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Katja Widmann

"Eine Gemäldeausstellung in dieser Arbeiterstadt"?
Kunst in den Aufbaujahren Wolfsburgs und Stalinstadts

 

Im Herbst 1951 wurde der Maler Oskar Nerlinger aus politischen Gründen seines Amtes als Lehrer an der (West-) Berliner Hochschule für Bildende Künste enthoben. Im Ostteil der Stadt empfing man ihn mit offenen Armen, stellte ihm ein Haus zur Verfügung und die Mitgliedschaft in der Akademie der Künste in Aussicht. Durch einen gekoppelten Vertrag mit der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und dem Eisenhüttenkombinat 0st (EKO) bei Fürstenberg war Nerlinger für das folgende Jahr finanziell versorgt. Doch der Preis, den er dafür zahlte, war die Preisgabe seiner künstlerischen Eigenart. Der Kommunist Nerlinger, der in den zwanziger Jahren durch harsche Gesellschaftskritik in seinem unverwechselbar konstruktivistischen Stil bekannt geworden war, beugte sich dem Primat der Politik.

Die Staatliche Kunstkommission, Nerlingers Auftraggeber, existierte seit dem 31. August 1951. Ihr Ziel war "die Entwicklung einer fortschrittlichen deutschen Kultur", die man mit Hilfe einer realistischen parteilichen Kunst zu erreichen trachtete - was nicht weniger hieß, als "daß die politische Kritik bei der Beurteilung unserer Kunst primär ist und daß die künstlerische Kritik sekundär ist" (1), wie Otto Grotewohl unmißverständlich deutlich machte. Dies entsprach auch den Vorstellungen Nerlingers, der sich schon vor dem Krieg zur Politisierung seiner Kunst bekannt hatte; die "Entfremdung zwischen Volk und Künstler" sei nur aufzulösen, "indem der Künstler im Volke lebt, mit ihm empfindet, seine Leiden und seine Freu- den als Teil des Volkes miterlebt" (2). Nun bot sich Nerlinger die Möglichkeit, die Theorie an der Realität zu messen.

Seine Aufgabe bestand darin, nach Ablauf etwa eines Jahres ein Monumentalgemälde von rund 2 x 3 Metern zum Thema Eisenhüttenkombinat 0st vorzulegen. Das Neue an dieser Aufgabe war dabei weniger das Sujet selbst, als vielmehr die Arbeitsmethode: Die Beschäftigten des EKO sollten am Entstehungsprozeß beteiligt werden. Mehrere Wochen des Jahres 1952 verbrachte Nerlinger im Werk und in der Wohnstadt und schuf dort eine Vielzahl komplexer Studien - Ansichten des Werks, Arbeiterporträts und immer wieder Szenen zum Hochofenabstich -, über die er mit den Arbeitern diskutierte. Er erhoffte sich von ihnen "helfende Kritik" auf dem Weg zu einer neuen, realistischen Kunstsprache: "realistisch" verstanden als die Darstellung einer für die Zukunft angestrebten, nach sozialistischer Auffassung gesetzmäßig zu erreichenden Gesellschaftsform, die einerseits durch die Führung der Werktätigen verwirklicht werde, für die die Werktätigen andererseits aber - auch durch die Kunst - zunächst begeistert und erzogen werden müßten. Das Dilemma liegt auf der Hand: Nerlinger sollte für die schwammig definierte Theorie des sozialistischen Realismus eine so allgemeingültige Form finden, daß der sozialistische Künstler mit ihrer Hilfe künftig seine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen werde, nämlich "so deutlich >anzukommen<, zwei Schritte der Entwicklung des Lebens voraus zu sein, daß wir wiederum Helfer sind für die Entwicklung der Menschen, mit denen wir gemeinsam an unserer Zukunft bauen".

Die Präsentation der zum EKO entstandenen Zeichnungen und Ölstudien war die erste Kunstausstellung in der Wohnstadt, als Veranstaltungsort fungierte die festlich geschmückte Turnhalle. (3) Hier erhoffte sich Nerlinger kein schweigend betrachtendes Publikum, sondern eines, das ihm Anregungen dafür geben würde, wie er seine Darstellungen möglichst volksnah gestalten könne. Als Lernender einer neuen Kunstrichtung stellte sich Nerlinger der Kritik der Werktätigen. Die jedoch, in der Kunstbetrachtung ungeübt, schwankten zwischen naiver Bewunderung für "die vielen schönen Bilder", die "dem Professor Nerlinger bestimmt viel Arbeit und Mühe gemacht" hätten (4), und anmaßender Belehrung, wie sie etwa die Kreisleitung der FDJ äußerte: "Wir würden Prof. Nerlinger empfehlen, sich noch mehr als bisher mit dem Studium der Individualität des werktätigen Menschen am Arbeitsplatz zu beschäftigen." Die Parteipresse griff die Kommentare willig auf, sie kritisierte die Studien zwar als flach und plakathaft, lobte dafür aber Nerlingers Bereitschaft zu rückhaltloser Selbsttritik und kam schließlich zu dem Ergebnis, daß er "zweifellos an einem Durchbruch gearbeitet" habe.

Der platte, leblos wirkende Realismus des vollendeten (und inzwischen verschollenen) Ge
mäldes demonstriert auf erschreckende Weise Nerlingers politisch gewollten Bruch mit seiner künstlerischen Vergangenheit und läßt bezweifeln, daß die Ratschläge wirklich so hilfreich waren, wie er es seinem Auftraggeber gegenüber darstellte. Um es jedem recht zu machen, hätte die neue Kunst zugleich avantgardistisch, propagandistisch und kleinbürgerlich sein müssen. In den schriftlichen Aufzeichnungen, die Nerlinger als Zwischenberichte für die Kunstkommission anfertigte, finden sich immer wieder dieselben Floskeln von "Menschen, die mir später zu Freunden wurden", vom "psychologischen Erfassen des neuen Verhältnisses zur Arbeit", von der "Erkenntnis der Notwendigkeit engster Verbindung mit den fortschrittlichen Werktätigen" und, vor allem, von "helfender Kritik der Werkangehörigen des EKO", die ihm zuteil geworden sei.

