Zeughauskino

 

Kino im Zeughaus | Programm | Programmarchiv

 


    ICH SEHE DICH AN!

 

ICH SEHE DICH AN!

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER IM DEUTSCHEN
UND FRANZÖSISCHEN FILM

In Begleitung und Ergänzung der Ausstellung FREMDE? BILDER VON DEN ‚ANDEREN’ IN DEUTSCHLAND UND FRANKREICH SEIT 1871, die noch bis zum 31. Januar im Deutschen Historischen Museum zu sehen ist, bietet das Zeughauskino eine Filmreihe zum migrantischen Kino aus Deutschland und Frankreich an. Im Mittelpunkt der Reihe ICH SEHE DICH AN! stehen Bilder und Vorstellungen, die von den Migrantinnen und Migranten selbst entworfen worden sind, ihre Formen und Strategien, die eigene Lebenswelt für sich, aber vor allem auch für die Anderen – die Mehrheitsgesellschaft – in Bilder und Töne zu fassen. Die Filmreihe integriert unterschiedliche Formen dieser Selbstbeschreibung. Sie berücksichtigt das für die Geschichte des türkisch-deutschen Kinos so wichtige, frühe „Kino der Fremdheit“, in dem das Schicksal der Migranten in erster Linie als eine existentielle Erfahrung der Isolation oder Ausgrenzung erscheint. Im Gegensatz dazu liefert das neuere „Kino der Métissage“ Beschreibungen eines Alltags in zwei oder gar mehreren Kulturen, Lebensentwürfe, die einen transnationalen Raum eröffnen, und Erzählweisen, die die klassischen Vorstellungen von Familie, Geschlecht und Identität unterlaufen. Komplettiert wird die Reihe durch einige Filme über fremde Lebenswelten, die zwar teilweise unter Mitwirkung von Migranten entstanden sind, die aber vor allem die Diskurse der deutschen oder französischen Mehrheitsgesellschaft pflegen.

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Gölge – Zukunft der Liebe
BRD 1980, R/B: Sema Poyraz, Sofoklis Adamidis, K: Sofoklis Adamidis, Asil Basyildiz, D: Semra Uysal, Birgül und Yüksel Topçugürler, 97’      DF mit türk. UT

Das Kammerspiel beschreibt die erwachende Sexualität der Schülerin Gölge, Tochter türkischer Einwanderer. Sie versucht, im Berlin-Kreuzberg der 1970er/1980er Jahre zwischen migrantischer und deutscher Lebenswelt einen eigenen Platz zu finden. Ihr Traum ist es, Schauspielerin zu werden. In der klaustrophobischen Beengtheit der Zweizimmerwohnung, in der die vierköpfige Familie lebt, herrscht der alles übertönende Fernseher, der Gölge nicht erlaubt, sich auf die Schularbeiten zu konzentrieren. Um an den Partys ihrer Mitschüler teilzunehmen, startet Gölge komplizierte häusliche Intrigen. Ihre ersten Flirts finden unter allgegenwärtiger sozialer Kontrolle statt. Die Erschöpfungen, Zärtlichkeiten und Kabbeleien der Eltern, die Männer- und Frauengespräche sind mit Anteil nehmender Ambivalenz gezeichnet. Am Schluss packt Gölge ihren roten Koffer und die Schlafcouch im Wohnzimmer bleibt in Zukunft leer. Ein selten gezeigter Gründungsfilm des türkisch-deutschen Kinos, der in seiner konzeptionellen Strenge und in der Darstellung von Gesellschaft als dauerndem Aushandlungsprozess wie in der sympathisierenden Inszenierung der sexuellen Phantasien der erwachsen werdenden Gölge einen neuen Weg beschreitet.

am 2.1.2010 um 19.00 Uhr
am 3.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Le thé au harem d’Archimède
Tee im Harem des Archimedes

F 1985, R: Mehdi Charef, D: Kader Boukhanef, Rémi Martin, Laure Duthilleul, Saïda Bkouche, 110’ OmU

