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Mysterien des Postwegs

Frankierte Kommunikation: Eine Mail Art-Gruppe sorgte Anfang der 80er Jahre in Dresden für Furore – bis die Staatssicherheit ein Exempel statuierte

Zehn Prozent der Briefsendungen im deutsch-deutschen Postverkehr werden geöffnet – zumindest im Grenzpostamt Saalfeld, weiß Michael Meißner, der ehemalige MfS-Fahndungsoffizier(1). Bei rund 20.000 dort täglich eintreffenden Briefen und Karten ist dies ein durchaus aufwendiges Procedere. Zunächst werden die per Namenskartei oder Zufallsprinzip zur Kontrolle ausgewählten Sendungen mit einer Halogenlampe durchleuchtet. Dann öffnen die Mitarbeiter der MfS-Sonderabteilung die Briefe mit Hilfe von Wasserdampf. Der Inhalt wird kontrolliert und bei Bedarf fein säuberlich zu den Akten kopiert. Mitunter gibt es Pannen, weil vorsichtige Absender etwa Blaupapier beilegen, das beim Erwärmen die Texte verfärbt. Werden Briefe beschädigt, fügt die MfS-Postzollfahndung den Schriftvermerk “Sendungen mit Zusatzleim und Sonderverklebungen, die sich ohne Spuren nicht öffnen lassen” an. In der Regel erreichen diese Schriftstücke niemals ihre eigentlichen Adressaten, wie auch Briefe und Päckchen, deren Inhalt nach Meinung der Kontrolleure gegen das Postgesetz verstoßen. Dieses Gesetz enthält unter anderem die dehnbare Formulierung, daß Sendungen von der Beförderung ausgeschlossen sind, wenn sie wegen ihrer äußeren Beschaffenheit den Grundsätzen der sozialistischen Moral zuwiderlaufen. “Unsere Aussendungen waren immer ein Vabanquespiel”, erinnert sich denn auch Birger Jesch, Mail Art-Aktivist in Dresden, an seine Erfahrungen mit der frankierten Kommunikation. “Selbst nach jahrelanger Praxis war für uns nie ganz klar und durchschaubar, welche Post wirklich durchkommt.”(2)

Der Spaß am nervenaufreibenden Kunstspiel mit der DDR-Postbehörde ist sicher nicht der Grund, warum Ende der 70er Jahre in Dresden ein Freundeskreis das grenzüberschreitende Netzwerk der Mail Art für sich entdeckt. Für die künstlerischen Autodidakten Birger Jesch, Jürgen Gottschalk, Steffen Giersch und Joachim Stange bietet die bereits in den 60er Jahren in Amerika entstandene Kunstform die Chance, zumindest teilweise aus der Selbstisolation auszubrechen. Die ungeschriebenen Spielregeln der Mail Art-Gilde – No jury! No return! No fee! – beflügeln die Phantasie der vier Dresdner. Das Prinzip ist simpel: Es beginnt mit einem “Projekt”, zu dem ein Mailarter mit selbstgestalteten Karten einen internationalen Adressenstamm einlädt. Die Themenwahl ist offen, die Korrespondenzsprache Englisch. Auf diese Projekteinladung erhält der Ausschreiber im Normalfall zwischen 80 bis 300 gestaltete Karten zurück, je nach Umfang des angesprochenen Einladerkreises und der Resonanz auf sein vorgegebenes Thema. Als Gegenleistung muß er für eine “juryfreie”, unzensierte Ausstellung dieser eingegangenen Originale sorgen – die sogenannte Mail Art-Show. Zudem erhalten die Einsender eine Ausstellungs-Dokumentation, mindestens aber die Adreßliste aller Beteiligten, was mitunter neue Ausschreibungen auf den Postweg bringt. “Mail Art ist also visuelle Kommunikation mit vergleichsweise einfachen Mitteln”, definiert Lutz Wohlrab, einer der ostdeutschen Postkunst-Protagonisten, das Genre.(3)

In den 70er Jahren entwickelt sich die Postkunst zu einer international vernehmbaren Kunst-Bewegung. Einem durch Star-Kritiker, Marketing-Consultants und geschäftstüchtigen Galeristen dominierten Kunstmarkt wollen die Mail Art-Aktivisten als nichtkommerzielle Alternative eine direkte Kommunikation von Künstler zu Künstler entgegensetzen. Dabei spielen künstlerische Profession und Qualität keine tragende Rolle: jeder, der sich berufen fühlt, kann teilnehmen. So wirkt denn auch manche Mail Art-Show als scheinbar beiläufig entstandenes Puzzle dilettantischer Kunstausübung, bei der man die professionellen ‘Rosinen’ mit der Lupe suchen muß.

“Bei allen konzeptionellen Einfällen”, benennt der Kunsthistoriker Klaus Werner die Grenzen des auch in Osteuropa registrierbaren Phänomens, “bleibt die Idee der Mail Art eher in der resiginierenden Abwehr oder im Spiel-Part der Beteiligten beschränkt.”(4)

Aber es ist gerade der spielerische Aspekt, der aus dem praktizierten Postversand von Kunstbotschaften für die DDR-Mailartisten ein offenes “Tor zur Welt” öffnet. Die Gegebenheiten für ein ausuferndes Post-Internet sind zumindest vom finanziellen Einsatz her ideal. Das Brief-Porto kostet lediglich zwanzig Pfennige, und beim Versand ins “nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet”erhöht sich der Preis unwesentlich auf 35 Pfennige. Auch die Zoll- und Postkontrolle läßt anfangs vieles passieren, was später, nachdem die Staatssicherheit den ostdeutschen Mail Art-Boom zum operativen Schwerpunkt erklärt, nicht immer gelingt. Rund 80 Mailarter verschreiben sich in der DDR ihrer zeitaufwendigen Leidenschaft. Unangefochtener Pionier der Szene ist dabei zweifelsohne der Berliner Robert Rehfeldt. Aus seinem Pankower Atelier heraus knüpft er bereits in den frühen 70er Jahren ein grenzüberschreitendes Netzwerk. Die kursierenden Stempel-Slogans “Sei Kunst im Getriebe”oder “Kunst ist wenn sie trotzdem entsteht” machen ihn auch international bekannt. “Die Botschaften, die kontinuierlich mit dem Absender R.R. aus dem Osten gesendet wurden”, schreibt der Kuntshistoriker Eugen Blume, “haben viele wichtige Künstler im Westen nicht nur verstanden als einen mutigen Akt der Gegenwehr, sondern sie haben sie auch als Angebot angenommen, das Sender-Empfänger-Prinzip über die Grenze hinweg zu realisieren.”(5)


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