Es scheint, daß der positive Ausgang der Aktion von vornherein beschlossene Sache war. Die Arbeitsmethode, die Nerlinger angewandt hatte, wurde lange Zeit als wegweisend betrachtet; die Berliner Bezirkskulturkommission wertete seine Leistung als die "entscheidende[n] Schritte vorwärts zum realistischen Kunstschaffen", zur Darstellung eines neuen sozialistischen Menschentyps. Seit seiner Arbeit im EKO wurde Nerlinger in der DDR als ein Wegbereiter des sozialistischen Realismus gefeiert.

Die erste Ausstellung, die den Wolfsburgern angeboten wurde, ging den umgekehrten Weg. Hier sollte keine neue nationale Kunsttradition begründet, sondern auf dem Weg in die Zukunft eine vergangene Moderne beschworen werden, eine "bessere" Vergangenheit als die gerade überwundene. (5) Bestimmte in Stalinstadt die Spitze der führenden Partei über die kulturelle Entwicklung, ging das erste große Kunstereignis in Wolfsburg auf die Initiative des VW-Direktors Nordhoff zurück. Daß ausgerechnet Werke von Franz Marc gezeigt wurden, geschah durchaus mit pädagogischem Hintersinn. Die Sehgewohnheiten der Besucher waren durch zwölf Jahre nationalsozialistischer Kunstdoktrin geprägt, ein nicht unerheblicher Teil der Wolfsburger Bevölkerung tendierte politisch zum rechten Spekfrum (6). Nun wurden Werke eines Künstlers gezeigt, der noch vor kurzem zu den "Entarteten" gehört hatte: Bilder ohne vordergründig politischen Inhalt, in starken Farben und expressiven Formen. In der Ausstellung ging es nicht darum, ein staatlich propagiertes Menschenbild zu formen. Nordhoff, den in seiner Jugend ein Gemälde Marcs stark beeindruckt hatte, wollte erleben, ob sich die vielfach kunstunerfahrenen Beschäftigten des VW-Werkes und ihre Angehörigen für Kunst begeistern lassen würden, ob sich ihr Blick öffnen lasse für "eine neue Welt der Harmonie von Farbe und Form" (7). Man habe in Wolfsburg Arbeitsplätze geschaffen und Wohnungen errichtet und damit die "beinahe animalischen" Bedürfnisse nach Zivilisation erfüllt. Eine "Gemäldeausstellung in dieser Arbeiterstadt", so Nordhoff weiter, diene nun einem ebenso wichtigen Bedürfnis: dem nach Kultur. (8)

Obwohl etliche Wolfsburger, noch ohne die Bilder gesehen zu haben, ihren Vorurteilen in Nazi-Diktion freien Lauf ließen ("Das ist doch dieser artfrembe undeutsche Expressionismus, [...] das ist doch entartete Kunst!" (9)), war das Interesse groß. Sicher war dies auch dem didaktischen Beiprogramm zu verdanken: Es gab Führungen und kunsthistorische Vorträge, und auch die Lokalpresse sah sich als Vermittlerin. "Wenn Kunst nicht mehr sein darf, als Fotografie mit anderen Mitteln, wenn sie uns nur zeigen darf, was jeder von uns ohnehin sieht, dann nehmen wir ihr jeden tieferen Sinn", schrieben die Wolfsburger Nachrichten (10). Sie verstanden es mit mehreren Beiträgen, Franz Marc, den in jungen Jahren ein "Soldatentod" ereilt habe, gleichermaßen als Vertreter des "typischen" Deutschen und als visionären Künstler zu vermitteln, dessen Werk zeige, "daß Kunst abstrakt und doch Wirklichkeit" sein könn (11).

Seinem paternalistischen Selbstverständnis gemäß, war es Nordhoff auch in den folgenden Jahren ein Anliegen, "seinen" Wolfsburgern Ausstellungen zu präsentieren, die das VW-Werk finanzierte. (12) Beratend und organisierend stand ihm dabei meist der Münchner Kunsthändler Franz Resch zur Seite. Obwohl die Veranstaltungen anfangs noch von Fachwelt und Presse belächelt wurden, reiste das Publikum bald auch von weither an. Unter heute kaum mehr vorstellbar provi
sorischen Bedingungen - zunächst in Schulgebäuden, seit 1958 in der gerade fertiggestellten Stadthalle - zeigten die insgesamt acht "Nordhoff-Ausstellungen" Kostbarkeiten, von denen viele heute kaum noch verliehen werden: So sahen die Besucher vier Jahre nach den Gemälden Franz Marcs die Ausstellung "Deutsche Malerei. Ausgewählte Meister seit Caspar David Friedrich". Fast zweihundert Werke hatten Resch und Nordhoff dafür nach Wolfsburg holen können. Und die große Lovis-Corinth-Retrospektive zum einhundertsten Geburtstag des Künstlers wurde - mit ausdrücklicher Unterstützung von Corinths Witwe - nicht in einer der großen deutschen Gemäldegalerien, sondern in der Wolfsburger Stadthalle gezeigt. Den Höhepunkt dieser Reihe aber, und zugleich auch ihren Abschluß - Nordhoff starb bald darauf - bildete die Ausstellung mit Arbeiten Vincent van Goghs im Jahr 1967. Das Unterfangen hatte nicht sehr aussichtsreich begonnen. Van Goghs Neffe, dem die meisten der Gemälde gehörten, hegte keine deutschfreundlichen Gefühle und hatte bislang jedes Gespräch mit deutschen Museumsleuten verweigert. Doch Resch gelang das scheinbar Unmögliche; Vincent Willem van Gogh lieh rund 120 Arbeiten seines Onkels nach Wolfsburg, und das Publikum strömte in die Stadt - mehr als 100 000 Besucher sahen diese Ausstellung.

