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Tochtersprache im Vaterland

Kunst als "außerstaatliche Lebensqualität": Die Dichterin und Performerin Gabriele Stötzer als provokante Leitfigur der 80er Jahre in Erfurt

Mit gelben Gummistiefeln steht Gabriele Stötzer im Dreck. Die Kloaken sind übergelaufen, im Keller des frisch renovierten Fachwerkhauses in der Michaelisstraße schwappt bedrohlich die stinkende Brühe bis zu den Knöcheln hoch. Nichts besonderes eigentlich, meint die drahtige kleine Person, die seit Stunden Eimer für Eimer aus dem kurz nach der Wende gegründeten "Kunst-haus" nach draußen trägt. Das passiere schon mal in diesen alten morschen Gassen, wenn über Erfurts Altstadt ein langer Regen kommt. Und ihr mache das nun wirklich nichts, lacht Gabriele Stötzer trotzig, an Scheiße sei sie in ihrem Leben schließlich gewöhnt. Eine authentische Szene mit biografischer Verweiskraft - in ihrem dritten Buch "Erfurter Roulette" (1) widmet Gabriele Stötzer dieser Episode immerhin ein ganzes Kapitel. Die Situation gerät zur Lebensmetapher für ihre vergebliche Suche nach der Leichtigkeit des Seins: Immer wenn sie den Wischlappen wringt und gegen den Unrat mit der Schaufel angeht, blitzen Wagnisse, Illusionen und Alpträume auf. Erinnerungen an ein Leben im künstlerischen Untergrund der DDR. An den Knast. An den Umbruch. An ihre Stadt, der sie es und die es ihr nicht leicht gemacht hat. "In Erfurt", sagt die heute 44jährige in ihrem unnachahmlich hart-schnoddrigen Ton, "in Erfurt wurde man als Kind schon gebrochen. Und hat sich dann aus Bruchstücken selbst wieder zusammengesetzt. In dieser zerbröckelnden dumpfen Stadt gab es nur zwei tolle Ideen - abzuhauen oder Kunst zu machen." (2)

Der Westen wäre für Gabriele Stötzer - die zu DDR-Zeiten Gabriele Kachold heißt, bevor sie später wieder unter ihrem Mädchennamen publiziert - damals keine wirkliche Alternative gewesen. Zu stark merkt man schon den frühen Texten die bisweilen exzentrisch anmutende Haßliebe zur thüringischen Wahlheimat an. Zu tief hat sie bereits Wurzeln geschlagen im Boden jener traditionsreichen "Geburtsstatt aufgerichteter Individualität" (3), wie sie später, mit Blick auf Luther, Kautsky und Meister Eckehard, ihre Stadt mit kritisch grundierter Sympathie in einem literarischen Stadtrundgang für ein Hamburger Reisemagazin preisen wird. Im Dörfchen Emleben bei Gotha 1953 als Tochter eines Werkzeugmachers und einer Buchhalterin geboren, lernt sie in Erfurt statt Krankenschwester lieber den Beruf einer Medizinisch-Tech-nischen Assistentin. Scheiße analysieren, sagt sie, klang eben besser als Scheiße abwaschen. Am Angereck stehen 1969 die ersten Langhaarigen, aus ihren auf West-empfang getrimmten VEB-Pocketradios dröhnen aus übersteuerten Minilautsprechern die harten Sounds von Led Zeppelin und den Rolling Stones.

