DIE MEROWINGERZEIT UND DIE CHRISTIANISIERUNG DER ALAMANNEN
IN DEN SCHRIFTLICHEN QUELLEN
 
  Die Objekte und Informationen, die uns die Reihengräber der Alamannen und anderer Germanenvölker bieten, sind um so willkommener, als die schriftliche Überlieferung in den Jahrhunderten nach dem Untergang des römischen Reiches nur spärlich fließt. Man hat die Zeit der fränkischen Merowingerkönige (482 bis 751) auch die "dunklen Jahrhunderte" genannt. Wie die antiken Prachtbauten langsam dem Verfall preisgegeben wurden, so verkümmerten nach und nach klassische Bildung und Schriftlichkeit. Die Kirche, die als einzige Institution aus römischer Zeit den Wirren der Völkerwanderungszeit einigermaßen standhielt, zog das Bildungswesen an sich. Christliche Vorstellungen bestimmten auf Jahrhunderte Inhalt und Geist der literarischen Produktion. Die wenigen schriftlichen Zeugnisse des frühen Mittelalters sind in einem barbarischen Latein und in krauser Schrift überliefert. An Umfang, Qualität und in Stil und äußerer Form sind sie weder mit den Schriftquellen der römischen Kaiserzeit noch mit jenen des künftigen Frankenreichs unter Karl dem Großen zu vergleichen. Gleichwohl entnehmen wir ihnen die Namen und Aktionen der politisch Handelnden und verschaffen uns aus ihnen ein Bild von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur jener Zeit.

1. Die Schriftquellen der Merowingerzeit

Unsere Erkenntnisse über das frühe Frankenreich verdanken wir im wesentlichen einem der einflussreichsten Männer Galliens: dem Politiker und (seit 573) Bischof Gregor von Tours (538139-593194). Gregor, der aus galloromanischer Familie senatorischen Standes stammte, wurde mit seiner Historia Francorum (bzw. "Decem libri historiarum" oder "Historiae") der Historiker der Franken in der Zeit der Merowinger. Vielfach gestützt auf mündliche Überlieferung, erzählt er in schlichtem Vulgärlatein und bunt durcheinander politisch hochinteressante wie unbedeutende Geschichten. An heils- und kirchengeschichtlichen Kategorien orientiert, berichtet er zwar nicht unparteiisch, aber insgesamt verlässlich. In der Erinnerung leben vor allem die brutalen Auseinandersetzungen im merowingischen Königshaus, speziell das blutige Wüten der Königin Brunichilde, fort. Die zehn Bücher Gregors sind aber zugleich eine wahre Fundgrube für die Kulturgeschichte. Die Bandbreite der Themen reicht von Tisch- und Trinksitten, Krankheiten, Wunderglauben über Handel und Verkehr, das Maß- und Münzwesen bis hin zu Eigentumsdelikten und Selbstmordfällen. Insbesondere die Informationen über den Reichtum merowingischer Großer, die Ausrüstung der Krieger, Kleidung und Schmuck und die Begräbnissitten können die archäologischen Ergebnisse ergänzen, aber auch problematisieren und zu neuen Fragen anregen.
Die Wechselfälle des Merowingerreichs nach dem Tod Gregors sind lediglich dürftigen geschichtlichen Aufzeichnungen in Burgund zu entnehmen. Von dort stammen auch die ersten beiden Verfasser des sogenannten Fredegar, der wichtigsten (anonymen) Chronik für die ersten Jahrzehnte des 7. Jahrhunderts. Wieder vergeht ein halbes Jahrhundert ohne Geschichtsschreibung im engeren Sinn, bevor um 726/27, kurz vor dem Ende der Merowingerherrschaft, das recht dürftige "Buch der Frankengeschichte" vollendet wird.