Majid lebt bei seiner algerischen Familie, der Vater ist traumatisiert und schweigt, die Mutter arbeitet und versucht verzweifelt, die Familie zusammenzuhalten. Sein französischer Freund Pat wohnt auch im Sozial-Plattenbau und beide vertreiben sich ihre arbeitslose Zeit mit Klauen, Zuhälterei, Überfällen auf Schwule und sich bietendem Sex. Die episodische Erzählung lässt unterschiedliche Subjektpositionen zu. Prägender als die ethnische Herkunft ist die Klassengeschichte. Mitte der 1980er Jahre organisierten in Frankreich junge Migrantinnen und Migranten landesweit Demonstrationen, um auf ihre politisch und rechtlich ungesicherte Situation und den wachsenden Rassismus aufmerksam zu machen. 1983 erschien Mehdi Charefs Roman Le thé au harem d’Archi Ahmed, 1985 hatte die Verfilmung des Romans über 500.000 Kinozuschauer. Dieser Schlüsselfilm des cinéma beur, nach dem Pariser Slang-Ausdruck für maghrebinische, arabische Einwanderer und deren zweiter Generation, wurde von Costa-Gavras Ehefrau Michèle Ray produziert. Auch in Le thé au harem brennen die Autos. Und in einem Agit-Prop-Stück wird gegen die Ermordung eines Nordafrikaners protestiert.

am 2.1.2010 um 21.00 Uhr
am 6.1.2010 um 20.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Die vergessene Generation
D/E 2006, R/B: Ainhoa Montoya Arteabaro, 90’ Spanisch mit dt. UT, Beta SP

Seit den 1950er Jahren gingen über zwei Millionen Spanierinnen und Spanier in der Folge franquistischer Modernisierungsbemühungen, des Zusammenbruchs des Landwirtschaftssektors und einer immensen Landflucht nach Westeuropa. Bevorzugte Zuwanderungsländer waren Frankreich, die Schweiz und die Bundesrepublik. 1960 versuchte die spanische Regierung, über offizielle Anwerbeverträge und das staatliche Auswanderungsinstitut, diese Migration zu steuern und Facharbeiter von der Abwanderung abzuhalten, woraufhin viele den offiziellen Weg umgingen und direkt über Firmenanwerbungen nach Deutschland gelangten. In ausführlichen Gesprächen entwerfen fünf „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ der ersten Generation ein Bild dieser Zeit. Alle wohnen in Hamburg und haben ihren spanischen Pass behalten. Sie erzählen von überfüllten Zügen, ärztlichen Untersuchungen, von Baracken und Wohnheimen und vom Zusammenhalt untereinander. Als ihre Kinder in die Schule kamen, haben sie den Spanisch-Unterricht selbst organisiert. Sie zeigen ihre Fotoalben mit anrührenden Bildern aus den Gemeinschaftsunterkünften und erzählen von Leichtlohngruppen und Akkordarbeit im vermeintlichen Beschäftigungsparadies Deutschland: „Es wurde gesagt, man müsse nur hierher kommen, den Beutel füllen und dann zurück. Aber so war es nicht.“ 1973 waren fast 300.000 spanische Arbeitsmigrantinnen und –migranten in Deutschland, danach nahm die Zahl ab. „Wir sind geblieben und geblieben und sind noch immer hier.“

am 3.1.2010 um 19.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Moi et mon blanc
Ich und mein Weißer

Burkina Faso/F 2003 R: S. Pierre Yameogo K: Jurg Hassler, D: Pierre-Loup Rajot, Serge Bayala, Anne Roussel, 90’ OmU

Der Politologie-Student Mamadi aus Burkina Faso bleibt seine Miete in Paris schuldig, weil sein Stipendium nicht ausbezahlt wird. Als ihn die Wirtin aus seinem Zimmer mit den Lumumba- und Che Guevara-Plakaten wirft, sucht er Hilfe bei seinem Landsmann Dr. Souleymane, der trotz seiner vielen Diplome als Wachschutzmann arbeitet. Dr. Souleymane vermittelt ihm einen Job in der Tiefgarage. Mamadi lernt dort den französischen Arbeitskollegen Franck kennen. Mit Franck verbindet ihn schnell eine entspannte Freundschaft und ein großer Geldumschlag, den zwei Dealer in der Tiefgarage geparkt hatten. Schon bald müssen die beiden verschwinden, denn die Dealer sind ihnen dicht auf den Fersen. Also reisen sie nach Burkina Faso, und umgekehrt hat nun der Franzose Schwierigkeiten mit dem Visum, tratschen die Nachbarn darüber, dass Mamadi einen Weißen mitgebracht habe und ob man dem überhaupt trauen könne. Auch wenn der Filmtitel an Jean Rouchs Moi un noir erinnert, hat die ironische Spiegelung der jeweiligen Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft doch eher Anklänge an Rouchs Petit à petit. In Paris wird Mamadi von seinem Professor geraten, den Währungsfonds nicht zu radikal zu kritisieren, und in Ouagadougou legt man ihm nahe, in die Partei einzutreten, wenn er etwas werden wolle. Karl Valentin würde sagen: „Der Fremde ist nur in der Fremde fremd.“

am 5.1.2010 um 20.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
40 qm Deutschland
BRD 1985, R: Tevfik Başer, K: Izzet Akay, D: Özay Fecht, Yaman Okay, 80’  mU