Die erste zaghafte Ahnung von möglicher Rebellion keimt auf - von den konspirativen Fotografen der omnipräsenten Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt argwöhnisch festgehalten (4), ein Jahr nach dem Einmarsch der roten Panzer in Prag. Da ist Gabriele Stötzer 16 Jahre alt und die eigene Revolte noch weit. Scheinbar unermüdlich paukt sie nach dem Dienst für das Abitur auf der Abendschule. Noch will sie alles wissen, was das Leben in geordneten Bahnen für sie übrig hat. Hochschulreife und Immatrikulation an der Pädagogischen Hochschule in Erfurt gelingen, die gewählte Fachrichtung heißt "Lehrer für Kunsterziehung und Deutsch", nicht gerade eine akademische Brutstätte tabuloser Wissensvermittlung. Fast kontrapunktisch dazu die Ehe, selbstverständlich und sehr jung mit einem Lehrerstudenten geschlossen, was in der DDR eher die Regel war. Eine Liebe in Zeiten neu entfachter Illusionen, eingetaktet vom Rhythmus der soeben auf dem 8. SED-Parteitag lautstark verkündeten "sozialpolitischen Maßnahmen", konsumtive Begleitmusik der Wachablösung von Ulbricht zur Honecker-Ära. 5000 Mark Ehekredit, ein dkk-Kühlschrank aus Scharfenstein, schließlich der Trabant, meist auf den zwölf bis fünfzehn Jahre alten Bestellschein der Großeltern - Lockmittel als Etappenziele, die auch das junge Ehepaar zunächst ohne Motivationsverlust zu absolvieren scheint.

Doch die Ernüchterung folgt schnell - als Gabriele Kachold, wie sie nach dem Ringetausch heißt, wißbegierig, naiv und ohne konfrontativen Hintersinn in der Vorlesung nach Siegmund Freud fragt. Feldwebelhaft donnert es vom Katheder zurück, daß der Sozialismus eben mit dem Bewußtsein arbeite, da sei kein Platz für verquaste bürgerliche Theorien. Kein Ort für die zerklüfteten Landschaften der Seelen zwischen Selbstdiagnose und Über-Ich. "Von nun an sagt sie zuviel", hat die Reporterin Birgit Lahann die prägende Zäsur im Leben der künftigen Dichterin Kachold behutsam recherchiert, "und das Viele sagt sie zu deutlich. Spitzel werden auf sie angesetzt. Sie bekommt ein Verfahren. Sie läßt sich die Haare abschneiden. Sie kriegt Pickel. Sie versucht in einem Text, den Marxismus-Leninismus leicht, locker, polemisch und humorvoll darzustellen. Da wird sie exmatrikuliert." (5)

Das ist 1976 und Gabriele Kachold gerade 23 Jahre alt. Der Beginn einer ungewöhnlichen Radikalisierung, in ihrer schonungslosen Offenheit in der künstlerischen Frauenszene der DDR weithin unerreicht. Wenige Monate später, kurz nach Wolf Biermanns Ausbürgerung, unterschreibt Ga- briele Kachold eine Protestresolution. Die junge Dichterin wird beim Versuch das Schriftstück nach Berlin in den Prenzlauer Berg zu schaffen, kurz vor Abfahrt aus dem D-Zug auf dem Erfurter Hauptbahnhof verhaftet. Es kommt zur Anklage und zum Prozeß, der sich als juristische Farce in diesen Jahren vor allem in den Süd-Provinzen oft genug wiederholt. Wegen angeblich erwiesener "Staatsverleumdung" verurteilt, sitzt Kachold ein halbes Jahr in der berüchtigten Frauenvollzugsanstalt Hoheneck ab. Zusammen mit Mörderinnen, Asozialen und Politischen. Im Gefängniskrankenhaus wird Kachold, Nummer 2824, wegen einer Bauchhöhlenschwangerschaft operiert - eine Fehldiagnose, wie sie hinterher weiß, als die Schwestern mit der Pistole am Gürtel vorbeipatrouillieren. Aber die geheimen Rituale und Spielregeln in diesem kruden Frauenstaat faszinieren auch. Das Sprechen durch die Toilettenbecken etwa, den Kopf dabei ganz weit in das Klosett gesteckt, aus dem vorher mit dem Zahnputzbecher soviel Wasser wie möglich herausgeschöpft werden muß, damit die Worte von Frau zu Frau auch genügend hallen. Ein Mikrokosmos, der Härte und zugleich Nähe zeugt. "Die Kraft der kriminalisierten Frauen zu spüren", erzählt sie, "war eine wichtige Erfahrung." (6) Als sie am 31. Mai 1977 ihren Entlassungsschein und 398,71 DDR-Mark Arbeitslohn erhält, ist sie auf dem Grund ihrer staatlich vorbestimmten Existenz angekommen. Sie beginnt, sich die Alpträume von der Seele zu schreiben und arbeitet in der Bewährungszeit als Sachbearbeiterin in einer Schuhfabrik. Erste literarische und kunsttheoretische Texte entstehen, die Akademie-Zeitschrift "Sinn und Form" schickt die eingesandten Beiträge unkommentiert zurück. Bei den Lesungen in der Berliner Wohnküche von Ekkehard Maaß, die sie wenn möglich regelmäßig besucht, wird die provokante Jung-Dichterin in ihrem künstlerischen Impuls bestärkt.

