Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Wutanfälle und Flugversuche

Genius loci und radikaler Stadtverfall: In der Messestadt Leipzig fand sich ein Patchwork subkultureller Eigenarten

Am 30.5.1968 wird das Urteil vollstreckt. Um 10 Uhr früh sackt die Universitätskirche krachend in sich zusammen. Trotz eines Verbotes und eines martialischen Aufgebotes an Sicherheitskräften nehmen fast 10.000 Leipziger an der Schändung ihrer Altstadt teil – mit geballten Fäusten und empörten Blicken hinter den Sperrzäunen. Als stille Form des Protestes sieht man in den Wohnstuben der Messestadt bis in die 80er Jahre hinein Kupferdrucke des gotischen Bauwerkes hängen. Mit der Paulinerkirche fällt auch das benachbarte Augusteum in Schutt und Asche. Dort hatte im Hörsaal 40 noch vor einigen Jahren – neben dem Philosophen Ernst Bloch, der an der Alma Mater sein Hauptwerk “Das Prinzip Hoffnung” vollendet – der Literaturwissenschaftler Hans Mayer doziert. Die Sprengung des im Krieg fast unversehrten Gotteshauses ist mehr als eine städtebauliche Flurbereinigung. Sie ist dumpfe Demonstration mißbrauchter Macht und zugleich tösender Abschied von der lang gehegten Illusion, in Leipzig könne die Balance zwischen bürgerlicher Kulturtradition und sozialistischer Kulturrevolution auf sinnstiftende Art gelingen. “Das stumme Aufbegehren gegen die Sprengung”, wertet der Soziologe Dieter Rink das Ereignis, “war die wohl größte Protestaktion zwischen 1953 und 1989, die im wesentlichen vom protestantischen Rest des früheren bildungsbürgerlichen Milieus getragen wurde.(1)

Das ‘Prinzip Hoffnung’ trägt nicht mehr. Wie schon drei Jahre zuvor, als demonstrierende Beatfans(2) rüde abgeurteilt und in Arbeitslager gesteckt werden, zeigt die Staatsmacht, was in ihr steckt. Die Bewohner der “bürgerlichen Inseln”, so bezeichnet die SED jene eher staatsfernen Quartiere um Kirchen und Hochschulen, wählen den Weg in den Westen oder in die innere Emigration. Die 1967 eingeleitete Hochschulreform trägt zur Verunsicherung und zur Sinnkrise unter den kritischen Dozenten bei, die zunehmend an Bedeutung verlieren. Zwar existieren keine milieubezogenen Abwanderungsdaten – der intellektuelle Aderlaß aber ist enorm. Dennoch bleibt der Einfluß bürgerlicher Kultur auf das geistige Leben in der Universitätsstadt zumindest rudimentär erhalten. Neben den einstigen Elite-Gymnasien, von denen das Thomasgymnasium mit dem weltberühmten Thomanerchor und die Nikolaischule fortbestehen, sorgen auch das Gewandhaus, Teile der Musikhochschule und die neu gegründete Kirchliche Hochschule für ein konservatives Kontinuum in der zunehmend von ihrer Substanz zehrenden Metropole.

Neue Impulse setzt die Künstlerszene. In Leipzig existiert eine Vielzahl künstlerischer Fach- und Hochschulen(3), von denen die Hochschule für Grafik und Buchkunst die bedeutendste ist. Jenseits der Akademien wächst ein Geflecht von kritischen Zirkeln und Kreisen – etwa der literarische Freundeskreis um Gert Neumann, Wolfgang Hilbig und Siegmar Faust. Die Magnetkraft Leipzigs als Künstler- und Intellektuellenstadt zieht neue Generationen an, und das nicht nur, weil die “Leipziger Schule” zu beachtlichem Erfolg findet. Von den 600 Bildern, die das Ludwig-Institut für Kunst der DDRbis 1990 erwirbt, stammt die Hälfte von Leipziger Malern. Unter der Regentschaft von Bernhard Heisig herrscht an der Kunsthochschule seit 1976 ein freigeistigeres Klima als anderswo. Der hochschuleigene Studentenklub Grafikkellergehört neben dem Uni-Studentenklub Moritzbastei zu den wenigen Veranstaltungsorten im Land, wo ästhetische Experimente und nonkonformes Denken ein Podium finden. Das reicht von den theatralischen Erkundungen eines Wolfgang Krause Zwieback(4) über Hans-Joachim Schulzes(5) marxistische Teamarbeit bis hin zur Lesereihe “Der durstige Pegasus”, in der unzensiert Texte vorgestellt werden können. Selbst in den Verbandsstrukturen scheint eine Zeitlang Erneuerung möglich – eine Chance, die vor allem die mittlere Generation zu Flugversuchen und Positionskämpfen reizt. Fulminanter Schlußakkord dieser letztlich gescheiterten Reformbestrebungen ist der 1. Leipziger Herbstsalon(6).