Die Kamera schwenkt durch einen engen Raum, vorbei an Fotos, dem Miniaturmodell einer Moschee, Zeitungen, einer Mokka-Kanne, Bierflaschen, Zigarettenkippen und achtlos herumliegenden Kleidungsstücken. Eine junge Frau, bunt angezogen, schaut sich um. Es ist Turna, die zu ihrem sehr viel älteren Ehemann nach Deutschland geholt wurde. Am nächsten Morgen versucht sie, den Elektroherd mit Streichhölzern anzuzünden. Fröhlich singend, putzt sie den Boden, um dann festzustellen, dass sie in der Wohnung eingeschlossen ist, „denn du kennst diese Schlawiner hier in Deutschland nicht“, meint der Ehemann.
Dieser erste populär gewordene türkisch-deutsche Film gehört zum „Kino der Fremdheit“: „Die Fremdheit ist auf die Spitze getrieben, der Blick bricht sich ganz buchstäblich an alten und an neuen Grenzen, an Mauern, die beide Seiten, die deutsche Gesellschaft und die Migranten, ziehen. Die Filme schilderten Situationen der radikalen Isolation, weniger Geschichten der Migration als existenzielle Bilder des inneren und des äußeren Exils.“ (Georg Seeßlen). Das Bild von vormodernen, traditionellen Familien- und Geschlechterverhältnissen, vom ungelernten Arbeiter/Bauer-Mann und der unterdrückten Frau ist bis heute hartnäckig präsent und wird gerne von der Mehrheitsgesellschaft funktionalisiert. All dies arbeitet Tevfik Başers Film mit großer Präzision und eindrücklichen Bildern aus.

am 8.1.2010 um 21.00 Uhr
am 10.1.2010 um 19.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Dreckfresser

D 2000, R: Branwen Okpako, K: Susanne Schüle, mit Texten von Sam Njankouo Meffire, 75’  OmeU

Sam Meffire aus Zwenkau bei Leipzig ist Sohn einer Schauspielerin aus Sachsen und eines Studenten aus Kamerun. Er wurde Polizist. Die Filmemacherin interviewt Sams Mutter über den nie aufgeklärten, mysteriösen Tod des Vaters Ende der 1960er Jahre in einem Studentenheim. „Seine Kommilitonen mochten ihn nicht, er war sehr ehrlich, und es gefiel ihnen nicht, dass er mit einer deutschen Frau verheiratet war.“ Zwei Stunden vor dem Tod des Vaters kam Sam Meffire auf die Welt. Nach den rassistischen Krawallen in Hoyerswerda 1991 vor den Wohnheimen für Asylbewerber und Vertragsarbeiter entdeckte eine Werbeagentur den Afrodeutschen als „Bilderbuch-Sachsen“ für einen provokanten Werbefeldzug. Kampagnenritter, Imageverwerter, Sensationsjournalisten und die Politik reichten sich Sam Meffire weiter, der gleichzeitig versuchte, im Polizeidienst Bewegung in den bürokratisierten Apparat zu bringen. Und irgendwann wurden ihm seine eigene Vorstellung von Recht und die Solidarität mit einem schwarzen brother wichtiger als seine Funktion als Polizist, und das Drama nahm seinen Lauf. Ein klug montierter Film, der sich mit großer Sensibilität auf die (verräterischen) Sprechweisen der Beteiligten konzentriert. „Dreckfresser. Zu viel gefressen. Nicht ausgekotzt,“ sagt ein ehemaliger Polizeikollege.

am 9.1.2010 um 19.00 Uhr
am 10.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Ich Chef, du Turnschuh
D 1998, R/B: Hussi Kutlucan, K: Lars Barthel, D: Hussi Kutlucan, Wiebke Inn, Senta Moira, Jules Gund, Özay Fecht, 95’