Gabriele Kachold bekommt Kontakt zu weiteren Zirkeln und Protagonisten des künstlerischen Untergrunds. Die Bewährungszeit mit Arbeitsplatzbindung läuft aus, eine Anstellung lehnt sie rigoros ab. In Erfurt übernimmt Kachold stattdessen 1980 von Peter und Dagmar Peinzger die "Galerie im Flur" am Anger 41. Eine bereits seit zwei Jahren betriebene inoffizielle Privatgalerie in der nicht genutzten Wohnung des Berliner Malers, die in der örtlichen Tradition der "Erfurter Ateliergemeinschaft" steht, freilich ohne deren artifizielle Akribie und überregionale Ausstrahlung anzustreben. Aber ein Projekt, das Energien freisetzt und Türen öffnet für die kollektive Suche nach einem selbstbestimmten Leben. Der Galeriename "im Flur" soll dabei den offiziellen Kulturwächtern suggerieren, daß die Grafiken, Bilder und Plastiken nur im Korridor zu besichtigen wären. Tatsächlich finden die Ausstellungen jedoch in der ganzen Wohnung statt. Aber der Name, so hoffen ein wenig blauäugig die Betreiber, soll zumindest den justiablen Vorwurf entkräften, hier werde rarer Wohnraum zweckentfremdet. Mit effizienter Mund-zu-Mund-Werbung, mit Infozetteln beim hilfreichen Buchhändler Kurt Peterknecht und in der ersten Zeit sogar mit redaktionellen Hinweisen in der regionalen NDPD-Zeitung "Thüringer Neueste Nachrichten" gewinnt die kleine Galerie rasch an Zulauf. Am Anfang sind es vor allem Autodidakten, die im ersten Stock über einem HO-Kücheneinrichtungsgeschäft ein Podium finden. "Das Angebot hier im Bezirk Erfurt war in dem Punkt aber zu gering", erinnert sich Gründer Peter Peinzger, "man mußte dann auch auf Verbandskünstler zurückgreifen, allerdings auf Leute, die noch am Anfang standen - also junge Künstler."(7)

Mit Uta Hünniger und Reinhard Zabka, in deren Ateliers im Prenzlauer Berg ebenfalls Lesungen, Ausstellungen und Künstlerfeste stattfinden, gelingt der Brückenschlag zu Berliner Künstlerkreisen, die zunehmend am Geschehen in der Domstadt Interesse finden. Mit der Präsentation des damals schon in der Szene renommierten Dresdner Malers Eberhard Göschel, enger Freund des gerade ausgebürgerten Ralf Winkler (A.R. Penck) und Mitbegründer der legendären Obergrabenpresse, schafft Gabriele Kachold nun auch eine künstlerische Profilierung des autonomen Projektes. Ihre Einladungskarten, abfotografierte Bild-Text-Collagen auf DDR-typischem Fotodokumentenpapier, kursieren in Maler- und Dichterkreisen. Sie bemüht sich um Professionalität und ein unverwechselbares Profil. Das bringt ihr zunehmend die Akzeptanz auch bei etablierten Verbands-Künstlern ein, die Autodidakten sonst vornehmlich als harmlose Volkskünstler mißverstehen. Erfolge, die Oberstleutnant Haase, Leiter der zuständigen Abteilung XX bei der Erfurter Stasiverwaltung, höchstselbst auf den Plan rufen. Gabriele Kachold wird zur Chefsache einer gewaltigen Bezirksmaschinerie, die es am Ende der DDR auf insgesamt 4734,80 laufende Meter Akten bringen wird. Sprache soll töten: ihr 1979 angelegter Stasi-Vorgang heißt OV "Toxin" - Inbegriff des Giftes schlechthin. Nachfolger des OV "Kapitän", der die Hochschulaffäre und die Haftzeit umfaßt. Mehr als 20 IMs werden auf die unangepaßte Dichterin und Privatgaleristin angesetzt - vom promovierten IMS "Wallenstein" bis zum IMB "Breaky", einem städtischen Gigolo und Freizeitkünstler, der die Zusammenkünfte mit eigenwilligen Breaktänzen bereichert. Die Strategie der Stasi sieht zunächst aber die kleine Lösung vor, eine personelle Infiltration und konzeptionelle Aufweichung der Privatgalerie. Ein Tod auf Raten, fremdgesteuert und obskur, wie etwa bei der "Clara Mosch"-Galerie in Karl-Marx-Stadt.