Die Thematik der Ausstellungen hatte Nordhoff ausschließlich nach seinem persönlichen Kunstgeschmack gewählt. Vergleichbar war dieses Vorgehen bei Kunstwerken, die von der Stadt in Auftrag gegeben oder gekauft wurden: Die Entscheidungen folgten keiner offiziellen Doktrin, sondern den Vorlieben der Verantwortlichen. Nicht immer stieß das, was schließlich geschaffen wurde, auf allgemeine Zustimmung. Üblich war die öffentliche Diskussion, in der - oft in belehrendem Ton - sowohl Experten als auch der Mann von der Straße zu Wort kamen. Diese Art der Auseinandersetzung, bei der die Lokalpresse stets eine wichtige Rolle spielte, nahm ihren Anfang bei der Porsche-Büste.

Als die Stadt Wolfsburg in den Besitz dieses, ihres ersten Kunstwerks kam, war sie weit davon entfernt, einen entsprechenden Rahmen zu bieten. Hätte es, nach gängiger Meinung, nicht Wichtigeres zu tun gegeben als Kunst zu kaufen, für die in absehbarer Zeit nicht einmal ein passendes Fleckchen zu finden sein würde? Doch es entzündete sich (anders, als dies dann später passierte) kein Volkszorn an einer angeblichen Verschwendung öffentlicher Gelder, niemand meinte, daß Wolfsburg dieses Werkes nicht bedünfe. Im Gegenteil förderte der geplante Kauf ganz offensichtlich die Identifizierung der Wolfsburger mit ihrer Stadt. In der Diskussion ging es nicht in er
ster Linie um Kunst; es ging darum, eine Person zu ehren, der sich die Woltsburger in ganz besonderer Weise verbunden fühlten.

Schon am 30. Januar 1951, wenige Stunden nach dem Tod Ferdinand Porsches, hatte der Rat der Stadt beschlossen, die noch unansehnliche, kaum bebaute künftige Hauptgeschäftsstraße nach dem Konstrukteur des "Käfers" zu benennen. Im darauffolgenden Januar nahm der Verwaltungsausschuß eine Bürgeranfrage zum Anlaß, die Errichtung eines Porsche-Denkmals vorzuschlagen. Dieser grundsätzlichen Entscheidung sollten allerdings zunächst keine Taten folgen. Man wollte das Projekt für ungewisse Zeit aufschieben, bis die Stadt ihren fragmentarischen Charakter verloren habe und ein geeigneter Standort zu finden sei. Genau zwei Wochen später aber, am ersten Todestag Porsches, warteten die Wolfsburger Nachrichten mit einem Entwurf auf, der auch dem Verwaltungsrat schon vorgelegen hatte. Unter der Überschrift "Vor einem Jahr starb der Vater der Volkswagenstadt - wo soll sein Denkmal stehen?" zeigte ein Foto die fast vollendete Gipsstudie zu einer Porsche-Büste, die der Bad Nauheimer Bildbauer Knud Christian Knudsen bereits zu Lebzeiten Porsches begonnen und nach dessen Tod der Stadt Wolfsburg zum Kauf angeboten hatte. Die Zeitung begeisterte sich für dieses Werk, das "von keinem anderen Denkmalsentwurf übertroffen werden dürfte": "Diese Büste ist ein gültiges Porträt als Spiegel der Persöolichkeit, die Ferdinand Porsche war." Zwar war die Arbeit noch nicht vollendet, doch die Leser sollten sich schon einmal über den Standort Gedanken machen. So entspann sich, Monate, bevor der Kauf schließlich beschlossen wurde, in der örtlichen Presse ein Wettstreit darüber, wer wohl den besten Platz vorzuschlagen wisse.

Es läßt sich heute nicht erschließen, ob sich die Stadtverwaltung durch die starke Bürgerreaktion unter Zugzwang gesetzt fühlte oder ob sie sich ohnehin für den Kauf der Büste entschieden hätte. Am Wochenende des 1. und 2. März 1952 wurde die Gipsstudie ganz offiziell im Schaufenster des Kaufhauses Haerder ausgestellt, um "der Bevölkerung Gelegenheit zur Begutachtung und kritischen Betrachtungu zu geben. (13) Das Urteil fiel positiv aus, und am 25. Juli 1952 berichtete die Zeitung, daß der Kauf geplant sei. Kurze Zeit später schrieb der Künstler dem VW-Werksleiter, Rudolf Brörmann, daß die Nachricht von der Auftragserteilung für Furore gesorgt habe, in seinem Atelier sei "die Hölle los. [...] Wochenschauen und die amerikanische Agentur Asso-Press fragten bereits an, wann die Enthüllung ist, weil sie zu Aufnahmen nach Wolfsburg kommen wollen" (14). Doch an Enthüllung war nicht zu denken, denn in Wolfsburg gab es keinen Platz für das Ehrenmal. Das Interesse verebbte. Zwei Jahre später berichteten die Wolfsburger Nachrichten in ihrer Satire-Ecke, die Büste sei in einer Baracke am Bullenberg gesichtet worden, "auf schwankenden Dielen zwischen Schreibtisch und Aquarium" (15). Erst ein weiteres Jahr später, am 3. September 1955, fand die Büste einen provisorischen Platz am Großen Schillerteich.

Inzwischen hatten sich in der Verwaltung der Stadt Änderungen ergeben. Der neue Oberstadtdirektor Hesse stand der modernen Kunstrichtung nahe, und er blieb nicht der einzige Kommunalpolitiker mit dieser Meinung. Ein gleich nach der Einweihung des neuen Rathauses im März 1958 gestellter Antrag auf Umsetzung der Büste in die Bürgerhalle wurde vom Kulturausschuß abgelehnt. Zwar sei ein Porschekopf in der Bürgerhalle eine gute Idee, die vorhandene Büste jedoch ungeeignet, "da dieselbe kaum als besonders künstlerisch wertvoll anzusehen" (16) sei. So wurde der Berliner Bildhauer Erich F. Reuter kurzerhand damit beauftragt, eine zweite Büste zu schaffen. Von Reuter stammte bereits das
Glockenspiel des Rathauses, nun schuf er ein kleineres und weniger klassisch-naturalistisches Porträt Ferdinand Porsches. Auch diese Büste hat den ihr ursprünglich zugedachten Platz nicht erhalten; im öffentlichen Raum ist sie nicht aufgestellt. Knudsens Büste steht heute, durch Bäume und Gebüsch fast verborgen, an der Porschestraße, in unmittelbarer Nähe des Rathauses.