Der von Hussi Kutlucan gespielte Dudi ist ein armenischer Asylbewerber im Wartestand auf einem Containerschiff im Hamburger Hafen. Seine Freundin Nani – gespielt von Özay Fecht, der unterdrückten Ehefrau aus 40 qm Deutschland – hält die Situation nicht mehr aus und willigt in die Zweck-Ehe mit einem deutschen Elektriker ein, woraufhin sich Dudi nach Berlin durchschlägt und mit anderen Flüchtlingen auf der Großbaustelle am Reichstag zu arbeiten anfängt, angefeindet von den anderen „legalisierten“ und damit weniger prekären migrantischen Arbeitern. In der Disco lernt Dudi die Blondine Nina kennen, die sich von ihm die Heiratsprämie von 15.000 DM erhofft. Nachdem der Bauleiter weiterhin den Lohn schuldig bleibt, organisieren sie auf der Baustelle einen fröhlichen Party-Streik, bis die Polizei kommt und alle durch den Tiergartendschungel flüchten.
Kutlucan spielt den Dudi als einen verzweifelt gewitzten Stehaufmann, der von einer dramatischen Situation in die nächste purzelt. Er beißt auch schon mal einen Polizisten und spielt das auf ihn projizierte wilde Tier mit exzessivem Charme zurück. „Ein Schalksnarr voller Vitalität, Trauer, Zorn, Melancholie. Und ansteckend fröhlich und einfallsreich. Ein naiver Phantast. Ein unverbesserlicher Menschenfreund. Dem die Hautfarbe schnuppe ist ...“ (aus der Begründung des dreifachen Grimme-Preises 1999).

am 9.1.2010 um 21.00 Uhr / Eintritt frei

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Voyage au Congo. Scènes de la vie indigène en Afrique èquatoriale
F 1927 R: André Gide, Marc Allégret, 101’ frz. ZT

„Eine Reise durch Congo. Sensationeller Dokumentarfilm von dem weltberühmten Schriftsteller André Gide und von Marc Allégret“, so lautete die Anzeige des Weltvertriebs im Dezember 1927. Gide hatte sich wiederholt gegen den herkömmlichen Expeditionsfilm ausgesprochen. In den Jahren 1925/26 unternahmen er und sein damaliger Geliebter Marc Allégret eine lang vorbereitete Reise nach Äquatorial-Afrika und in den belgischen Kongo. Sie reisten durch den Tschad und durch Kamerun. Allégret schoss etwa zweitausend Fotos und drehte seinen ersten Film. Während sich Gide eher für die exotische Fauna und Flora interessierte, fotografierte Allégret Menschen bei ihren Alltagsverrichtungen, ihre Architektur, ihre Bekleidung, beim Tanzen, aber ohne die üblichen ethnografischen Typologien. Beider Blick trägt die zeittypische Überlagerung von primitivierenden Zuschreibungen mit den komplementären humanistischen Anklängen, auch wenn man im Werk von André Gide eine erste Kritik am Kolonialismus und dessen ökonomischem System von Firmenkonzessionen und Zwangsarbeit finden kann.
Der Filmkritiker Hans Feld schrieb: „Gide hält den Körper in allen Ausdrucksphasen fest: das Zittern der Bauchmuskulatur, die Bewegung der Rückenlinie bis zur Verlängerung, die äußerst aktiv und selbständig in den Tanz eingreift. Wo sah man das je in einem Film!“ (Filmkurier Nr. 27, 31.1.1928)

Klavierbegleitung: Eunice Martins
Einführung: Jeanpaul Goergen

am 12.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Drei Briefe
DDR 1962, R/B: Max Jaap, K: Helmut Gerstmann, Wolfgang Randel, 20’

Eine chilenische Hochzeit
DDR 1977, R: Rainer Ackermann, Walentin Milanó, 8’

Copihuito
DDR 1977, R: Günter Jordan, B: Ursula Demitter, Günter Jordan, K: Manfred Lösche, 15’