Der Erfurter Kulturstadtrat Steppat, offenbar von ganz oben aus dem voreiligen Festtagsurlaub zurück in die Dienststelle beordert, diktiert seiner Sekretärin am Weihnachtsmorgen des Jahres 1980 folgenden Vorschlag in die mechanische Schreibmaschine: "Sollten Sie die Absicht haben, Ihre Galerie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, empfehle ich Ihnen, Ihre Kraft und Ihre Räumlichkeiten der Arbeit des Kulturbundes der DDR zur Verfügung zu stellen." (9) Ein nur scheinbar kulantes Angebot, das die Galeriebetreiber aus verständlichen Gründen ablehnen. Die Zusammenarbeit mit dem Kulturbund brächte nicht nur nervende konzeptionelle Auseinandersetzungen über Profil und organisatorische Modalitäten, sondern vor allem die permanente Gefahr der Schließung wegen Unstimmigkeiten im Galeriebeirat, in dem die vom Kulturbund entsandten Mitglieder die weitere Arbeit boykottieren könnten. Also setzt Stufe 2 der Bearbeitung ein, die örtliche Stasi-Dienststelle diagnostiziert besorgt eine "sichtbar steigende Öffentlichkeitswirksamkeit" (10) und die Berliner Hauptabteilung XX befiehlt die prompte "Liquidierung der Privatgalerie." (11) Daraufhin spricht der Stadtrat, ganz williges Rädchen und Täter-Werkzeug, Gabriele Kachold am 1. April 1981 ein generelles Verbot ihrer Galerietätigkeit aus. Die Begründung ist zynisch: "Da an die staatlichen Organe kein Antrag auf die Zulassung einer Galerie im Flur gestellt wurde, existiert eine solche nicht." (12)