"Die Duldung der modernen Kunst", so stellte Walter Grasskamp für die westdeutsche Kunstentwicklung fest, sei "trotz fortbestehender Widerstände und ihre Förderung durch öffentliche Mittel [...] zum Lackmustest für Toleranz und Plura- lismus" (17) geworden. Auch Wolfsburg bildete hier keine Ausnahme, wie die Rezeptionsgeschichte der "Postplastik" zeigt. Ein Sturm der Entrüstung brach los, als im Juni 1956 das neue Postamt an der Porschestraße eingeweiht wurde und bei der Enthüllung zutage trat, womit die Bundespost eine Außenwand des Gebäudes hatte schmücken lassen: Die Wolfsburger waren mit einer abstrakten Plastik des Hannoveraner Bildhauers Helmut Gressieker konfrontiert. Wochenlang wurde der Streit über die Skulptur durch Leserbriefe in der Lokalpresse ausgetragen, die Stadtverwaltung mit Beschwerden überhäuft, bis sich Oberstadtdirektor Hesse schließlich zu einer - ebenfalls per Leserbrief in der Zeitung abgegebenen - Stellungnahme genötigt sah; einerseits um klarzustellen, daß für Klagen über Gebäude der Bundesbehörden die Stadtverwaltung nicht der richtige Adressat sei, andererseits aber, um gleichermaßen die Skulptur und die Freiheit der Kunst zu verteidigen. Beschwichtigend rief Hesse in Erinnerung, daß eine gescheiterte (Kunst-)Diktatur doch gerade überstanden sei und neue Kunstrichtungen es zu allen Zeiten schwer gehabt hätten, Anerkennung zu finden.

Es hat den Anschein, daß die Empörung weniger dem Kunstwerk selbst als vielmehr dessen Titel galt: Unter einer "Familie" stellten sich viele Betrachter etwas Anderes vor als eine Skulptur aus drei abstrakten Sandsteinfiguren ohne Ge- sichter und Arme. Nur wenige vermochten die geistige Abstraktion nachzuvollziehen, die diese Skulptur erforderte, nämlich in ihr nicht eine naturgetreue Familiendarstellung zu sehen, sondern (wie der Künstler selbst es anbot) einfach die Harmonie eines formalen Zusammenklangs, eine "Steinformen-Familie". So fürchtete eine Gruppe von Briefschreibern um die Gesundheit von "drei- oder vierjährigen Kindern", deren "Seelen zu vergiften" die Skulptur angetreten sei. Und sie gaben bei der Gelegenheit auch noch ein vernichtendes Urteil ab über die gerade zu Ende gegangene Ausstellung "Deutsche Malerei", in der "auch dem sog. neuen Kunststil (Expressionismus) etwas Raum eingeräumt" war, obwohl doch "alle wissen, daß dieser als Kunst bezeichnete Stil von der Masse abgelehnt wird!" (18) In einigen Briefen wird unter Expressionismus alles das subsumiert, was die Schreiber für "unschön" und wenig "volkstümlich" hielten. Da nutzte es wenig, wenn eine zwölfte Klasse zu bedenken gab, daß "in unsere moderne Stadt, die wohl eine der modernsten in Europa ist, eine unmoderne Plastik" kaum passe. (19) Wofür "man" sich eher hätte begeistern können, brachte eine andere Einsenderin auf den Punkt, indem sie an die Fähigkeiten eines nationalsozialistischen Vorzeige-Bildhauers erinnerte: "Bei einem nackten Kämpfer von Thorak kann ein Kind noch immer den Menschen erkennen, und darum geht es doch schließlich." Und überhaupt "sind wir nicht in Paris, sondern in Wolfsburg" (20).

Etwa zur gleichen Zeit wurde auch in Stalinstadt wieder über Kunst diskutiert. Offiziell wurde der sozialistische Realismus propagiert, doch was dies für die Gestaltung einzelner Kunstwerke zu bedeuten hätte, war weiterhin unklar. Das am 17. Januar 1957 beschlossene "Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht", das den Städten und Gemeinden wesentlich erweiterte Entscheidungsbefugnisse einräumte, war keine wesentliche Hilfe; die Verantwortlichen in den Kommunen waren vielfach mit ihren neuen Kompetenzen überfordert. In Stalinstadt wurde die neue Entwicklung zunächst durch scharfe Kritik an den alten Zuständen eingeleitet. Bei der zuvor zentral gelenkten Auftragspolitik sei es "oft sehr schematisch zu[gegangen], und es kam [...] zu manchem Mißgriff, dem nunmehr ein Riegel vorgeschoben worden ist" (21). Die ersten Versuche, frühere, nun als "Mißgriff" empfundene Entscheidungen zu beheben, muten aber eher hilflos an. Zwei monumentale Gemälde, die als Auftragsarbeiten für den Sitzungssaal des Hauses der Partei und Massenorganisationen entstanden waren, hingen dort nur für kurze Zeit und sind heute verschollen. (22)

Die damals noch am Beginn ihrer Karrieren stehenden Maler Jutta Damme und Gerhard Bondzin hatten 1956, im Rahmen ihrer Aspiranten-Ausbildung an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, den Auftrag erhalten, für den Sitzungssaal in Stalinstadt je ein Wandbild von 2x3 Metern zu schaffen. Die Finanzierung übernahm der staatlich verwaltete Kulturfonds. Für beide Künstler war es die erste baugebundene Arbeit und die erste in so großem Format. Die beiden konnten die Thematik frei wählen, wußten aber, was von ihnen erwartet wurde: Sie entschieden sich für zwei Szenen aus der Arbeiterbewegung, die eine mit Bezug auf die Vergangenheit, die andere zur Gegenwart. Jutta Damme übernahm das Thema "Mansfelder Bauern verteilen Lebensmittel an die streikenden Bergarbeiter", Gerhard Bonzin schuf mit der "Vorbereitung zum Hüttenfest" ein Gemälde mit aktuellem Stalinstädter Bezug. Der eigentlichen Arbeit an der Gemälden ging eine mehrwöchige Studienreise nach Stalinstadt voraus, wo erste Konzepte entwickelt und dem Rat der Stadt vorgestellt wurden. Anschließend arbeiteten die Künstler zu Hause in ihren Ateliers, anscheinend ohne daß sich der Auftraggeber um die Fortschritte weiter kümmerte.