Heimkehr ins Gestern
DDR 1976, R/B: Karl Gass, 40’  DigiBeta

„Menschen überall in unserer Republik. Unter ihnen viele Gäste. Lernende, Studierende aus fremden Ländern und Kontinenten. So wie diese ehemaligen Zigarrendreher, Plantagenarbeiter, Rebellen: Kubaner. In Wismar werden sie Schiffbauer. Die Mathias-Thesen-Werft wird für drei Jahre Lehr- und Arbeitsstelle sein.“ Das ist der Tonfall des Films Drei Briefe, der Antonio aus Kuba, Julienne aus Togo, die in Dresden zur Säuglingsschwester ausgebildet wird, und die zukünftigen Fernsehtechniker Mohammed, Kasim und Suhir aus dem Irak vorstellt und ihnen DDR-begeisterte Briefe an ihre Lieben zuhause in den Mund legt. Ähnlich wie in dem Film Compañera Inge von Karlheinz Mund und Erika Nowak (1982) kann man versuchen, zwischen Bildern, Sätzen und Zeilen die wenig aufgearbeitete Geschichte der Vertragsarbeit und deren Ausbildungsprogramme zu lesen.
„Und nun bin ich bereit, Ihr Jawort entgegenzunehmen. Hiermit ist die Ehe rechtswirksam.“ Die Standesbeamtin im Kurzfilm Eine chilenische Hochzeit hat leichte Schwierigkeiten mit der Aussprache der Namen der beiden chilenischen Emigranten Alejandra und Pepe. Torten, Küsse, Tänze. Und das Bild von Salvador Allende. Die Braut im weißen Schlapphut zeigt Fotos und erzählt: „Ich habe drei Jahre in der Universität gearbeitet, dann wurde ich verhaftet und war einen Monat im Folterhaus, dann drei Monate in einem Konzentrationslager. Dann musste ich Chile verlassen und die DDR hat mir ein Visum gegeben.“ Ein fröhliches Fest, aber es gibt auch traurige Gesichter.
Eine Gruppe chilenischer Jungpioniere in Berlin diskutiert die Herstellung ihrer Pionierzeitung namens Copihuito, benannt nach der „Nationalblume“, die den Widerstand der Indígenas gegen die Konquistadoren und damit auch gegen jegliche Unterdrückung symbolisiert. 1977, als der Film entstand, lebten in Ost-Berlin etwa 10.000 chilenische Exilanten. Die jungen Zeitungsmacher, die oft nur die ersten Jahre ihres Lebens in der chilenischen Heimat verbracht hatten, wollen anderen (chilenischen) Kindern und Jugendlichen in der DDR von den Geschehnissen in Chile berichten und ihre Sprache lebendig halten. Pablo Nerudas Canto General, die Bilder des Malers César, Fähnchen, Lieder und ein fröhliches venceremos erinnern an den chilenischen Freiheitskampf nach dem Putsch gegen Salvador Allende und die Unidad Popular.

am 13.1.2010 um 20.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
La noire de ...
Black Girl

F/SEN 1966, R/B: Ousmane Sembène, K: Christian Lacoste, D: Mbissine Thérèse Diop, Anne-Marie Jelinek, Momar Nar Sene, Robert Fontaine, 65’ OmeU, DVD

Alles begann an diesem Morgen: Die junge, elegante Senegalesin Diouana sucht Arbeit in Dakar, rennt von Haus zu Haus. Schließlich setzt sie sich zu den Frauen am „Platz der Hausmädchen“ und wird dort von der Gattin eines französischen Technikberaters herausgepickt. Sie soll auf die Kinder aufpassen. Und ein interessantes Leben wird ihr versprochen – in Frankreich. Dort aber sieht alles ganz anders aus. Diouana wird zur dauernd verfügbaren Haussklavin der quengelnden Familie gemacht. Der Film konzentriert sich ganz auf ihre Blicke und ihren inneren Monolog, während sie nach außen sprachlos ist. Ein einziges Mal spricht sie ein deutliches Nein. Durch die Unabhängigkeit hätten die Afrikaner ihre Natürlichkeit verloren, sagt einmal ein Gast des Patron. In einer Rückblende springt Diouana begeistert die Treppe hoch, „nach Frankreich, nach Frankreich“, singt sie und läuft weiter auf der Mauer eines großen Denkmals für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs,die tirailleurs, die für die Befreiung Europas gekämpft hatten. Ihr skeptischer Freund in Dakar kann ihren Enthusiasmus nicht aufhalten. Das ‚afrikanische Filmbüro’, eingerichtet vom französischen Kooperationsministerium Anfang der 1960er Jahre, hatte Sembènes Drehbuch zu La noire de... abgelehnt, der Film sei gegen Frankreich gerichtet. Dennoch kam dieser erste afrikanische Langfilm zustande.

