Mythen der Nationen. 1945 - Arena der Erinnerungen  
   
 


Jugoslawien

Vergeßt Tito
Nach dem Tod Titos verblaßte die Bindekraft der gemeinsamen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Die Defizite, die die „Ära Tito“ hinterlassen hatte, wurden mit nationalistischen (mitunter auch rassistischen) Inhalten gefüllt. Im Verlauf der 80er Jahre reifte eine Krisensituation heran, in der lang verdrängte oder verschwiegene „Gegenerinnerungen“ die Vergangenheitsbilder Jugoslawiens zerstören konnten. Dies geschah zuerst in Serbien, dann in Kroatien und den übrigen Teilrepubliken.
Ende der 80er Jahre war nicht nur Jugoslawien, sondern auch die gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg tot. Das jugoslawische Gedächtnis war in eine Vielzahl nationaler Gedächtnisse zerfallen. Nach ersten freien Wahlen 1990 begann der faktische Zerfallsprozeß, der 1991 in die postjugoslawischen Kriege mündete und 1999 die Intervention der NATO in Kosovo und Rest-Jugoslawien auslöste.
Mit dem Tod Franjo Tuđmans Ende 1999 und der Wahlniederlage Miloševićs im Herbst 2000 änderte sich die politische Situation in Kroatien und Serbien. Das andere Kroatien und das andere Serbien verschafften sich wieder Gehör und leiteten eine neue Runde in der Umkodierung der Vergangenheit ein. Die Gedächtnislandschaften in den postjugoslawischen Gesellschaften werden in absehbarer Zukunft anders aussehen als im 20. Jahrhundert. Die „Vorkriegszeit“, d.h. die Zeit vor 1991/92, ist für große Teile der Bevölkerung, zumal der jüngeren Generation, in weite Ferne gerückt.



  Kroatien

Das Schachbrett

Mit Krise und Zerfall Jugoslawiens ging es auch in Kroatien darum, die Identität der Nation von ihrem jugoslawischen und kommunistischen Beiwerk zu befreien und die historischen Erinnerungen neu zu verhandeln. Tabus wurden gebrochen und die vom sozialistischen Geschichtsbild abweichenden und kriminalisierten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wurden wieder öffentlich. Sie waren in den Familien und im Exil gepflegt worden. Ein Großteil der durch die serbische Propaganda als Ustaše diffamierten und in ihrem Selbstwertgefühl verletzten kroatischen Bevölkerung fühlte sich durch die Umkodierung der öffentlichen Erinnerung „entlastet“. Zugleich schien sich der Alptraum einer nationalen Kollektivschuld, die mit den Verbrechen im Unabhängigen Staat Kroatien verbunden war, aufzulösen. Meilensteine auf dem Weg zur „wahren nationalen Erinnerung“ waren die Auseinandersetzungen über die Opfer im Zweiten Weltkrieg.
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Im sozialistischen jugoslawischen Pantheon des „Bösen“ nahm Kardinal Alojzije Stepinac, Erzbischof von Zagreb, einen herausragenden Platz ein. Seine Befürwortung eines kroatischen Staates, sein Antikommunismus, seine Weigerung, ins Exil zu gehen, und das Mobilisierungspotential des „Mythos Stepinac“ in der katholischen Bevölkerung waren ein Stachel im Fleisch des Regimes. Die Predigten, die sein Nachfolger Franjo Kardinal Kuharić regelmäßig an Stepinacs Todestag, dem 10. Februar, in der Zagreber Kathedrale hielt, entwickelten sich schon zu Lebzeiten Titos zu Manifestationen eines kroatischen Volkskatholizismus. Dieser stand in scharfer Konkurrenz zu den sozialistischen Inszenierungen. Die offizielle Rehabilitierung Stepinacs setzte Anfang der 90er Jahre ein. Während serbische Autoren den Kardinal immer vehementer als Kriegsverbrecher anprangerten, scharte sich die kroatische Nation um ihren Märtyrer. Im Oktober 1998 vollzog Papst Johannes Paul II. im kroatischen National- und Marienheiligtum Marija Bistrica die Seligsprechung des Kardinals. Die kroatische Staatsbank ließ aus diesem Anlaß eine Gedenkmedaille prägen.