Der Hauptteil der literarischen Quellen des Merowingerreiches ist in der großen Quellensammlung der Monumenta Germaniae Historica ediert. Die obengenannten Werke sind in den ersten beiden Bänden der "Scriptores rerum Merowingicarum" abgedruckt. Allein 51/2 von den 7 Bänden dieser Reihe enthalten die außergewöhnlich zahlreichen Heiligenlegenden. Viele dieser Viten, die im 6. Jahrhundert vornehmlich Bischöfe im romanischen Gallien, im 7. Jahrhundert vermehrt irische Missionare verherrlichen, enthalten zumindest einen historischen Kern, einige sind auch für übergeordnete Fragen ergiebig. So berichtet etwa die Lebensbeschreibung des Bischofs Cäsarius von Arles (gest. 542) nebenher über die Anfänge der Frankenherrschaft in Gallien. Andere wie z. B. die Vita des Bischofs Gaugerich von Cambrai (gest. 326/27) bieten eine Fülle aufschlussreicher Details über die Sittengeschichte, das religiöse Leben und die Alltagswelt. In der Regel sind die Viten aber bloße Lobreden auf die jeweiligen Titelhelden, wollen mit ihren Wundergeschichten mehr erbauen als informieren und sind in der Regel erst sehr viel später, zum Teil erst Jahrhunderte nach dem Ableben der Heiligen, verfasst oder auch gefälscht worden.
Historisch gewichtiger sind zweifellos die Sammlungen von Briefen der Merowingerzeit, unter denen jene des Bischofs Desiderius von Cahors (630-655) herausragt. Die Königs- und Privaturkunden der Merowingerzeit wurden im Gegensatz zu den erzählenden Quellen von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt. Die mittlerweile bekannten 630 Urkunden liegen zum Teil in veralteten Editionen vor. 38 Königsurkunden haben sich noch im Original oder in einer Kopie aus der Zeit vor 800 erhalten. Darunter befinden sich auch 24 sogenannte Placita, die Gruppe der königlichen Gerichtsurkunden. Die wichtigsten Urkundenbücher der Klöster (z. B. St. Gallen) setzen freilich erst gegen Mitte des 8. Jahrhunderts ein. Wertvolle Ergänzungen zu den Urkunden bieten Formelsammlungen für Rechtsgeschäfte aller Art. So enthält die bekannteste dieser Sammlungen, die der fränkische Mönch Marculf um 650 zusammenstellte, Beispiele für die Einsetzung von Bischöfen und Grafen, für Erbverträge oder auch für die Freilassung von Sklaven.
Besondere Aufmerksamkeit haben einige Testamente der Merowingerzeit gefunden, und zwar nicht nur als Beleg für die Übernahme einer römischen Urkundenform im frühen Mittelalter, sondern auch als wirtschafts- und sozialgeschichtliche Quelle ersten Ranges. Das "Prachtstück" unter den zwölf überlieferten Exemplaren ist das Testament des Bischofs Berthramn von Le Mans vom 27. März 616. Das ausführliche Legat (über 30 reine Druckseiten) eines der reichsten Großgrundbesitzer seiner Zeit nennt mehr als 120 Besitztitel in Neustrien, Aquitanien, Burgund und in der Provence. Man erfährt die Namen der Voreigentümer, oft etwas über die Bewirtschaftungsform, manches über Berthramns Leben, seine Familie, die Hintersassen und die politischen Verhältnisse. Längst bekannt und gedruckt, aber ebenfalls noch unzureichend erforscht sind die Beschlüsse der unregelmäßig einberufenen Reichs- und Provinzialkonzilien, die für die Kirchenverfassung und das kirchliche Leben im Frankenreich aufschlussreich sind. 27 von 62 genauer überlieferten Konzilien haben ihre Entscheidungen in Form von Kanones abgefasst, die sich in Kanonessammlungen, erzählenden Quellen sowie Briefen und Urkunden finden.