Mit Einführung

am 15.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Die Kümmeltürkin geht
BRD 1985, R: Jeanine Meerapfel, K: Johann Feindt, Kamera-Assistenz: Raoul Peck, 88’

1983, zehn Jahre nach dem Anwerbestopp für „Gastarbeiter“, wurde von der Bundesregierung das "Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern" verabschiedet. In dieser Zeit porträtiert die Regisseurin Jeanine Meerapfel die alleinstehende Türkin Melek Tez. Diese plant, nach vierzehn Jahren Arbeit Deutschland zu verlassen und die Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Die eindringlichen Gespräche der Regisseurin mit Melek sind geprägt von pragmatischer Wut und enttäuschten Hoffnungen der selbstbewussten Protagonistin und von den insistierenden Fragen der Regisseurin, die selbst mit Fragen des Exils vertraut ist. „Früher waren meine Augen ganz zu, und langsam durch die Erfahrung ist es mir offen gegangen und jetzt sehe ich klarer: Hier ist bestimmt kein Platz für mich“, sagt Melek. Nachgespielte Szenen ihrer Ankunft in Deutschland, eine ironische Selbstinszenierung als „Kopftuchtürkin“, Rückkehrer-Schlangen am Flughafen: Melek mit ihrem roten Koffer verlässt Deutschland und findet klare Worte für die bundesdeutsche Verwertung migrantischer Ressourcen. „Warum hast du dich immer Kümmeltürkin genannt?“ - „Ich hab mich selber nicht so genannt, aber die Leute haben alle Ausländer so genannt. Dann hab ich so’n Spaß daraus gemacht. Lieber Lachen als Heulen. Was mir nicht passt, muss ich zurückgeben mit den Worten.“

am 16.1.2010 um 19.00 Uhr
am 17.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Kurz und schmerzlos
D 1998, R/B: Fatih Akin, K: Frank Barbian, D: Mehmet Kurtuluş, Adam Bousdoukos, Aleksandar Jovanović, Regula Grauwiller, Idil Üner, Fatih Akin, 99’

Drei Freunde aus dem Hamburger Kleinkriminellenmilieu: der Türke Gabriel, der Grieche Costa, der Serbe Bobby. Der Film beginnt mit einer ausgelassenen Kampfchoreografie. Als Gabriel aus dem Knast zurückkommt, möchte er mit seinem kriminellen Leben abschließen, erwachsen werden. Aber so einfach geht das nicht. Bobby lässt sich auf Muhamer ein, den albanischen Paten von St. Pauli, und das Unglück nimmt seinen Lauf. Mit cineastischem Zorn und realistischen Dialogen erfüllt der Film sein Genremuster: Alles was schief gehen kann, wird auch schief gehen. Die machistischen Gangsterrituale haben immer auch einen doppelten Boden, und die freundliche Alice hat ihren Schmuckladen „Kismet“ genannt. „Im Lauf der Geschichte wird jeder der drei ein anderes Kettchen um den Hals tragen, das ihn auch charakterisiert: Gabriel einen kleinen Dolch, der für Kampf und Liebe steht, Costa ein goldenes Kreuz und Bobby eine protzige Goldkette. Gabriel, das ist also der Edle und Liebende im Trio, Costa der verrückte Heilige und Bobby der coole Möchtegern-Gangster. Vielleicht spielen sie auch nur Rollen im Leben, Rollen aus Filmen von Michael Cimino, Scorsese und De Palma.“ (Hans Schifferle, epd Film 1998)

am 16.1 um 21.00 Uhr
am 17.1.2010 um 19.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Mémoires d’immigrés. L’héritage maghrébin: Les Pères, Les Mères, Les Enfants
F 1998, R: Yamina Benguigui, K: Virginie Saint-Martin, Bakir Belaïdi, 160’  OmeU, DigiBeta

Drei Jahre Recherche, sechs Monate Drehzeit, neun Monate Schnitt. Es geht um Erinnerungen der Väter, der Mütter, eingewandert aus dem Maghreb, und um deren Nachkommen. „Unsere Kinder müssen erfahren, warum wir hier sind und warum und wie wir kamen und unter welchen Bedingungen wir gearbeitet haben und wie unser Leben war. Auch wenn uns einige vorwerfen, hier geboren zu sein, es ist nicht unsere Schuld, sondern es lag an der Wirtschaft, der Armut.“ Archivaufnahmen aus den 1960er Jahren: Männer gehen entlang einer Mauer, auf der steht: „Frankreich den Franzosen“. In eindringlichen Gesprächen entwerfen die Gesprächspartner/innen von Yamina Benguigui ihre Einwanderungsgeschichten; die Regisseurin lässt sie in ihrem Schmerz, ihrer Wut, ihrer Melancholie niemals auflaufen. Auch die Technokraten der Anwerbung legen ihre Interessen dar: “Sie mussten – entschuldigen Sie, ich mag diesen Ausdruck nicht – ein wertvolles Produkt sein für die Person, die diesen Vermittlungsdienst in Anspruch nimmt. Es gab wenig Ausschuss bei den marokkanischen Arbeitern, höchstens 2 %.“ Der Algerienkrieg, die Demonstration vom 18. Oktober 1961, der Brand in der Barackensiedlung von Nanterre, alle erzählen, wie sie im Frankreich der 1950er und 1960er Jahre unsichtbar sein wollten.

