Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Spontanes und angstfreies Kommunizieren ruft in der Wertewelt des Spätsozialismus naturgemäß den Geheimdienst auf den Plan. So ist es nicht verwunderlich, daß bereits 1981 der zunächst unter dem Decknamen “Postkunst” geführte OV “Feind” gegen das Dresdner Quartett eröffnet wird. Unmittelbarer Auslöser ist ein Solidarnocz-Plakat, das der in diesen Fragen nicht gerade ängstlich vorgehende Jürgen Gottschalk in seiner Werkstatt zu hängen hat. Der in der Dresdner Boheme-Szene aktive IMB “Michael Müller”, der im bürgerlichen Leben als Sören “Egon” Naumann in der Förstereistraße eine bekannte inoffizielle Wohnungsgalerie betreibt, meldet den Tatbestand weiter. Später stellt er als Lockvogel sogar die Mail Art-Projekte “Live without Force – Hommage à Wilhelm Reich” von Birger Jesch, “Wartekritzeleien” von Jürgen Gottschalk und “Urdeutsche Gemütlichkeit” von Joachinm Stange in seinen Zimmern aus. Doch das Solidarnocz-Plakat ist nur der Aufhänger. Die Staatssicherheit hat die Mail Art-Szene inzwischen zum operativen Schwerpunkt benannt. In einem Maßnahmepapier der MfS-Bezirksverwaltung Dresden vom 1. April 1982 wird ihr seltsames Verständnis des realsoszialistischen Postkunst-Phänomens deutlich. “Bei der Mail Art (Postkunst) handelt es sich um eine westliche Modeeerscheinung auf dem Gebiet der bildenden Kunst, künstlerische Arbeiten sind im Postkartenformat, und werden auf dem Postkartenweg international ausgetauscht. – Zu beachten ist, daß sich eine Reihe von Künstlern und Laienschaffenden der DDR aktiv an dieser Bewegung beteiligten und aufgrund ihrer feindlich-negativen Einstellung auf den Mail Art Karten versteckte Angriffe auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und anderen sozialistischen Ländern führen und zum Teil offen ihre pazifistische Gesinnung verbreiten.”(14)

Die “Zersetzungs”-Strategie der Staatssicherheit erkennt in Gottschalks ungeklärter juristischer Lage zielsicher den schwächsten Punkt. Als Drucker mit einer nur befristeten Legitimation ist seine Tätigkeit relativ einfach einzuschränken. Durch Inoffizielle Mitarbeiter in “Schlüsselpositionen”, so das MfS für seine diensteifrigen Statthalter im Verband und in der Abteilung Kultur, wird die Entscheidung im Sinne der Staatssicherheit beeinflußt. Im Dezember 1982 wird Jürgen Gottschalk die staatliche Zulassung entzogen. Als Begründung müssen unbewiesene Regelverstöße herhalten. Damit ist das MfS allerdings noch nicht am Ziel. Gottschalk läßt sich im Gegenzug pro forma bei einer Verbandskünstlerin anstellen und setzt seine Drucktätigkeit offiziell fort. Da schlägt IMB “Werner”, hinter dem sich der Mediziner Peter Hünlich verbirgt, dem Drucker vor, in seinem Keller eine Verkaufsausstellung auszurichten. Gottschalk geht auf den Vorschlag ein. “Es verstand sich fast von selbst”, recherchiert der Journalist Holger Spierig, “daß auf dieser nicht genehmigten Ausstellung die Volkspolizei erschien.”(15)

Im Februar 1984 wirkt die Taktik der Staatssicherheit. Der impulsive Siebdrucker stellt einen Ausreiseantrag. Kurz vorher hatte er mit Hilfe eines Freundes ein Interview erstellt, das die Hintergründe dieses Schrittes beleuchtet. Der Freund erweist sich als Zuträger. Das MfS nimmt seine Botschaft ernst, Gottschalk wolle den Text in 300 Exemplaren drucken und dann auch im westlichen Ausland kursieren lassen. Am 20.3.1984 wird Jürgen Gottschalk verhaftet und am 23.7.1984 wegen “ungesetzlicher Verbindungsaufnahme in Tateinheit mit öffentlicher Herabwürdigung der DDR” zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Fünfzehn Monate sitzt er in Dresden und Brandenburg ab, bevor er freigekauft in den Westen entlassen wird. Das Schlußprotokoll des MfS – Hauptmann Manfred Rudolph schriebt ein paar Jahre später an der Stasi-Hochschule seine Diplomarbeit über diese Aktion –, liest sich wie eine geglückte Generalabrechnung mit einer subversiven Kunstform. “Abschließend ist einzuschätzen, daß die Zielstellung des Operativvorganges ‘Feind’, Schaffen von Beweisen für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, bei der OV-Person Gottschalk realisiert werden konnte. Gleichzeitig ist es (...) gelungen, die OV-Personen Giersch, Jesch und Stange anhaltend zu verunsichern und in ihrer Wirksamkeit weitestgehend zurückzudrängen. Durch geeignete operative Maßnahmen konnten eine Vielzahl von Kontakten innerhalb der DDR sowie in das NSW unterbunden werden. Durch ein gleichlaufendes Vorgehen des MfS gegen Kontaktpartner in der DDR kann festgestellt werden, daß die Problematik Mail Art aus operativer Sicht keinen Schwerpunkt mehr darstellt und weiter an Wirksamkeit verliert. Die OV-Personen mußten erkennen, daß die Mail Art ein untaugliches Mittel ist, in irgendeiner Form die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR anzugreifen.”(16)


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