Die erwähnten erzählenden und urkundlichen Quellen sind auf ehemals gallorömischem Boden, im Kerngebiet des merowingischen Reiches, dem heutigen Belgien und Nordfrankreich, entstanden. Rechts des Rheins trifft man erst gegen Mitte des 8. Jahrhunderts auf entsprechende schriftliche Zeugnisse. Eine Ausnahme bilden allerdings wichtige Rechtsaufzeichnungen, die zur Gruppe der sogenannten germanischen Volksrechte gehören. Keine Quellengattung jener Zeit dürfte jedoch in der Forschung so kontrovers diskutiert und so unterschiedlich beurteilt worden sein wie die Leges der Ost- und Westgoten, Burgunder, Franken, Alamannen, Bayern und Langobarden, um nur die älteren zu nennen. Umstritten sind die Datierung und die Entstehung dieser Leges, die zum großen Teil nur in späteren Handschriften des 8.-12. Jahrhunderts überliefert sind. Unterschiedliche Standpunkte gibt es ferner über die Genese der Einzelbestimmungen, den Geltungsbereich, über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Volksrechte untereinander, über ihr Verhältnis zum ungeschriebenen Recht und über die praktische Durchsetzung dieser Vorschriften. Die Debatte um die grundsätzliche Bewertung der "Germanenrechte" hält an, auch wenn dem Streit die ideologischen Beimischungen der Jahre 1933-1945 fehlen, als man über die Volksrechte auf direktem Weg zum Recht der germanischen Frühzeit gelangen wollte.
Die Rechte der Alamannen beispielsweise sind in einer älteren, bruchstückhaft überlieferten Redaktion wohl der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts (Pactus Legis Alamannorum) und in einer jüngeren Version erhalten, die vermutlich zur Zeit Herzog Lantfrids (712-25) redigiert wurde (Lex Alamannorum). Diese letzte Redaktion spiegelt in der Gliederung (Kirchensachen; Herzogssachen; Volkssachen) wie in den Bußbestimmungen zugunsten des Kirchenguts und der Kleriker die privilegierte Stellung der Kirche wieder (siehe unten). Der Bußenkatalog im 3. Teil über die Volkssachen erlaubt auch kulturhistorisch interessante Einblicke in Wohnweise, Lebensstil der führenden Schicht, Grenzstreitigkeiten, Eherecht, Schadensersatzregelungen, Hexenwesen und Totenkult. Die scharfe Bestrafung von Grabräubern etwa deckt sich mit den Befunden der Archäologen, die auf zunehmende Beraubungen der Reihengräber seit der Mitte des 7. Jahrhunderts stoßen (Anhang Nr. 3). Die abgestufte Bemessung des Wergeldes lässt die (oder besser eine) soziale Schichtung des alamannischen Volkes in Freie (ingenuus), Halbfreie (litus) und Unfreie (servus) mit zahlreichen Übergängen erkennen. Eine dementsprechende Aufteilung der Gräber nach ihren Beigaben ist allerdings nicht möglich. Die Alamannenrechte geben im übrigen kaum genuin alamannische Zustände und Lebensformen wieder, sondern sind im Rahmen der gesamten fränkischen Gesetzgebung zu sehen und wohl auch vom weströmischen Vulgarrecht beeinflusst.

2. Die Christianisierung der Alamannen


Der Überblick über wichtige Quellengattungen und ausgewählte Zeugnisse der Merowingerzeit mag andeuten, dass es um die schriftliche Überlieferung doch nicht ganz so schlecht bestellt ist, wie man zunächst meinen könnte. Sobald man sie jedoch auf bestimmte Einzelprobleme hin befragt, wird sofort deutlich, wie unzulänglich und lückenhaft sie ist. Was sagen die Schriftzeugnisse etwa über einen wesentlichen Aspekt unserer Ausstellung und ein zentrales Problem der interdisziplinären Forschung, nämlich die Christianisierung der Alamannen (und übrigen Germanenvölker) aus? Strenggenommen setzt der Prozess, der hier nur grob skizziert werden kann, Ende des 5. Jahrhunderts ein. Denn die Missionierung der "Alamannen" - oder vorsichtiger des alamannischen Raums - ist zeitlich und inhaltlich von der vorausgehenden Bekehrung der Franken nicht zu trennen. Wie die Christen in Gallien vor den Eroberungszügen der Merowinger lebten, wissen wir nicht genau. Vergeblich hält man Ausschau nach einer Quelle wie der Vita des asketischen Wanderpredigers, Missionars und Bischofs Severin von Noricum, die einen beispiellosen Einblick in die Geschichte der bereits christlichen römischen Donauprovinzen kurz vor ihrer Vernichtung in der Völkerwanderungszeit gewährt.