am 19.1.2010 um 20.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Toxi
BRD 1952, R: Robert A. Stemmle, B: Maria Osten-Sacken, Peter Francke, R.A. Stemmle, K: Igor Oberberg, D: Elfie Fiegert, Paul Bildt, Elisabeth Flickenschildt, Al Hoosman, 88’

Die afro-deutsche Halbwaise Toxi wird von einer bundesdeutschen großbürgerlichen Familie aufgenommen. Die Familie, wie ein Modell der Nachkriegsgesellschaft, besteht aus einem paternalistischen christlich-toleranten Großvater, angepassten Ehefrauen, einem noch unverheirateten, künstlerisch tätigen Paar und dem wirtschaftlich angeknacksten Schwiegersohn, der von „Rassekomplexen“ besessen ist. Vor allem das Drehbuch scheute keinen Hinweis auf Toxis Hautfarbe und ließ kaum ein rassistisches Stereotyp aus. Toxi schlägt sich mit Ausgrenzungen, Belästigungen und Abschiebungen herum. Und doch bot der Film Identifikationsmöglichkeiten, was vor allem der souveränen Darstellerin Elfie Fiegert als Toxi zu verdanken ist. Die Handlung kreist darum, ob die Familie das Kind bei sich behält.
Zwischen 1945 und 1955 wurden in der BRD knapp 68.000 Kinder alliierter Besatzungssoldaten geboren. Mit den Müttern standen sie unter Aufsicht des Jugendamtes. Die Historikerin Yara-Colette Lemke Muniz de Faria hat in ihrem Buch Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung die verschiedenen Konzepte der Behörden für den gesellschaftlichen und sozialtechnokratischen Umgang mit diesen Kindern, deren Lebensweg durch die Intervention der Behörden maßgeblich beeinflusst wurde, untersucht. „Mit Toxi entstand 1952 zur Einschulung dieser Generation afro-deutscher Kinder ein Film, der vordergründig um ‚Verständnis’ warb. Indem er aber die Existenz schwarzer Deutscher ausschließlich als sozialpädagogisches ‚Problem’ begriff, die NS-Vergangenheit verdrängte und die Mütter pathologisierte, reproduzierte er homogenisierende Vorstellungen des ‚Weiß-Seins’“. (Tobias Nagl)

Einführung am 20.1.: Yara-Colette Lemke Muniz de Faria

am 20.1.2010 um 20.00 Uhr
am 24.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Menschen im Busch
D 1930, R: Gulla Pfeffer, Friedrich Dalsheim, M: Wolfgang Zeller, einleitender Vortrag: Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg, 61’

Die Ethnologin und Fotografin Gulla Pfeffer hatte bereits 1927 eine Expedition nach Britisch-Kamerun und in den Nordosten Nigerias geleitet. Sie schrieb das Drehbuch für Menschen im Busch gemeinsam mit dem Kameramann und Co-Regisseur Friedrich Dalsheim. Durch den Film erhoffte sie sich weitere Finanzierungsmöglichkeiten für ihre Forschungen. Eine lange, kolonial- und feudal-revisionistische Vorrede, vom Blatt gelesen, hält der ehemalige Gouverneur von Togo, der die dörflichen Einwohner auch mal mit den deutschen Bauern vergleicht. „Arbeit, das ist das Grundmotiv dieses Films.“ Die „widerspruchsvollen“ Küstenstädte seien „buntscheckig“, erst im Hinterland offenbare sich das wirklich Andere, das Primitive: „Und dies, meine Damen und Herren", er hebt die Stimme, „der Tanz und der Götterglaube, dies sind die zwei mystischen Urelemente in dem scheinbar so nüchternen Dasein. Hier liegt auch heute die Romantik, das Rätsel des schwarzen Erdteils.“ Tobias Nagl sieht den Film in der Tradition der „romantischen Ethnografie“. Mit lippensynchronen Originaltonaufnahmen, Zwischentiteln und der sinfonisch-pastoralen Musik von Wolfgang Zeller schöpft der Film die Attraktion des Medienwechsels zum Tonfilm aus. „Was den stärksten Eindruck an diesem Film ausmacht, ist der Ton. Afrika ist plötzlich näher denn je.“ (Berliner Lokal-Anzeiger 1930). Siegfried Kracauer forderte anhand von Menschen im Busch, „mit diesen exotischen Reisefilmen Schluss zu machen. Expeditionen nach dem heimischen Afrika sind wichtiger und fördern mindestens so viel Exotik zutage.“ (Frankfurter Zeitung, Juli 1930)