Diese spannungsreiche Situation ist nicht der einzige Grund, warum es kulturell Interessierte an die Pleiße zieht. Auch die Leipziger Messe wirkt als Zugpferd. Sie löst eine gehörige Nachfrage für künstlerische Dienstleistungen aus. Im Umfeld der beiden jährlichen Messen gibt es eine Menge Jobs, die nicht durch politisch bestimmte Kaderpläne vergeben werden. So können auch unangepaßte Künstler und Aussteiger aller Schattierungen als Fotografen, Schriftmaler, Standbauer und Filmproduzenten gutes Geld verdienen. Zudem reproduzieren sich dadurch privatwirtschaftliche Restformen – ein Novum in der DDR.

Die Buchmesse dient als temporäre Bibliothek. An den Ständen von Suhrkamp und Kiepenheuer sieht man Literaten tagelang ganze Lyrikbände abschreiben. Das zeitweilige Flair einer internationalen Messestadt, auch die Resonanz der “Dokfilmwoche”(7) trägt dazu bei, eröffnet Künstlern und später auch unabhängigen Projekten wie der Werkstatt-Galerie Eigen+Art(8) frühzeitig Kontakte zur westlichen Szene. Korrespondenten, Kuratoren und Privatsammler nutzen den Messebesuch zu erholsamen Stipvisiten in Ateliers oder im Künstlercafe Corso. So etabliert sich für die Messetage ein inoffizieller Kunstmarkt, von dem auch junge Aufsteiger profitieren. Praktisch-nüchterner Geschäftssinn und ein bisweilen trotziger ausgestellter Stadtstolz sind nur einige der charakteristischen Merkmale des kulturellen Lebens. “Da ist jenes stark von Intellektualität geprägte, zu kreativem Tun stimulierende, herausfordernde geistige Klima zu erwähnen”, merkt der in Leipzig lebende Kunsthistoriker Henry Schumann an, “das sich wie auch die künstlerischen Energien, anders als in Berlin oder Dresden, im Stadtkern zentrierte.”(9)

In der Tat sammelt sich die Boheme nicht wie anderswo nur in Randquartieren und Sommerlauben. Zwar besetzt die subkulturelle Szene vornehmlich im Leipziger Osten, später im Stadtteil Connewitz, ganze Straßenzüge. Aber auch die zentrale Altstadt bietet im zunehmenden Stadtverfall genügend Spiel-Raum. “Leipzig war lauschig und übersichtlich genug”, erinnert sich etwa Karim Saab, Herausgeber der inoffiziellen Zeitschrift Anschlag, “um eine Gegenöffentlichkeit zum Funktionieren zu bringen, und von so dichter Urbanität, daß sehr unterschiedliche Milieus und Freundeskreise zueinander Kontakt fanden.”(10) In privaten Kellerkneipen wie dem Jazzklub(11) von Stefan Thomm in der Schulstraße formiert sich eine nonkonforme Szene. Staatliche Kulturhäuser ziehen nach. So erlangen die NaTo(12), das Haus der Volkskunstoder auch das Jugendklubhaus “Artur Hoffmann” eine herausragende Bedeutung. Hier finden Performances, Multi-Media-Spektakel und Lesungen kritischer Autoren statt. Die engagierten Klubhausleiter nutzen geschickt das liberalere Klima und bieten den in den 80er Jahren massenhaft entstehenden Gruppen ein institutionelles Hinterland, etwa den freien Theatergruppen, der starken Folk-, Jazz- und Liedermacherszene sowie Punkbands wie Wutanfall(13). Dies alles sind turbulente Endspiele in den Kulissen einer sterbenden Stadt. In Leipzig werden in den 80er Jahren die meisten Ausreiseanträge gestellt. “Diese Stadt ist ein einziger Metastasenorganismus”, formuliert der Dichter Kurt Drawert seine Haßliebe, “der sich selber erledigt und in das größte Entsorgungsproblem aller Zeiten einmündet.”(14)


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