Nachkriegszeit - konnte aus diesem Grund niemals Hochburg von Vertriebenenorganisationen werden, obwohl die Bevölkerungszusammensetzung dafür geradezu prädestiniert war. In den ersten zehn Jahren nach Kriegsende engagierten sich in Wolfsburg vor allem Selbständige und Lehrer für den Aufbau von Vertriebenenorganisationen. Ihre Rolle in der innerstädtischen Politik nahm aber Mitte der fünfziger Jahre rapide ab und verlor sich in Bedeutungslosigkeit. Die Werkleitung hat auf diese Veränderungen sensibel reagiert: Die landsmannschaftlich organisierten Teile der Flüchtlinge erhielten nach der Währungsreform vielfältige Unterstützung. Es gehörte zur Werkspolitik, soziale Brennpunkte mit geringem Aufwand zu entschärfen. Der Flüchtlingszustrom war das einzige lokale Nachkriegsereignis von Bedeutung, das nicht am Volkswagenwerk orientiert war. Trotzdem entwickelten die betroffenen Bevölkerungsteile keine Gegenkultur zur Firmenkultur, sondern gingen mit ihren Bedürfnissen in ihr auf.

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  Anmerkungen
1 Vgl. die ausführliche Studie zu diesem Thema, Uliczka, Monika: Berufsbiographie und Flüchtlingsschicksal: VW-Arbeiter in der Nachkriegszeit, hg. vom Arbeitskreis Geschichte des Landes Niedersachsen (nach 1945), Hannover 1993.

©  Monika Uliczka