Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Bunte Kolonie am Blauen Wunder

Launiges Künstleridyll mit Elbblick: Das Boheme-Biotop Loschwitz zwischen “Körnergarten” und “Leonhardi-Museum”

Prinzessin Maria-Christina von Sachsen und Prinz Rüdiger von Sachsen werden sich an den Kohlenkeller noch gut erinnern, nicht nur wegen des rustikalen Inventars und der harten Kirchenbänke, die im ausgebauten Gemäuer von Matthias Griebel stehen. Im alten Loschwitzer Fährhaus empfängt der im benachbarten Lokal Körnergarten als “Haus- und Hofhund” arbeitende Bohemien so manchen blaublütigen Gast.

Die Audienz hat Gründe: Neben seiner unregelmäßigen Hilfsarbeit ist Matthias Griebel wohl der beste Kenner sächsischer Fürstengeschichte in der Stadt. Seine Stadtführungen und historischen Exkurse, dargebracht in einer sinnlich-bodenständigen Rhetorik, sind das Beste, was man in der alten Residenzstadt zum Thema erwarten kann. In den 80er Jahren zieht es ehemalige Dresdner aus dem Geschlecht der Wettiner vermehrt an die Stätten besserer Tage. Der Abstecher zu Griebel scheint dabei unabläßlich, denn mit der Hilfe sozialistischer Erbeverwalter können die aristokratischen Kurzbesucher nicht rechnen. So bleibt der Weg ins altersschwache Fährhaus, an dessen Elbseite noch die Marken der Jahrhundert-Hochwasser abzulesen sind. Griebel ist in Dresden nicht nur stadtbekannt, er öffnet mit seinen Kontakten auch viele Türen und Tore, die für aus dem Westen kommende Besucher sonst verschlossen bleiben. “Sie haben sich ihre alten Besitzungen angeschaut, wo sie ihre Kindheit verbracht haben”, berichtet Griebel, "es war ein ‘A’ und ‘O’, eine emotional geladene Stimmung. Abends haben wir dann schön Prasdnik gemacht. Da saßen die Wettiner bei mir alle im Keller, und die Prinzessinen waren oben und haben die Schnitten geschmiert.”(1)

Die Anekdote ist verbürgt, und aus dem einstigen Hilfsarbeiter ist nach der Wende der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums geworden, sozusagen der bestallte Hüter unverzerrter Stadthistorie. Eine Form später Gerechtigkeit, die aus dem Loschwitzer Original eine nun auch offiziell anerkannte Persönlichkeit macht. Der Weg dahin ist für den 1937 in Dresden geborenen Griebel jedoch beschwerlich. Als Sohn des bekannten Malers Otto Griebel kommt er frühzeitig in Kontakt mit künstlerischen Kreisen. Der Vater, ein glänzender Erzähler, führt ein offenes Haus und ist Anreger einer sich in Loschwitz von Atelier zu Atelier locker formierenden Boheme. Vor allem im Bauernstübel, einem Lokal im später abgerissenen Elbehotel, sammeln sich Maler, Originale und Lebenskünstler aller Couleur – ein Fluidum, das auf Matthias Griebel einen starken Eindruck macht. Überhaupt wirkt das launige 1921 nach Dresden eingemeindete Loschwitz wie ein kultureller Magnet: Sein erhalten gebliebener dörflicher Charakter, die anziehende Elbhang-Landschaft, die überkommenen Barock-Traditionen sowie das intakte und staatsferne Binnenklima machen Loschwitz zu einem begehrten Platz. “Der Dresdner Osten”, sagt Puppenspieler Gottfried Reinhardt, “ist von Loschwitz bis Pillnitz ein einziger Festplatz, ein quadratkilometergroßes Künstleridyll.”(2)

Und dies nicht erst in realsozialistischen Zeiten: Loschwitz war schon früher ein Künstlerdomizil. Hier lebten Josef Hegenbarth, Hans Theo Richter und Oskar Zwintscher. Im Künstlerhaus an der Pillnitzer Landstraße 59 fanden seit Ende des letzten Jahrhunderts Generationen von Malern, Grafikern und Bildhauern eine bezahlbare Unterkunft in den 17 Ateliers und 13 Wohnungen. Ein 80-Quadratmeter-Atelier kostete in DDR-Tagen hier gerade mal 50 Mark. Maler, Grafiker und Bildhauer wie Hans Jüchser und Herrmann Glöckner, der in Loschwitz hochverehrte ‘Patriarch der Moderne’, oder auch Max Uhlig, Peter Makolies und Günther Hornig arbeiteten und arbeiten noch immer hier. Auch heute beweist der Besitzer mäzenatische Tugenden bei einem mehr als kulanten Quadratmeterpreis. Eine bunte “Kolonie am Blauen Wunder”, die fernab vom Zentrum der sächsischen Bezirksstadt ein Eigenleben entfalten kann. “Loschwitz war einfach ein prädestinierter Platz für diese Lebensformen”, erörtert der Historiker Griebel. “Es war ein Ort, an dem sich Originale sammeln. Original heißt ja erst einmal nichts weiter als ursprünglich und unverfälscht. In der Geschichte hat es solche Kulminationsinseln immer gegeben. Vom Fürstentum Anhalt-Dessau in der älteren Geschichte bis zu den Künstler-Aktivitäten um München. So war es eben auch im Dresdner Osten.”(3)

Trotz der ausgeprägten Schollen-Verbundenheit wendet sich Matthias Griebel zum Studium erst einmal vom verehrten Loschwitz ab. Auch seine schriftstellerischer Begabung wird vorerst nicht zum bestimmenden Lebensinhalt. Der Einstieg ins Berufsleben ist zunächst durchaus prosaischer Natur: Er nimmt ein landwirtschaftliches Fachschulstudium auf. Als staatlich geprüfter Landwirt, dessen späteres Fachgebiet die Schweinezucht wird, kommt Matthias Griebel in den 60er Jahren nach einem längeren Aufenthalt in Mecklenburg wieder nach Sachsen zurück. Er wechselt in die trockene Bürokratie: In Dresden arbeitet er in der landwirtschaftlichen Verwaltung des Rates des Bezirkes, ein paar Jahre später als ökonomischer Leiter in der städtischen Tierzuchtinspektion. Lang hält er es dort jedoch nicht aus. 1967 kündigt er und beendet endgültig seine Verwaltungs-Karriere. Danach spielt Matthias Griebel eine Zeitlang beim Dresdner Kabarett Die Herkuleskeule, für das er auch satirische Texte schreibt.

Um nicht unter den Asozialenparagraphen zu fallen, wird er ab 1970 für zehn Jahre Lagerarbeiter in einem kleinen Eisenwarengeschäft bei Bühlau. Der Privatinhaber läßt Griebels musischen Interessen einigen Raum, indem er nur zwei bis drei Tage in der Woche arbeiten muß. Der radikale Bruch mit dem Angestelltendasein kommt nicht ganz unerwartet, denn zu jener Zeit hat sich der Griebel-Sohn in der Dresdner Subkultur schon längst einen Namen gemacht – als ideenreicher Inspirator zahlreicher Feste, die Mitte der 60er Jahre in Loschwitz veranstaltet werden, und als brillanter Büttenredner beim Kunsthochschul-Karneval. In der ehemaligen Akademie gehört er mit zur tonangebenden Clique, obwohl er kein eingetragener Student ist – ein Privileg, das der spätere Fürstengeschichtler erst durch einen Einspruch des Rektors Gerhard Kettner verliert.


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