Als hätte ein dementsprechender Antrag auch nur die kleinste Spur einer Chance gehabt - bis zum Ende der DDR wurden Privatgalerien höchstens geduldet, nie aber sanktioniert. Unmittelbarer Anlaß für diesen administrativen Schritt ist eine von Kachold geplante Ausstellung mit Ralf Kerbach, der eine größere Auswahl an Zeichnungen und sechs großformatige farbige Holzschnitte zeigen will. Zur Eröffnung am 4. April 1981 hat sich auch Dichterbarde Bert Papenfuß-Gorek mit neuen Texten angesagt. Ein Vorhaben mit lokalem Ereignischarakter, zudem flankiert von einem im Mai angesetzten "Altstadt-Pleinair", das bereits ein Jahr zuvor im Eichsfeld-Dorf Hüpstädt mit einiger Resonanz über die Bühne ging. Zunächst sollte Sascha Anderson bei der geplanten Kerbach-Eröffnung lesen, aber der "blonde Engel", wie Gabriele Kachold ihn spöttisch nennt, tut seinen Dienst lieber auf der anderen Barrikadenseite. Das macht er pedantisch, präzise, perfekt: Als IMB "David Menzer" informiert er nicht nur frühzeitig über die geplante Ausstellung seines damals engsten Freundes.(13) Er ist auch selbst mit der Kamera bei der Vernissage dabei, die wegen des Verbotes und eines angedrohten Einsatzes der Volkspolizei allerdings nur kurz gerät und in eine Wohnung verlagert wird, berichtet Gabriele Kachold. Seine denunzierenden Blitzlicht-Fotos von der arglos ins Objektiv schauenden Besucherrunde finden sich in den Akten. Stasi-Flashs in die abgedunkelten Nischen des Untergrunds: Über die Köpfe der Gäste und Freunde malt Anderson mit spitzem Bleistift Nummern - selbst die Geliebte bleibt nicht verschont - zu denen er analytische Kommentare setzt. Knappe, pointierte Sentenzen, deren intellektueller Gehalt die Machwerke sämtlicher anderen Verfasser weit überragen. "David Menzers" Gesamteinschätzung liest sich denn auch wie ein behördeninterner Abschlußbericht, in dem er sogar seinen eigenen Wortbeitrag referiert: "G. Kachold ist klar, daß die "Galerie" in diesem Status nicht mehr zu halten gewesen wäre. Sie verzichtet auf öffentlichen Protest, hat jedoch ein Gedächtnisprotokoll über das Gespräch mit der Behörde geschrieben, das sie den Gästen zeigte...S. Anderson las das Vorwort für die nicht- eröffnete Ausstellung vor und sagte, er sei nicht der Meinung, daß alternative Kultur und Kunst in der DDR eine Existenzmöglichkeit hätten, da der Staat nicht die Kraft habe, darauf zu reagieren, würde er sie nicht zulassen. Gabi Kachold hat die Absicht, auf der Pergamentergasse eine Ausstellung ohne öffentliche Werbung und ohne Bezeichnung als solche wieder einzurichten. Sie wird es nicht sofort tun, um nicht in den Verdacht zu kommen, nur auf die Schließung der "Galerie im Flur" zu reagieren."

Für Gabriele Kachold ein gefährliches Protokoll, sucht die Stasi doch nach verwertbaren Hinweisen, sie als Vorbestrafte wegen formaler Nichtigkeiten und erwiesener Renitenz erneut hinter Gitter zu bringen. Ein prekärer Umstand, der noch verstärkt wird durch ihr harsches Beharren auf einer selbständigen Künstlerexistenz ohne Steuernummer, Zulassung und Verbandsausweis. Statt sich bei einem Verbandskünstler pro forma anstellen zu lassen, eine oft praktizierte Legalisierungsmöglichkeit für Autodidakten in der subkulturellen Szene, geht sie kompromißlos aufs Ganze. Manchmal hilft wohl auch die Freundschaft zu Christa Wolf, bei der sie eines Tages mit einer Kladde unveröffentlichter Texte unverhofft in Pankow vor der Tür steht. Eine Begegnung, die in Christa Wolfs kontrovers diskutierter Erzählung "Was bleibt" zur ostdeutschen Generationsmetapher gerinnt: "Als ich den kurzen Text gelesen hatte, fragte ich das Mädchen, wem sie ihn außer mir noch gezeigt habe... Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemandem zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen. Das Mädchen wurde vor Freude weich, es löste sich, begann zu reden. Ich dachte: Es ist soweit. Die Jungen schreiben es auf." (15)

Neben den Zuwendungen, die sie seitdem sporadisch von Christa Wolf bekommt, hält sich Gabriele Kachold durch den Verkauf von handgefärbten, selbstgestrickten Pullovern finanziell über Wasser. Die vom Schäfer besorgte Schafwolle verspinnt sie selbst. 400 Mark bringt das Stück. Eine Menge Geld, das ihre Kunden aber gern für ein Stück demonstrativer Individualität hinblättern. "Ein Pullover im Monat", erklärt sie heute, "reichte damals zum Leben". (16) Die strickende Kunstberserkerin schlägt Haken, umschifft erfolgreich den latenten Vorwurf der Asozialität und zieht wie ein Magnet die künstlerisch Interessierten der Domstadt an - Studenten, die mit der stupiden Realität an der Erfurter Pädagogik-Hochschule brechen, jugendliche Aussteiger, für die Kachold bald schon eine moralische Instanz eines "anderen" Lebensmodells darstellt, schließlich städtische Intellektuelle, die ein Echo für das eigene kulturelle Unbehagen suchen. Immer in Reibung mit den Protagonisten und Mitläufern thüringischer DDR-Provinzwirklichkeit, "die so viele schichten hatte", schreibt sie, "alle um eine lüge herum im verborgenen blendenden blickmaßstab der gelogenen zeit." (17)