Die Bilder waren gegen Ende 1957 vollendet und zeigten lebensgroß dargestellte Menschengruppen in feierlich-verhaltener Aktion. Im März 1958 bat der Rat der Stadt Stalinstadt die Künstler, sich um die Aufhängung der Gemälde zu kümmern, was diese auch taten, denn alteingesessene Eisenhüttenstädter können sich erinnern, die Bilder im Sitzungssaal, eingelassen in eine Holztäfelung, gesehen zu haben. Indes: Gleich darauf begannen die Klagen. So fühlte sich ein führender Lokalpolitiker durch einen ausgerechnet in der Mitte des Streikbildes dargestellten Ochsen beleidigt (23), und Bondzin berichtet, daß die große weiße Friedensfahne im Mittelpunkt seines Bildes als "Fahne der Kapitulation" mißdeutet worden sei (24); beides hielt man in einem die Arbeiterklasse feiernden Gemälde für geradezu beleidigend deplaziert. Sowohl diese inhaltlichen als auch formale Gründe mögen den Ausschlag dafür gegeben haben, daß die Gemälde bald schon als unpassend angesehen wurden; auch war der "große Sitzungssaal schlicht zu klein für zwei sechs Quadratmeter große Gemälde mit lebensgroßen Menschendarstellungen. (25)

Spätestens im September 1958 wurde erwogen, die Gemälde wieder abzuhängen. Die Angelegenheit hatte längst auch außerhalb der Stadtgrenzen für Unruhe gesorgt: Mit Durchschlag an das Ministerium für Kultur schrieb im Dezember 1959 ein hoher Funktionär des Kulturfonds, der Rat der Stadt Stalinstadt möge endlich dafür sorgen, daß "eine Arbeit, [...] die offenkundig in dem dortigen Raum nicht die beabsichtigte Aufgabe erfüllt, einer geeigneten sinnvollen Verwendung zugeführt wird" (26). Ob sich eine solche je fand, ist nicht überliefert. Die letzte bislang gefundene Nachricht über die Bilder ist ein Hilfeer
suchen Stalinstadts an die nächsthöhere Instanz, den Rat des Bezirks, vom 3. März 1961: "Beim Rat der Stadt Stalinstadt stehen 2 ungenutzte Ölgemälde, ca. 2 x 3 m [. . .]. Der Wert dieser Bilder beträgt 15 TDM. Wir möchten Sie nun höflichst bitten, da wir im Stadtkreis Stalinstadt und Fürstenberg / O. keine Möglichkeit haben, diese Bilder unterzuhringen, sich im Bezirksmaßstab für evtl. Unterbringung zu interessieren. [...] Für Ihre Bemühungen möchten wir Ihnen [...] unseren verbindlichsten Dank aussprechen." (27)

Der Rat der Stadt Stalinstadt brauchte nach Inkrafttreten des Gesetzes vom 17. Januar 1957 rund eineinhalb Jahre, bevor er zu Fragen der Kunst im öffentlichen Raum erste Beschlüsse faßte. Einer davon betraf das Friedrich-Wolf-Theater.

Im Juli 1958 bewilligte der Rat der Stadt mehr als 150 000 DM für die "künstlerische Ausschmückung" öffentlicher Gebäude. Neben Posten von zum Teil vielen tausend Mark nimmt sich der Preis von 600 DM bescheiden aus, die in den Kauf von vier Blumenschalen für das Friedrich-Wolf-Theater investiert werden sollten. (28) Über den Verwendungszweck besagen die Akten nichts, aber die Vermutung liegt nahe, daß man mehr als drei Jahre nach der Eröffnung des Theaters endlich die vier ungenutzt vor dem Gebäude stehenden Steinsockel füllen wollte.

Das Theater, ursprünglich als Kino geplant und als "KIeines Kulturhaus Friedrich Wolf" am 6. März 1955 eingeweiht (29), war das erste Gebäude an der zukünftigen Magistrale Stalinstadts. Seine neoklassizistische Architektur war ein gezielter Rückgriff auf die bürgerlichen Bautraditionen des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts, ein Versuch, "die nationale realistische Architektur gegen die funktionalistischen und konstruktivistischen Einflüsse, die aus Westdeutschland [...] einwirken, zum Siege zu führen" (30). Das Gebäude erhielt ein monumentales Eingangsportal mit sechs kannelierten, kapitellgeschmückten Pfeilern und einem Dreiecksgiebel, der mit plastischem Schmuck gefüllt werden sollte. Insgesamt war man mit der Übernahme der klassizistischen Formensprache aber doch etwas zu weit gegangen, wie der Architekt einräumte, der selbstkritisch die große Ähnlichkeit des Theaters mit der rund einhundert Jahre älteren Berliner Oper einräumte. (31) So kam, um dem Theater den allzu großen Traditionsbezug zu nehmen und ihm den zeitgemäßen sozialistischen Ausdruck zu geben, den vier Steinskulpturen, mit denen die Freitreppe vor dem Theater geschmückt werden sollte, eine bedeutsame Rolle zu: Überlebensgroß und auf rund zwei Meter hohen Sockeln thronend, hätten hier die Personifikationen des neuen sozialistischen Menschen stehen sollen. Den Auftrag für diese Skulpturen hatte der junge Berliner Bildhauer Johann Robert Riehl übernommen, der für das Vorhaben seine "ganze Kraft zur Verfügung zu stellen" (32) gelobte.

