Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Wurzeln schlägt die neugegründete Gruppe, von der sich Therese Herwig schon bald wieder trennt, aber erst am Prenzlauer Berg. Der Bezug des Ladens in der Knaackstraße wird möglich, weil Puppenspieler Hans Krüger und Bühnenbildner Christian Werdin nach ihrem regulären Studienabschluß Ansprüche auf einen Arbeitsraum bei der Wohnungsverwaltung geltend machen können. Mit Glück und Überredungskünsten beziehen sie zwei benachbarte Ateliers, die früher teilweise als ausgelagertes Chemikalienlager eines VEBs genutzt wurden. Ein ungenehmigter Mauerdurchbruch schafft Bewegungsfreiheit. Tüftler Christian Werdin zieht sich selbstlos in den Keller zurück und überläßt den Mimen das Terrain, arbeitet aber lange Jahre als Ausstatter, Puppenbastler und Bühnenbildner mit, bis er sich nach der Wende von Zinnober trennt. Die 150 qm in bester Prenzlauer Berg-Lage sind von Anfang an kein luftleerer Gedankenraum, in dem, wie Heiner Müller ironisch meint, manche Adepten des später so hochgepuschten Künstlerbezirks kraft- und zwecklos vor sich hinwerkeln; das theater Zinnober betrifft diese Anspielung nicht. Die Gruppe experimentiert keineswegs mit einer aus dem kulturellen Zusammenhang gerissenen westlichen Formensprache, sondern findet den ganz eigenen Ausdruck gerade durch die fast besessen betriebene Lokal-Topographie. Das Ambiente ihres kargen Kunstasyls entspricht dabei den Anforderungen des selbstverordneten Lebensstils. Es besteht aus einem langen Tischen, einer kleinen Küche, wo man grusinischen Tee und diverse Dosennahrung kocht, und einer Theaterbühne, deren begrenzte Maße die Eignung als kollektive Probierstätte allerdings stark einschränkt. Dennoch finden hier sowohl genehmigte als auch illegale Aufführungen vor bis zu 60 Zuschauern statt. In den Räumlichkeiten des theaters Zinnober treffen sich die bildenden Künstler des Viertels zum monatlichen Aktmalen. Hier wird aber auch die im Untergrund kursierende Zeitschrift Verwendung gebunden, die unter anderem Ulrich Zieger, Theaterautor und enger Freund der Gruppe, ediert.

Wenig Raum, mag man denken, für die acht jungen, tatendurstigen Schau- und Puppenspieler Gabriele Hänel, Iduna Hegen, Werner Hennrich, Hans Krüger, Steffen Reck, Uta Schulz, Günther Lindner, Hartmut Mechtel sowie den Dramaturgen Dieter Kraft und den Bühnenbildner Christian Werdin. Viel Platz, wirft der Zeitkundige ein, für das Experiment einer freien Theaterarbeit, die es Anfang der 80er Jahre in dieser radikalen Form in der DDR bis dahin nicht gibt. Zwar machen Regisseure wie Frank Castorf, Tatjana Rese, später auch Leander Haußmann, in Kreisstädten wie Parchim, Schwedt oder Anklam mit weitgehend autonomen Produktionen Furore. Aber direkt in Berlin, Hauptstadt der DDR, wiegt die Gründung doppelt schwer, zumindest in den Augen des kulturpolitischen Wachschutzes – vom doppelzüngigen Theaterverband bis zur argusäugigen Kulturabteilung im Zentralkomitee, vertreten durch die stalinistisch geprägte Funktionärin Ursula Ragwitz. Als sich die Zinnober-Leute dazu entschließen, aus den Zwängen des bröckelnden Stadttheatersystems dauerhaft auszusteigen und eben nicht den ausgetretenen Provinztheater-Weg zu gehen, kommt die einem provozierenden Akt mit Symbolcharakter gleich.