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Am ehemaligen kroatischen Konzentrationslager Jasenovac entzündete sich der serbisch-kroatische Streit über die Opferzahlen des Zweiten Weltkrieges. 1968 war auf dem Gelände des Lagers eine Gedenkstätte mit Museum und einem Mahnmal in Gestalt einer Blume eingerichtet worden. Das Mahnmal hatte der serbische Architekt und spätere Belgrader Bürgermeister Bogdan Bogdanović entworfen. Die im Kontrast zur „sozialrealistischen Funeralienkunst“ der ersten Nachkriegszeit gestaltete Gedenkstätte war lange Zeit gut besucht. Das Bild des Mahnmals findet sich auf unserem Plakat, aber auch auf Souvenirs. Parallel zur Jugoslawien-Krise wurde Jasenovac zum Kampfplatz serbischer und kroatischer Erinnerungspolitik. Für Serben war Jasenovac der Ort, an dem Serben von Kroaten ermordet worden waren, die „größte serbische Stadt unter der Erde“, die „größte Folterkammer in der Geschichte der Menschheit“. Auf kroatischer Seite wurde Jasenovac zu einem bloßen „Arbeitslager“ heruntergespielt. Unter den Opfern nahmen kroatische Antifaschisten einen prominenten Platz ein und der Terror des Ustaša-Regimes gegenüber den Serben im „Unabhängigen Staat Kroatien“ stellte sich als bloße Reaktion auf die Verbrechen der serbischen Četniki dar. Im Herbst 1991 wurde Jasenovac von serbischen Einheiten erobert und gehörte nun zur serbischen „Republik Krajina“, die sich von Kroatien abgespalten hatte. Im Mai 1995 eroberte die kroatische Armee das Gebiet zurück. Danach stellte sich die Frage, was mit dem verwahrlosten Erinnerungsort geschehen solle. Der Präsident Kroatiens, Franjo Tuđman wollte Jasenovac in eine Stätte des nationalen Gedenkens umwandeln. Dort sollte an alle kroatischen Opfer des Zweiten Weltkrieges, an die Opfer der faschistischen und kommunistischen Gewaltherrschaft sowie an die im „Vaterländischen Krieg“ von 1991–95 gefallenen Kroaten erinnert werden. Tuđman wollte als als großkroatischer Übervater und postkommunistischer Tito in die Geschichtsschreibung eingehen. In der kroatischen Öffentlichkeit lösten Tuđmans Ideen eine hitzige Debatte aus. Nach seinem Tod 1999 versachlichte sich die Debatte um Jasenovac.



 

Serbien

Ewige Opfer

Ab Mitte der 80er Jahre setzte in Serbien ein radikaler Prozeß der Umkodierung der Vergangenheit ein, und eine serbisch-nationale, häufig religiös aufgeladene Metaphorik entstand. Der Wende in die Katastrophe ging eine Phase voraus, in der es zu einer Neubewertung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges kam. Höhepunkt war das Erscheinen des sogenannten Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften von 1986. Es beschwor den „physischen, politischen, rechtlichen und kulturellen Genozid an der serbischen Bevölkerung in Kosovo und Metohija“.
Angesichts der Erosion der jugoslawischen Gründungsmythen kämpften die Träger dieser geistigen Wende um die Durchsetzung einer neuen Deutungshoheit unter ethnonationalem Vorzeichen. Der „Kroate“ Tito wurde nun für viele Übel und Leiden verantwortlich gemacht, die Serben während des Zweiten Weltkriegs und danach erlitten hatten: für die Verunglimpfung der Četniki und ihres Führers Draža Mihailović und vor allem für die „Dreiteilung Serbiens“. Der Abriß des Tito-Denkmals in Titovo Užice 1991 schuf symbolisch Raum für die „Wiederauferstehung“ von Titos Todfeind, des „Kriegsverbrechers“ Mihailović, der jetzt in das Pantheon serbischer Nationalhelden einrückte.
In der Atmosphäre einer sich ausbreitenden Paranoia wurden insbesondere die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die Beziehungen zwischen Serben und Kroaten, Serben und Albanern sowie Serben und bosnischen Muslimen neu kodiert.

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Četnik-Symbole prägten den öffentlichen Raum und dienten zur Ausstattung postjugoslawischer Krieger. Die Postkarte „Pozdrav sa Ravne Gore“ zeigt einen Krieger in „typischer“ Četnik-Kostümierung, gekleidet in die (rest)jugoslawische Uniform der 90er Jahre. Die Darstellung des „Neo-Četniks“ drehte die Negativ-Stereotypen der kommunistischen Propaganda (Fellmütze und Vollbart) ins Positive um.

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Die Mihailović- und Četnik-Renaissance und der Milošević-Sozialismus kamen der Stimmung vieler Menschen entgegen. Sie nahmen ihnen die Angst vor dem Systemwechsel mit seinen sozialen Konsequenzen. Sie boten einen emotionalen Ersatz für die aufgebrauchten Ideale der Tito-Zeit und lieferten eine simple Erklärung für die Misere des Serbentums. Der Plan von Großserbien und dessen ethnischer Säuberung erhielt durch den Zerfall Jugoslawiens höchste Aktualität.
Die westserbische Ravna Gora mit einem 1992 errichteten Mihailović-Denkmal von Dragan Nikolić wurde bald zu einem beliebten Pilgerort für serbische Nationalisten, wie den Schriftsteller und Führer der „Serbischen Erneuerungs-bewegung“, Vuk Drašković. Das Presseorgan des Mihailović-Kultes, die Zeitung Srpska Reč zeigt, nicht nur mit diesem Titel vom Denkmal, wie die Medien an der Entstehung nationaler Mythen beteiligt sind.

   
 
   
 
   
   
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