In der abrißreifen Pergamentergasse findet sie neue Räume für ihre Experimente zwischen ambitonierter Kunstkommune und subkultureller Therapiestation. Im modrigen Geruch besetzter Wohnungen, in Kellern, wo Anfang der 80er Jahre die ersten Punks zu Bands wie "Schleimkeim" den rebellischen Pogo proben, trifft Kachold unter anderem auf Christian "Spinne" Duschek, Jens "Tuckie" Tuckiendorf und auf Matthias Schneider "KULT". (18) Die drei sind blutjung und künstlerisch aktiv. Kachold ist begeistert von der anarchischen Kraft der Nachwachsenden. Sie unterstützt, vermittelt Kontakte, organisiert gemeinsame Projekte. In einem morschen Fachwerkhaus in der Kürschnergasse, wo sich die nonkonforme Meute sammelt, stellt sie gemeinsam mit ihnen aus. Ein spektakuläres Kunstereignis mitten im "Konzentrationspunkt negativ-dekadenter Personen", so der Schnüffel-Jargon im eigens angelegten OV "Herberge". (19) Die Stasi mokiert sich als ermittelnde Kunstpolizei über indifferente "Torsos, perverse Darstellungen und undefinierbare Schmierereien, Linien- und Farbspiele" (20) der Nachwuchskünstler, von denen allerdings einer (21) im Doppelauftrag arbeitet. Zwei Jahre später ist es den städtischen Kunstwächtern genug: das fidele Haus wird baupolizeilich gesperrt und von der Volkspolizei geräumt. Gabriele Kachold organisiert den aufstrebenden "Punkmalern" Duschek und Schneider zusammen mit Ralf "Rambo" Gerlach noch eine Ausstellung bei Sören Naumann (22) in dessen Dresdner Privatgalerie. Der Bericht (23) des Galeriebetreibers in der Förstereistraße, der zugleich als eifriger IMB "Michael Müller" der Stasi berichtet, zeigt die verborgenen kunsthistorischen Ambitionen des langhaarigen Dienstleisters, der unter anderem seinen Spitzel-Kollegen Sascha Anderson für dessen Buch "Totenreklame" mehr "als 7000 kilometer durch die ddr" (24) chauffiert - eine der wohl ungewöhnlichsten Geschäftsreisen, für die das Ministerium für Staatssicherheit seinen Mitarbeitern die Benzinkosten zahlt.

Im Zentrum der vielfältigen Aktivitäten Gabriele Kacholds steht seit Beginn der 80er Jahre neben ihrer Prosa aber vor allem die Arbeit mit einer Frauengruppe, die sich in zwei besetzten Altstadt-Häusern eigene Räume schafft - Ateliers und Werkstätten für Siebdruck, Fotografie und das wöchentlich verbindende Aktzeichnen. Eine sich selbst organisierende Clique, immer auf der Suche nach den eigenen "trieb-, lust- oder schattentaten". In der mitunter exzessiv betriebenen Teamarbeit bleiben naturgemäß Spannungen nicht aus. Künstlerinnen wie die Fotografin Heike Stephan und die Malerin Verena Kyselka gehen später eigene Wege. Die enorme Produktivität hält die Gruppe jedoch zusammen. Gegen den Virus der Stasi-Heuchler setzen die Frauen dabei auf geschlechtstypische Gegengifte - Klatsch und Tratsch. "Ganz Erfurt", erinnert sich Gabriele Kachold über die existenzsichernde Taktik, "wußte Bescheid, wenn wir irgend etwas planten oder in Schwierigkeiten waren. Unsere Schwatzhaftigkeit war damals ein lebenswichtiges Prinzip". (25)