Ganz neu war die Aufgabe nicht - Werke wie Walter Arnolds Figur einer Bauarbeiterin ("Jugend - Baumeister der DDR", 1951) oder Fritz Cremers Paar junger "Aufbauhelfer" (1953 / 54) lieferten gültige Beispiele dafür, wie die erste sozialistische Generation zu gestalten sei. Auch Riehls Entwürfe stießen zunächst auf Zustimmung. (33) Doch mitten in der Arbeit, als alle vier Skulpturen längst begonnen, aber noch keine vollendet war, wurde Riehl die Aufgabe entzogen - mehr noch: Das Architektenkollektiv entschied sich, auch auf die Giebelverzierung des Theaters zu verzichten. Offizieller Grund war der noch unzulänglich entwickelte "Realismus in unserer gegenwärtigen Skulptur" im allgemeinen, die angebliche Unfähigkeit Riehls im besonderen: "Leider blieb der Bildhauer bei Lösung dieser Aufgabe, die unverhältnismäßig leichter ist als der figürliche Schmuck eine Giebelfeldes, hinter allen Erwartungen zurück." (34) Riehl verließ sein Atelier in Fürstenberg, ohne sein Arbeitsgerät und die Plastiken mitzunehmen, niemand kümmerte sich um die Hinterlassenschaft. (35)

Erst als Jahre später, im September 1959, das Atelier geräumt werden sollte, kam wieder Bewegung in die Angelegenheit. Was sollte man tun mit vier Skulpturen, die immerhin so weit vollendet waren, daß man sie nicht einfach vernichten konnte? Der Rat der Stadt überlegte, "welche Plastiken eventuell noch Verwendung finden können" (36). Ohne große Begeisterung kam man schließlich überein, "dass für eine Weiterverwendung in erster Linie der Maurer infrage kommt" (37)
 - allerdings nicht, ohne ihn vorher noch einmal überarbeitet zu haben. Etwa 1960 fand der "Maurer" schließlich seinen endgültigen Standort im ersten Wohnkomplex und wird seitdem als "erste Skulptur in Eisenhüttenstadt" und Beispiel der vielziterten "Synthese von Architektur und Kunst" (38) bewundert. Seitdem ist auch zu erahnen, was die Auftraggeber einst an der Figur gestört haben mag: Der Elan des jungen Mannes äußert sich eher als innerer Wert denn als zur Schau getragener Aktivismus, zumal seine lässige Körperhaltung nicht auf anstrengende Arbeit schließen läßt. Seinem lieblichen Gesicht fehlt jener pathetische Ausdruck, der für viele damalige Darstellungen einer anpackenden sozialistischen Persönlichkeit typisch war.

In seiner Sitzung vom Juli 1958 beschloß der Rat der Stadt außerdem, das begonnene Projekt eines Wandmosaiks für das Haus der Partei und Massenorganisationen zu Ende zu finanzieren. Dieses Gebäude übernahm die Funktion eines Rathauses, es war ein Haus der Repäsentation für die "Arbeiter- und Bauernmacht". Seine künstlerische Ausstattung diente denselben Zielen, die zu Zeiten Nerlingers als Aufgabe der Kunst formuliert worden waren: der Erziehung zum sozialistischen Menschen. Der klassizistische, streng symmetrisch angelegte Bau am Zentralen Platz trägt Züge von Palastarchitektur. Man betritt ihn durch einen Säulenportikus und gelangt in ein Foyer, dem ein repräsentatives Treppenhaus angeschlossen ist. Die breite Treppe endet auf halber Höhe in einem Podest, von dem aus zwei schmale, seitlich anschließende Treppenläufe in entgegengesetzter Richtung zum ersten Stockwerk führen. Unweigerlich fällt so der Blick des Eintretenden auf das monumentale Mosaik, das die gesamte Wand hinter dem Treppenabsatz einnimmt, unterbrochen nur durch die drei Flügeltüren zum Festsaal. Mit einer Größe von rund 6 x12 Metern war es bei seiner Fertigstellung im Jahr 1958 das größte Wandmosaik der DDR. (39) Der Entwurf stammt vom Berliner Künstler Walter Womacka, die Ausführung besorgte die Werkstatt des Mosaizisten Heinrich Jungebloedt. Womacka hatte bereits die künstlerische Ausstattung zweier Kindergärten der Stadt betreut und ihre Treppenhäuser mit großformatigen Glasfenstern ausgestattet; von ihm stammt auch das noch heute als das typisch Eisenhüttenstädter Motiv geltende Wandbild am ehemaligen Kaufhaus Magnet in der Magistrale (1965 vollendet). Für Womacka, nachmalig einer der bekanntesten Künstler der DDR, war Stalinstadt eine der ersten Stationen seiner Laufbahn.

Für das Mosaik im Haus der Partei und Massenorganisationen hatte Womacka in collagear
tiger Zusammenstellung ein Sinnbild sozialistischen Lebens geschaffen, ganz wie es der offiziellen Linie entsprach. Es repräsentierte weniger die Stadt Stalinstadt als vielmehr den Staat DDR: Im Zentrum des Bildes prangt die rote Fahne, gehalten von einem jungen Mann, der einen Arm einladend dem Betrachter entgegenstreckt. Unter der Fahne haben sich junge Leute mit Kindern versammelt, die gleichsam beschützt werden von der strahlenden Sonne und einer Friedenstaube im Hintergrund. Zu beiden Seiten dieses Hauptmotivs künden Arbeitsszenen vom Aufbauwillen der Bevölkerung: Stahlwerker und Bauarbeiter, ein Schmied und Bauern repräsentieren die "herrschende Klasse", ein junger Mann mit Block und Zeichenstift leistet durch planerische Tätigkeit seinen Beitrag zur Entwicklung. Rechts oben stehen Menschen verschiedener Hautfarben für internationale Solidarität, und zwischen all diese Szenen mischen sich immer wieder Motive aus der Freizeit; ballspielende Kinder, eine lesende Frau, junge Menschen im Gespräch miteinander.

