Lebensstationen in Deutschland 1900 bis 1993

 

PHOTOSERIE: IM FEIERABENDHEIM

PHOTOGRAPHIN: HELGA PARIS, BERLIN 1980; ZEHN AUFNAHMEN; JE 30 X 40 CM

DHM, PHOTOSAMMLUNG / ABB. SEITE 182 F.

 

"Die Aufnahmen sind entstanden im Herbst 1980 im Altersheim Gürtelstraße, Berlin Prenzlauer Berg. Es ist ein langgestreckter, siebengeschossiger Bau, Mitte der siebziger Jahre entstanden, ein sogenannter Mehrzweckbau, d.h. dieser Typ wurde auch für Kinderheime u.ä. verwandt.
Fünf Etagen Wohnräume für noch rüstige Menschen, die zwei oberen Etagen Pflegestation. Die Korridore ziehen sich in der Mitte durch den Bau; von ihm gehen rechts und links die Türen in die einzelnen Zimmer. Alles Zweibettzimmer, komplett möbliert mit Toilette und Waschgelegenheit. In der Mitte des langen Korridores ist der Aufzug, an den Enden sind Fenster, davor stehen leichte Gartenmöbel. In der Eingangshalle bekommt man Auskunft an einer Rezeption. Dort stehen unter einem Wandbild tiefe schwere Ledersofas. Sie sind meistens vollbesetzt, weil hier und vor den Fahrstühlen in den einzelnen Etagen die besten Möglichkeiten sind, sich zu treffen.
Das Heim wirkt ordentlich und bescheiden. Es ist mit geringem Aufwand ausgestattet, nicht altersgerecht und stellt das momentan Bestmögliche dar, was der Staat alten Menschen zugesteht. Ein Maximum an Versorgung und ein Minimum an persönlicher Anteilnahme.
Alles muß so schnell und rationell wie möglich vonstatten gehen. Es mangelt an Personal. Besonders in der Pflegeabteilung fehlen Leute. Die Bezahlung ist so gering, daß keiner diese schwere Arbeit dafür machen will. Dabei bleiben ein paar aufopferungsvolle Frauen, die sich aber nur um das Allernotwendigste kümmern können.
Die Zimmer in den Wohnetagen sind klein, zwei Personen leben darin. Einzelzimmer gibt es nicht. In jedem Zimmer das gleiche Mobiliar an derselben Stelle. Die Tapeten unterscheiden sich kaum. Die Bewohner dürfen nur ein paar Kleinigkeiten mitbringen, Bilder, Kissen, Fernseher, keine Teppiche (Hygiene) oder Bettvorleger (Rutschgefahr), kein einziges Möbelstück.
So kam es, wenn ich die verschiedenen Zimmer betrat, daß sehr oft jemand an genau dergleichen Stelle auf dem Stuhl saß, mit leerem Blick in Richtung Fenster.
Daß sie kaum etwas aus ihrem früheren Leben mitbringen dürfen, ist wohl der entscheidende Grund, warum die Menschen so passiv erscheinen. Verschiedenste Unterhaltung wird ihnen geboten, Tanzabend, Konzerte, Bastelzirkel usw., aber nur der Friseur ist gut besucht.
Die alten Leute, mit denen ich sprach während meiner Arbeit, waren zufrieden, in dem Feierabendheim, wie es hieß, zu sein. Die Wartezeit betrug zwei bis drei Jahre, die Bezahlung im Monat in der allgemeinen Station 105,-, in der Pflegestation 120,-. Vorher wohnten sie in Altbauwohnungen mit Ofenheizung, oft mehrere Treppen hoch, und waren jetzt froh, versorgt zu sein.
Ihre Bescheidenheit hat mich geschmerzt. Es ist die Generation, die den Krieg mitgemacht hat, unter großen Entbehrungen die Nachkriegszeit und den Wiederaufbau. Sie sind abgewirtschaftet. Zu Wohlstand hat es keiner gebracht. In diesem Land war alt sein gleichbedeutend mit an der unteren Grenze der materiellen Existenz zu leben. Es gab keine reichen alten Leute. Die waren enteignet worden oder rechtzeitig in den Westen gegangen.
Es kommt mir vor, als ob diese Generation in der DDR durch den dumpfen inneren Druck und die Last, damals (im Nationalsozialismus) mitverantwortlich gewesen zu sein, geprägt worden ist. Wirkliche Aufarbeitung hat der pauschal <verordnete> Antifaschismus verhindert. Nur das kann mir ihre Resignation erklären - nichts zu fordern und sich nicht zu wehren." (Helga Paris)

 



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