Nachdem der Frankenkönig Chlodwig den römischen Patricius Syagrius 486 vertrieben und sein Reich bis an die Loire ausgedehnt hatte, stand eine Mehrheit christlicher Romanen den heidnischen Franken im Norden gegenüber. Mitten im Getümmel der berühmten Alamannenschlacht (496/97) bekehrte sich Chlodwig im Vertrauen auf den Christengott, dem er seinen Sieg zuschrieb, zum katholischen Glauben. An einem Weihnachtsfest (498/99?) ließ er sich zusammen mit über 3000 Getreuen (in Reims) von Erzbischof Remigius taufen, dessen Ansprache in dem Satz gipfelte: "Demütig neige den Nacken, Sigamber; bete an, was du verbrannt hast, und verbrenne, was du angebetet hast!" So berichtet es Gregor von Tours mehr als 70 Jahre später, schon in sagenhafter Ausschmückung und christlich-biblischer Stilisierung (Anhang Nr. 1). Sieht man von den späteren Heiligenlegenden ab, gibt es neben dieser klassischen Version nur noch zwei weitere ernstzunehmende Zeugnisse, die dem Geschehen zudem näherstehen als Gregors Historien: den Brief des Bischofs Avitus von Vienne, also eines Zeitgenossen, an den Frankenkönig, dem er zu der feierlichen Taufe und damit auch zum Sieg des Katholizismus über den Arianismus gratuliert, und ferner einen Brief des Bischofs Nicetius von Trier (ca. 565) an eine Enkelin Chlodwigs, die Langobardenkönigin Chlodoswinda. Dort findet sich ein kurzer Hinweis auf die Bekehrung des Merowingerkönigs. Der Bischof hebt die Überzeugungskraft der christlichen Gemahlin des Königs, Chrodechilde, hervor, erwähnt dagegen die Alamannenschlacht mit keinem Wort. Je schmaler die Quellenbasis, desto eifriger die Diskussion der historischen Forschung: Mehr als 50 Monographien, Zeitschriftenartikel und Beiträge in Sammelwerken haben sich mit der Bekehrung und Taufe Chlodwigs ausführlich auseinandergesetzt. Die Kontroversen drehten sich im wesentlichen um das Jahr, den Ort und die Umstände der Taufe Chlodwigs und um die Gewichtung der Quellen. Einig ist man sich darüber, dass sich Chlodwig sicher nicht aus tiefer religiöser Einsicht, aber doch aus persönlicher Entscheidung, vor allem aber aus innen- wie außenpolitischem Kalkül und vermutlich angezogen durch die mit dem Christentum verbundene antike Kultur für den katholischen Glauben entschied.
Die spektakuläre Staatsaktion des Merowingerkönigs ebnete dem Christentum im Frankenreich den Weg, mehr aber auch nicht. Die Taufe war nicht der Abschluss, sondern der Anfang der inneren Mission. Es sollte noch bis weit ins 7. Jahrhundert hinein dauern, bis die Franken in Gallien und am Rhein sich zum christlichen Glauben bekannten und auch danach lebten. Das bezeugt eine Vielzahl von Hinweisen in den Viten und den Synodalbeschlüssen jener Zeit. So ließ etwa der oben erwähnte Bischof Gaugerich von Cambrai Ende des 6. Jahrhunderts ein heidnisches Heiligtum in seinem Sprengel abreissen und an dessen Stelle eine Kirche errichten. Heidnische Opfermahlzeiten, die Beobachtung des Vogelflugs, den Eid über dem Kopfe eines Tieres, die Verehrung von Felsen, Bäumen und Quellen und andere Gewohnheiten gab man nur zögernd und ungern auf.
Das galt, glaubt man den spärlichen einschlägigen Quellen, in besonderem Maße für die Alamannen. Diese waren nach dem erfolglosen Aufstand von 506 (?) bzw. nach der Übergabe des "gotischen Alamannien", d. h. ungefähr des Gebietes der heutigen Schweiz (536), endgültig unter fränkische Herrschaft geraten und damit direkt auch christlichen Einflüssen ausgesetzt. Von einer erzwungenen Bekehrung der Alamannen oder einem offiziellen Beitritt ihrer Herzöge ist freilich nichts bekannt.