Zum Probieren läßt die Gruppe die Laden-Jalousie herunter – ein knarrendes Ritual, das die Spötter und Dienstflaneure im wahrsten Sinne draußen vor der Türe läßt. Die Gruppe igelt sich ein und bleibt auf diese Weise immun für den Stasi-Virus, der auch später keinen der Spieler befällt. Man nimmt sich viel Zeit für bizarre Selbstdiagnosen, für das Erzählen der Alpträume und Biographien, die auf beängstigende Weise miteinander zu korrespondieren scheinen. Während der eine lernt, seine angstfreie Sprache vor Publikum zu finden, protokollieren die anderen jede noch so kleine Erinnerungspirouette: Pionierdrill, Suizidversuche und das nächtliche Traumvokabular. Daß diese psychologische Pedanterie auch gruppenintern zu emotionalen Konflikten führt, denen nicht jeder gewachsen ist, erscheint nur folgerichtig. Unabhängig davon entsteht aber auch eine gewaltige Materialsammlung, die später in den besten Produktionen des theater Zinnober eine Autopsie des zerrütteten Gemeinwesens ermöglicht. “Ich kam endlich an meine eigenen Grenzen”(6), sagt Gabriele Hänel, die sich in der Gruppe extremer und entschiedener Charaktere als Gleiche unter Gleichen, als Mensch und Künstlerin ernst genommen fühlt. “Wir haben angefangen, uns gegenseitig Träume zu erzählen”, berichtet Dieter Kraft. “Das haben wir ziemlich forciert betrieben. Wir machten fast so etwas wie einen täglichen ‘Traumbericht’, nicht angesagt, sondern spontan, so daß wir uns gegenseitig in einer ganz anderen Weise kennenlernten. Dieses ‘Träume erzählen’, das hat sich fortgesetzt und hat sich intensiviert. Und dann haben wir nach Möglichkeiten gesucht, das später ganz anders in Bewegung zu setzen, so daß es nicht mehr beim Erzählen blieb, sondern daß es bis hin zum Spiel ging.”(7)

Feste Hierarchien findet man im theater Zinnober nicht. Die Institution Theater mit ihren immer noch eher feudalen Strukturen und internen Grabenkämpfen bleibt der Gruppe fremd. “Während er (der Einzelne, d.A.) im ‘weiten Raum’ der modernen Gesellschaft mit seiner Biografie langsam zunehmend leerläuft, bildet die Gruppe die Resonaz und den ‘konkreten Raum’ für das kleine Stück individuellen Lebens. Voraussetzung und Ergebnis solchen Dialogs ist die in der Gruppe praktizierte Demokratie in den Entscheidungsprozessen”(8), heißt es denn auch in einem Konzeptpapier von 1984.

“Ein angstfreier Raum”, beschreibt Gabriele Hänel die Atmosphäre der Gemeinschaft, “war immer die erste Voraussetzung für unsere Text- und Spielerkundungen.”(9) Es dauert lange, bis die Gruppe den vollzogenen Ausstieg aus dem offiziellen Theaterbetrieb auch künstlerisch zu nutzen versteht. Zwar spielt man von Beginn an herausragendes Puppentheater – zu zweit, zu dritt, in wechselnden Konstellationen. So gerät das Kasperstück “Die Jäger des verlorenen Verstandes”, 1982 nach einem Text von Hartmut Mechtel inszeniert, zum preisgekrönten und bis zur Wende einige hundertmal gespielten Publikumserfolg und wird. Gekonnte Nischen-Kunst, die Spaß und den nötigen Unterhalt abwirft.

Aus der gemeinsamen Kasse, in die die Erlöse der regen Gastspieltätigkeit fließen, werden alle Ausgaben bestritten: von den Alimenten bis zu den Sozialvericherungsbeiträgen. Mit dem spatanischen Limit von 300 Mark muß jeder der Spieler im Monat auskommen.

Doch selbst die exzellenten Puppenspiele sind dem angestauten Artikulationsdruck bald schon kein geeignetes Ventil mehr. Daher beginnt 1983 die fast zweijährige Probenarbeit an “Traumhaft”(10), der ersten gemeinsamen Schauspielproduktion. “Wir wußten”, erinnert sich Günther Lindner, “daß das Stück mit unseren Biographien zusammenhängen mußte. Und da zu dieser Zeit der 35. Jahrestag der DDR anstand und wir alle etwa genau so alt waren, war da eine spannende Parallelität zu finden. Wobei wir überhaupt keine politisch-agitatorischen Absichten hineinlegten. Wir wußten nur, daß in unseren persönlichen Aussagen genug politische Aussage stattfinden wird.”(11)


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