Der auf konspirative Prinzipien eingeschworene Sicherheitsdienst versagte bei soviel weiblicher Redundanz. Zwar war die Gruppe von einem dicht gefügten Netz von IMs umgeben - auch etliche Liebhaber und Lebenspartner waren darunter - aber im inneren Kern bekam die Stasi keinen Fuß in die Tür. Kunst als außerstaatliche Lebensqualität, als sinnstiftendes Alternativkonzept gegen den Normenkanon des Staatssozialismus, so hat Gabriele Kachold in dieser Zeit ihr Credo formuliert. Mit den Malerinnen Cornelia Schleime, Christine Schlegel, Angela Hampel oder auch Erika Stürmer-Alex gelingen temporäre Projekte und ein Gedankenaustausch, der zu halböffentlichen Lagesondierungen führt. In den männerdominierten Kreisen und Zirkeln stößt ihre unverblümte Direktheit dabei nicht immer auf ein positives Echo. Im Text "das gesetz der szene" thematisiert sie ihr Verständnis vom Leben im Untergrund, zugleich aber auch ihr Unbehagen an einer Lebensform, die trotz anarchistischer Pose keine wirkliche Alternative realisieren kann: "das gesetz der szene ist verrat/das gesetz der szene ist klatsch/das gesetz der szene ist alle wissen alles/das gesetz der szene ist gruppe/das gesetz der szene ist verbündete/das gesetz der szene ist vielwissen durch allestun und allesweitersagen...das gesetz der szene ist rache/das gesetz der szene ist haß/das gesetz der szene ist wut/das gesetz der szene ist geifer/das gesetz der szene ist jargon ist mode ist gleichheit um jeden preis." (26)

Gabriele Kachold muß sich wegen ihrer rigorosen Haltung und sonst tabuisierten Binnenkritik oftmals harte Vorwürfe und gelegentlich sogar "krasse Ablehnung" (27), wie Christoph Tannert schreibt, gefallen lassen. Eine Antipathie, die Sascha Anderson offenbar zielgerichtet schürt und steuert. Ob die energische Powerfrau, von der 1988 das erste Buch "Zügellos" im Aufbau-Verlag erscheint, nun als fatale Ost-Feministin oder epigonale Randerscheinung an den Szene-Stammtischen wegzitiert wird, ist dabei fast zweitrangig. Gabriele Kachold setzt jedenfalls einen Diskurs in Bewegung, in dem ostdeutsche Künstlerinnen in den 80er Jahren verstärkt über den besonderen weiblichen Blick, ihre spezifische Rolle im Kunstbetrieb oder neue soziale Aktionsformen reflektieren. So läuft der von ihr auf Touren gebrachte Ideen-Motor bis zum Ende der DDR unermüdlich weiter: Sie inspiriert zu kollektiv inszenierten Fotoserien, verrückten Modeschauen und fertigt phantasievolle Künstlerbücher.

Seit 1983 entstehen auch ambitionierte Super-8-Filme (28), die "Trisal" oder "Die Vertreibung aus dem Paradies" heißen. Beim Filmprojekt "Veitstanz/Veixtanz" beispielsweise läßt sie die Frauen vor der surrenden Kamera einzeln am selbstgewähltem Ort bis zur individuellen Ekstase tanzen. Im Erfurter Augustinerkloster tritt die Gruppe mit einer ungewöhnlichen Modeperformance auf - jede Frau näht ihre Illusionen und bringt die handgefertigte Diskrepanz zwischen privater Utopie und verordneter Realität selbst auf den Laufsteg. "ich fing einen tausch an mit den frauen", beschreibt die heute meist im holländischen Utrecht lebende Dichterin ihre Gruppenarbeit, "denen ich keine staatlich legalisierten papiere als fotografin oder künstlerin vorweisen konnte. ich wollte ihre leiber und konnte nichts bezahlen, mit dem leibnehmen konnte ich ihnen aber auch ihren leib zurückgeben, als erfahrung, als gefühl, als spüren, als grenzüberschreitung ihrer eigenen, nicht gestellten frage nach dem eigenen geschlecht. die frauen mußten infiziert werden mit meinen sichtweisen, meinen randerlebnissen. es bedeutete mut, sich mir zu stellen, aber provozierte auch nach den filmen eine besondere art von wärme oder glück, dem anderen in sich auf der spur gewesen zu sein." (29)


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