Das Mosaik wurde schon vor seiner Vollendung für so bedeutend gehalten, daß die DEFA die Entstehung durch den Film "Ein Bild aus 100 000 Steinen" dokumentieren ließ. Es gehört zu den Kunstwerken in Eisenhüttenstadt, die bis zum Ende der DDR - sowohl in künstlerischer als auch in politischer Hinsicht - ihre Gültigkeit behielten. Den unerschütterlichen Optimismus, den das vollendete Wandbild ausstrahlt, feierte der Stalinstädter "Kulturspiegel" dann auch als einen "Hymnus des sozialistischen Aufbaus und der Lebensfreude. Das Werk vermittelt dem Eintretenden die Zweckbestimmung des Gebäudes, ein Haus des Volkes, Zentrum tätiger sozialistischer Gemeinschaft zu sein" (40).

Das Wolfsburger Rathaus präsentiert sich nicht so vordergründig politisch, aber ebenso monumental. Im demonstrativen Verzicht auf Zitate althergebrachter Herrschaftsarchitektur äußert sich die im westlichen Europa der fünfziger Jahre übliche Auffassung einer demokratischen Bauweise: transparente Glasfassaden, asymmetrische
Anordnung der einzelnen Baukörper, ein eher unauffällig angeordneter Eingangsbereich ohne Portalcharakter. An althergebrachte Rathausarchitektur knüpft der Bau durch eine große Uhr und ein - hier sichtbar angebrachtes - Glockenspiel an, das durch die Betonung der Vertikale und ein darüber angebrachtes Schutzdach das Motiv des Rathausturms variiert.

Die Funktion, die in Stalinstadt das Wand- mosaik erfüllte, übernehmen in Wolfsburg die großen, in Holzintarsien-Technik gearbeiteten Schmucktüren zum Ratssitzungssaal. Hier stellt sich die aufstrebende junge Stadt Wolfsburg dar, nicht der Staat Bundesrepublik Deutschland. Im Vergleich mit dem Mosaik entfalten die Türen, eine Arbeit von Maria Pirwitz Brock, keinen strah- lenden Optimismus, sondern eine eher unter- kühlte, abstrahierende Sachlichkeit. Anders als in Stalinstadt wird hier kein Gesellschaftsideal pro pagiert. RegelmäBig über die Fläche verteilt fin- den sich die baulichen Zeugen des Aufbaus, den die Stadt seit Kriegsende vollbracht hatte: Kir- chen, Stadtballe, Kulturzentrum, das (in Wirklich- keit noch nicht wiederhergestellte) Schloß, der Rathausneubau und ganz oben und über beide Türflügel reichend - der lange Riegel des VW Werks. Aufgelockert wird diese Gebäude-Aufzäh- lung durch Gruppen herumstehender Figuren, die entindiviualisiert wirken wie Schattenrisse.

Mit einem Höchstmaß an Schlichtheit wird die Stadtgeschichte auf den Bronzetüren an der Außenfassade des Gebäudes dargeboten. Die sechs Türflügel tragen auf einer Fläche von 2 x 6,60 m keinerlei dekorativen Schmuck, sondern einen in erhabenen Versalien gestalteten Text über die Aufbauleistungen der Nachkriegszeit. Die nationalsozialistische Gründungsgeschichte findet dabei nur am Rande Erwähnung.

Freilich sind die geschilderten Fälle Einzelbeispiele. Doch die Schwierigkeiten, die der Wunsch nach Kunst in beiden Städten mit sich brachte, stehen symptomatisch für die Situation beiderseits der Grenze. Der Versuch eines kulturellen Neubeginns vollzog sich unter verschiedenen, für das jeweilige Gesellschaftssystem typischen Voraussetzungen: in Wolfsburg auf der Grundlage weitgehender kommunaler Selbstbestimmung und als Folge privater Initiativen, in Stalinstadt zentral aus Berlin gelenkt, mit relativ geringen kommunalen Einflußmöglichkeiten. Während im Westen die "Freiheit der Kunst" postuliert wurde und ihren offiziellen Ausdruck darin fand, daß die Kulturhoheit nicht dem Bund, sondern den Ländern übertragen wurde, bestand im Osten die SED auch im Bereich der Kunst auf ihrem absoluten Führungsanspruch - der sich häufig aber lediglich in der Kritik dessen, was man nicht wollte, äußerte, statt konstruktive Vorschläge hervorzubringen.

Die fünfziger Jahre waren im Bereich der Kunst in beiden Städten eine Zeit tastender Versuche und großer Erwartungen, geprägt von Erfolgen und Rückschlägen. Während in Stalinstadt mit einiger Verbissenheit um eine gültige Form des sozialistischen Realismus gekämpft wurde, fanden "Fehlerdiskussionen" bei erwiesenen Fehlschlägen erst im nachhinein und nur hinter verschlossenen Türen statt. Im Laufe der sechziger Jahre begannen sich in der DDR die Hoffnungen, die man an die Erziehungsfunktion der Kunst im öffentlichen Raum geknüpft hatte, zu relativieren, und es wurde zunehmend auch rein dekorative Kunst für würdig befunden, das Stadtbild zu bereichern.

In Wolfsburg war man, was die Entwicklung zeitgenössischer Kunst betraf, durchaus zu einer gewissen Selbstironie fähig: Als die Stadt 1959 zum ersten Mal ihren Wettbewerb "junge stadt sieht junge kunst" ausgeschrieben, drei junge Künstler mit Preisen für die Bereiche Plastik, Malerei und Graphik bedacht und mit über einhundert der eingesandten Arbeiten eine aufwendige Ausstellung eröffnet hatte, war im Katalog-Vorwort zu lesen, daß der Verfasser seine rhetorische Frage, ob die ausgestellten Kunstwerke auch für die Zukunft ihre Gültigkeit haben würden, mit "lch glaube es nicht" beantwortete. Doch man wolle den Versuch wagen, der zeitgenössischen Kunst durch die Ausschreibung des vielbeachteten Wettbewerbs eine Öffentlichkeit zu geben. Dabei bewiesen die Juroren mit ihrer Beurteilung durchaus Gespür für die Zeitströmungen: Nicht wenige später erfolgreiche westdeutsche Künstler hatten ihre Karriere mit einer Wettbewerbsteil nahme in Wolfsburg begonnen.

