Deutsches Historisches Museum - Verf�hrung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945 - Blog

13.11.2012
17:17

Die Dienstagsfrage, Part III

Die Räume der Ausstellung heißen „Die Revolution sind wir“, „99 Cent“, „Hundert Jahre“ oder „Realismus des Politischen“. Ein Raumtitel, über den nicht nur Besucher, sondern auch einige unserer Mitarbeiter gestolpert sind, ist der des dritten Raumes „Die Reise ins Wunderland“. Die Werke, die in diesem Raum zu sehen sind, reichen von Damien Hirsts „Dead End Jobs“ zu Anselm Kiefers „Heroische Sinnbilder“, Günther Ueckers „Kriegssarg“ und Armandos „Schuldige Landschaft“. Sie thematisieren den Umgang mit der Erinnerung – vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg.

Aber warum handelt es sich dabei um ein Land zum Wundern?  

Ausstellungsansicht "Reise ins Wunderland"
Günter Uecker "Kriegssarg (Antwort an Marinetti)", 1968 & Armando "Schuldige Landschaft", 1987
Ausstellungsansicht "Reise ins Wunderland"
Anselm Kiefer Sechs Bilder aus der Serie "Besetzungen", 1969
Christian Boltanski "Das Gymnasium Chases 1931" in der Ausstellung
Christian Boltanski "Das Gymnasium Chases 1931", 1987 Wien // museum moderner kunst stiftung ludig, Österreich

Unsere Kuratorin Monika Flacke über die Gedanken hinter dem Titel des dritten Raumes:

„Die „Reise ins Wunderland“ bezieht sich auf die vorherigen Ausstellungen mit dem Titel „Mythen der Nationen“. Der Titel ist für diese Ausstellung mit Bedacht gewählt und soll provozieren. Wir stellen in diesem Kapitel die kühne These auf, dass die Geschichtserzählungen sobald es um Erinnerungen geht, ein Land zum Wundern werden.

Zum besseren Verständnis dieses Kapitels werde ich versuchen eine historische Einordnung zu Geschichtskonstruktionen zu geben. Die meisten Werke in diesem Kapitel beschäftigen sich mit der Frage der Erinnerung. Fast alle Künstler fragen, wer die Täter im Zweiten Weltkrieg waren und wie an sie erinnert worden ist nach 1945. Die Künstler misstrauen der Erinnerung. Sie sehen, dass die Mehrheit der Deutschen, die den Krieg begonnen hatten, sich ihre Schuld nicht eingestanden, sich als verführt oder unschuldig begriffen, sich als antifaschistische Widerstandskämpfer in der DDR verstanden.

Zwar gab es in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an eine Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, die jedoch über lange Zeit von Minderheiten getragen wurde. Filme wie „Die Mörder sind unter“ waren bekannt, „Das Tagebuch der Anne Frank“ war 1950 erschienen, trotzdem kam erst mit dem Frankfurter Ausschwitz-Prozess am 20. Dezember 1963 eine Wende in die Geschichtsdebatte, eine Wende in die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Heute spricht man von Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Kunst hat dieses Eingeständnis nicht nur begleitet, sondern auch erzeugt.

Der Film „Die Mörder sind unter uns“ ist ein frühes Beispiel und ich empfehle wirklich, diesen Film anzuschauen. In der Bildenden Kunst kann „Onkel Rudi“ von Gerhard Richter aus dem Jahr 1965 als Markstein bezeichnet werden, stellt dieses Bild doch ein Problem zur Diskussion, das erst 30 Jahre später in den Erinnerungsdiskurs Aufnahme finden wird. Gezeigt wurde dieses Bild in Zusammenhang einer Ausstellung, die der Berliner Galerist René Block 1967 organisiert hatte. Block hatte 21 Künstler aufgefordert je ein Werk für die Ausstellung „Hommage à Lidice“ zur Verfügung zu stellen neben Beuys, Dieter Roth, Wolf Vostell, Günther Uecker oder Gotthard Graubner beteiligte sich eben auch Gerhard Richter. Die Werke wanderten als Geschenk an das in Prag befindliche Museum Lidice.

Gerhard Richter zeigt nicht nur eine verschwommene Figur seines Onkels, nämlich Onkel Rudi, der in Wehrmachtsuniform erscheint, er thematisiert mit seinem Bild auch ein Problem, über das bis dahin in der Bundesrepublik nicht gesprochen worden war. Nämlich, dass die als sauber geltende Wehrmacht an Massenmorden beteiligt war oder gewesen sein könnte. Dies bedeutet nicht allein, dass Wehrmachtsangehörige Massenmörder gewesen sein können, sondern auch, dass der Massenmörder unser Onkel, der Bruder des Vaters oder der Mutter gewesen sein kann, also zur Familie gehörte. Erst 1995 wird diese Erkenntnis durch die Ausstellung „Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 44“ öffentlich diskutiert. Dazwischen liegen 30 Jahre.

Sie sehen, Geschichte ist ein Wunderland und Künstler tragen zur Konstruktion oder Dekonstruktion dieser Wunderländer bei.“

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