Kronzeuge der Auffassung von der Hartnäckigkeit der heidnischen Alamannen ist der byzantinische Geschichtsschreiber Agathias (um 536-579/582). Der in Myrina in Kleinasien geborene und in Alexandrien und Konstantinopel ausgebildetete Jurist schilderte um 570 in fünf Büchern die Geschichte des oströmischen Kaisers Justinian für die Jahre 552-559. Pikanterweise geht ausgerechnet dieser Mann, der vermutlich nie Italien oder den übrigen Westen bereiste, als einziger der Autoren des 6. Jahrhunderts etwas ausführlicher auf die Lebensweise, die Sitten und die Religion der Alamannen ein. So differenziert er, als er die Beutezüge eines fränkisch-alemannischen Heeres unter den Alamannenherzögen Leutharis und Butilinus 553/54 in Süditalien beschreibt, das Auftreten der beiden Heeresteile: Die Franken im Heer hätten, da sie wie die Römer rechtgläubig seien, die heiligen Stätten geschont, während die Alamannen, die anderen Glaubens seien, die Gotteshäuser zerstört und beraubt und die heiligen Bezirke durch Mordtaten entweiht hätten. Man hat verschiedene quellenkritische Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit dieser Angaben vorgebracht: Agathias trenne nur an dieser Stelle, und nicht bei der Erwähnung weiterer Greueltaten, zwischen Franken und Alamannen. Wer von seinen Gewährsleuten in Süditalien habe schon zwischen den Angehörigen beider Völker zu unterscheiden gewusst? Auch die Kriegslogik spreche dagegen, dass sich ein Teil der Truppe von Plünderung und Raub zurückhalte. Die interpretatorische Absicht des Autors sei es offenbar, das schändliche Tun des Heeres unter Zuhilfenahme anderer Nachrichten zu erklären.
Die Episode sei also nicht glaubwürdig, allenfalls sei ihr zu entnehmen, dass man damals die Alamannen nicht für orthodoxe Christen gehalten habe. Über die religiösen Bräuche der Alamannen hat sich Agathias zuvor in einem kurzen eingeschobenen Exkurs geäußert, wobei er nach eigener Angabe dem Asinius Quadratus folgt, "einem Mann aus Italien, der die Geschichte der Germanen sehr sorgfältig beschrieben hat". Demnach verehrten die Alamannen bestimmte Bäume, Flußläufe, Hügel und Schluchten und opferten diesen Pferde, Rinder und andere Tiere, indem sie die Opfertiere enthaupteten (vgl. Anhang Nr.2). Weiter berichtet der byzantinische Chronist vom staatlichen Leben der Alamannen, von den Einsichtigen unter ihnen, die bereits Christen geworden seien, und von anderen, die es bald werden würden. Sollte er auch hier - nicht viel anders als Gregor von Tours bei seinem Urteil über die Vorstellungen und Praktiken der Franken vor der Taufe Chlodwigs - nur "bestimmten Kenntnissen über bodenständige Kulte der germanischen Völker eine feste inhaltliche Form" gegeben und diese an passender Stelle eingesetzt haben? Möglicherweise knüpft er an die antike Tradition ethnographischer Exkurse an und schöpft gerade für diese Partien aus dem zitierten Asinius Quadratus, der um 200 schrieb.
Die Auslassungen des Agathias über die Alamannen mögen also in verschiedener Hinsicht fragwürdig sein. Doch selbst wenn man ihnen nicht traut und auch nicht an den schon von den Römern beklagten besonders entwickelten "Alamannentrotz" glaubt, so sprechen doch schon Rahmenbedingungen eher dafür, dass die Christianisierung bei den Alamannen schleppender voranging als bei den Franken. Es sei nur daran erinnert, dass rechts des Rheins die kirchliche "Infrastruktur" kaum ausgebildet war: Es wurden dort nach der Eingliederung ins Frankenreich keine neuen Bischofssitze eingerichtet. Keines der überlieferten 62 Konzilien wurde an den alten Bischofsorten Trier und Köln abgehalten. Noch im 6. Jahrhundert war der Osten (Galliens) im Vergleich zum Westen des Reiches arm an Klöstern. Nicht zufällig sind fast sämtliche der bislang erschlossenen gut 50 vorkarolingischen Kirchenbauten des Südwestens auf dem Boden der alten Romania nachzuweisen und früher zu datieren als die wenigen Steinkirchen im heutigen Baden-Württemberg aus der Zeit um 700.