 

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  Anmerkungen
1 Die Kunst im Kampf fÜr Deutschlands Zukunft, Rede Grotewohls zur Berufung der Staatlichen Kommission fur Kunstangelegenheiten am 31. August 1951, in: Schubke, Elimar (Hg.): Dokumente zur Kunst, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Bd.1, Stuttgart 1972, S. 208.
2 Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Nerlinger Archiv. Zum Projekt existieren dort einige schriftliche Quellen aus den Jahren 1951 / 52; nicht naher bezeichnete Zitate stammen daher.
3 Die Ausstellung stand unter dem Motto: "Mit Zeichenstift und Pinsel im Eisenhüttenkombinat Ost". Nerlinger zeigte die Studien im Oktober / November 1952 auch in den Ausstellungsräumen "Bild der Zeit" in Berlin.
4 Leserbrief in: Unser Friedenswerk, 7.1.1953.
5 Dies war keinesfalls nur ein Wolfsburger Phänomen; vgl. Grasskamp, Walter: Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989.
6 Bei den Kommunalwahlen von 1948 hatte die Deutsche Rechtspartei in Wolfsburg einen hohen Wahlsieg errungen. Die Wah wurde fur ungültig erklärt, die anschließende Neuwahl hatte ein kaum anderes Ergebnis.
7 Junge-Gent, Henrike: Weltkunst an der Zonengrenze. Die acht Kunstausstellungen des Volkswagenwerks in Wolfsburg. Mit einem Beitrag von Ingo Sielaff, Gifhorn 1994, S. 61.
8 Ansprache aus Anlaß der Eröffnung der Franz-Marc-Ausstellung am 11. Mai 1952, in: Nordhoff, Heinrich: Reden und Aufsätze. Zeugnisse einer Ära, Düsseldorf / Wien u.a.1992, S.119.
9 Wolfsburger Nachrichten,17. / 18. 5.1952.
10 Ebd.
11 Ebd., 20. 5.1952.
12 Ausführlich zu allen Ausstellungen vgl. Junge-Gent 1994 (wie Anm. 7).
13 Wolfsburger Nachrichten, 22. 2.1952.
14 Auszüge aus dem Brief, veröffentlicht in den Wolfsburger Nachrichten, 6. / 7 9.1952.
15 Ebd.,17.9.1954.

 

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Protokoll der Sitzung des Wolfsburger Schul- und Kulturausschusses vom 24.3.1958, in: Stadtarchiv Wolfsburg.
17 Grasskamp 1989 (wie Anm. 5), S.139.
18 Woltsburger Nachrichten, 12. 6.1956.
19 Ebd.,19. 6.1956.
20 Ebd.
21 Neuer Tag, 4. 6.1958.
22 Eine Schwarzweiß-Abbildung beider Gemälde in: Kulturspiegel, Oktober 1958, S.10f.
23 Brief von Jutta Damme an die Verfasserin, 27 3.1996.
24 Brief von Gerhard Bondzin an die Verfasserin, 30. 3.1996.
25 Vgl. ebd.
26 Schreiben von Walter Maschke, Leiter des Sekretariats des Kulturfonds, an das Stadtbauamt Stalinstadt, 9. Dezember 1959, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Abt. Bornim (BLHA), Rep. 601, 6989.
27 Ebd.
28 Beschluß der 33. Sitzung des Rates der Stadt Stalinstadt am 4.7.1958, in: Stadtarchiv Eisenhüttenstadt, o. Sign.
29 Kl. [verm. Hans Klein, Leiter des Architektenkollektivs zum Bau des Theaters]: Das Kino in Stalinstadt, in: Deutsche Architektur 7 (1955), S. 307.
30 Ebd.
31 Ebd.
32 Schreiben Riehls an den Oberbürgermeister von Stalinstadt, Wettengel, vom 12. Juli 1954, Reproduktion ohne Quellenangabe in: Eger, Ute: Entstehungsbedingungen, städtebauliche Gestaltungskonzeptionen und architektonische Entwicklung der ersten neuen Stadt in der DDR: Eisenhüttenstadt (1950-1987), Digl. Arbeit HU Berlin, Berlin 1987, Quellenanhang S.46.
33 Die Standige Kommission fur Kultur "war mit meinen Ausführungen, die ich in Gegenwart des Koll. Kruger machte, einverstanden", ebd.
34 Kl.1955 (wie Anm. 29), S. 309.
35 Vermutlich stand der übersturzte Abschied aus Fürstenberg in Zusammenhang mit einem Unfall, den Riehl auf dem Weg nach Berlin erlitten hatte. Er war danach fur lange Zeit nicht in der Lage zu arbeiten, und mußte fur die Zukunft auf die Arbeit an monumentalen Skulpturen verzichten - er verlegte sich auf Kleinformatiges, vor allem Porträts. (Gesprach der Verfasserin mit Werner Stotzer, 26.11.1996.)
36 Brief vom Rat der Stadt Stalinstadt, Abt. Kultur, an den Rat des Bezirks vom 25. September 1959, in: BLHA, Rep. 601, 6989, unpag.
37 Protokoll der Sitzung der Auftragskommission vom 16. / 17 De zember 1959, in: ebd., Rep. 601, 6982, unpag.
38 Vgl. Synthese Architektur und bildende Kunst Eisenhüttenstadt, Eisenhüttenstadt 1976.
39 Bildende Kunst, 11 (1958), S. 783.
40 "Hymne des sozialistischen Aufbaus", in: Kulturspiegel, September 1958, S.14f.
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© Katja Widmann