Der Durchbruch in der Christianisierung der Alamannen gelang erst lange nach der Eingliederung ins Frankenreich. Offenbar erfolgte er in zwei Etappen: zu Beginn des 7. und dann wieder am Anfang des 8. Jahrhunderts. Das legen jedenfalls die spärlichen diesbezüglichen Nachrichten nahe. Entscheidenden Anteil an der Missionierung hatten die irischen Wandermönche. Einer der bedeutendsten unter ihnen, Columban (um 543-615), der bereits in den Vogesen Luxeuil und zwei weitere Klöster gegründet hatte, ließ sich um 610 eine Zeitlang am Bodensee nieder. Bei seiner Ankunft in Bregenz hatte er noch mitansehen müssen, wie Christen und Heiden gemeinsam dem Gott Wotan ein Bieropfer darbrachten (Anhang Nr. 4). So berichtet es Jonas, Mönch in Bobbio aus dem piemontesischen Susa, in der Vita Columbans "einem der besten Heiligenleben des frühen Mittelalters" (Brunhölzl). Als Columban 612 ins langobardische Italien aufbrach, ließ er seinen Begleiter, den Einsiedler Gallus (+ um 650), zurück, der das Missionswerk fortsetzte und nach seinem Tod in seiner Zelle, dem späteren Kloster "St. Gallen" beigesetzt wurde. Weniger deutlich wird das Wirken anderer Missionare (Fridolin, Trudbert, Landelin). Generell bestätigen die (legendären) Erlebnisse und Wundertaten in den Viten dieser frommen Männer den Eindruck eines Synkretismus heidnischer und christlicher Vorstellungen, wie er sich auch in den ausgestellten Grabbeigaben zeigt. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts oder in der Zeit König Dagoberts I. (629-638) entstand schließlich das ausgedehnte Bistum Konstanz, das zum "Alemannenbistum schlechthin" (Ewig) wurde.
Hundert Jahre später scheint das Christentum im alamannischen Siedlungsraum bereits ziemlich fest etabliert: Die oben besprochene, 712-725 redigierte Lex Alamannorum aus der Zeit Herzog Lantfrids trägt - anders als der ältere Pactus Alamannorum, der kaum christliche Elemente enthält - eindeutig christliche Züge: Sie dringt auf Arbeitsruhe am Sonntag, droht für den Mord an Klerikern besonders harte Strafen an, fordert den Eid auf Reliquienkästen, wendet sich aber zugleich gegen Kirchdiebstähle, Mordtaten innerhalb der Kirche und gegen den offenbar unausrottbaren Dämonenglauben. Pirmin, der "Apostel Alemanniens" (+ wohl 735), gründete 724 das Kloster Reichenau; falls er sein Missionsbüchlein ("Scarapsus") nicht schon aus dem westlichen Frankenreich mitgebracht hat, dürfte er der "älteste namentlich bekannte Schriftsteller im Alemannischen" (Brunhölzl) sein. Die Redaktion des Alamannenrechts wie die Schrift und das Wirken Pirmins vermitteln denselben Eindruck: "In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts war in Alamannien für eigentliche Missionsarbeit nicht mehr Platz, für Arbeit der Kirche dagegen noch sehr viel" (Hauck). Das Fazit dieses notwendigerweise sehr kursorischen Überblicks liegt auf der Hand: Allein mit dem groben Raster der schriftlichen Überlieferung sind die allmählichen und regional unterschiedlichen Fortschritte der Alamannenmission nicht zu erfassen. Stärker als bei der Beschäftigung mit anderen Epochen ist man bei diesem wie bei anderen Aspekten der Zeit des 5.-8. Jahrhunderts auf die Mitarbeit und die Ergebnisse anderer Disziplinen angewiesen, namentlich der Archäologie, Philologie, Namens-, Siedlungs- und Patrozinienkunde.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
   
 
Heinrich Dormeier
 
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