Einführung: Gerlinde Waz
am 22.1.2010 um 19.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Geschwister - Kardeşler
D 1997, R/B: Thomas Arslan, K: Michael Wiesweg, M: DJ Hype, D: Fazli Yurderi, Savas Yurderi, Tamer Yigit, Serpil Turhan, Bülent Akil, Bilge Bingül, 84’

Das Roadmovie ist eines der Genres des neueren Migrationsfilms, das versucht, den transnationalen Raum zu beschreiben, den Migration eröffnen kann. In diesem Sinn bewegt sich Thomas Arslans Film, der oft als „Roadmovie, nur ohne Auto“ bezeichnet wird, zwar nur in der Gegend um das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, verweist aber auch in seiner unaufgeregten, anti-identitären Erzählweise auf einen größeren Raum. „Der Film spielt ja in ganz wenigen Straßen, die auch ganz bewusst immer wiederkehren. Damit einfach dieses doch recht kleine Umfeld, in dem sich die Geschwister und ihre Freunde so bewegen, Tag für Tag, möglichst präzise abgesteckt wird. Es ist wichtig, dass sie gerade über dieses Gehen dann auch den Raum miterzählen können." (Thomas Arslan)
Die drei Geschwister Erol, Ahmed und Leyla leben bei ihren Eltern, der Vater ist Türke, die Mutter Deutsche. Erol, der die Schule abgebrochen hat, will gegen den Willen der Eltern zum türkischen Militär, bei Ahmed klappt alles gut, er geht aufs Gymnasium. Und die Schwester Leyla macht sich über ihren Verehrer Cem lustig. Auf unterschwellige Weise verhandelt Arslan anhand der zwei ungleichen Brüder auch die Problematik des Passing, des Durchgehens als Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft, wie es Cassavetes in Shadows so berührend gelungen war.

am 23.1.2010 um 21.00 Uhr
am 27.1.2010 um 20.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Dar Ghorbat
In der Fremde

BRD/IR 1975, R: Sohrab Shahid Saless, B: Sohrab Shahid Saless, Helga Houzer, K: Ramin Reza Molai, D: Parviz Sayyad, Anasal Cihan, Muhammet Temizkan, Hüsamettin Kaya, Ursula Kessler, Ute Bokelmann, 91’ OmU

„Noch einen GASTARBEITERFILM, das wollte ich nicht, sondern einen Film über das Wort ELEND, das ursprünglich einfach IM ANDEREN LAND LEBEN bedeutete, dann IN DER FREMDE hieß und einen immer schlechteren Klang bekam.“ (Sohrab Shahid Saless im Vorspann des Films). Husseyin arbeitet an der Metallpresse und lebt mit anderen Türken in einer Gemeinschaftswohnung in Kreuzberg. Einer hat seine Arbeit verloren, einer muss Deutschland bald verlassen, einer verdient gut, einer weint über den Tod seines Vaters, und die Frau kocht Tee. Der Student gibt Sprachunterricht: „Sag mir lieber, was ich zu den Frauen sagen soll, zum Beispiel: Wollen Sie einen Kaffee mit mir trinken?“ Große stille Bilder, lange Einstellungen, die immer viel Platz lassen und den richtigen Atem haben. Saless' Kino ist materialistisch und kontemplativ, aber nicht tröstlich. „Es ist durchdrungen von einem aggressiven Schweigen.“ (Olaf Möller in: Film Comment 2004). Er hatte in Wien und Paris Film studiert, sein erstes Exil war Deutschland, nachdem man ihn seinen dritten Film im Iran nicht drehen ließ, sein zweites Exil die USA, wo er 1998 erschöpft starb. „Ein Stil, den ich in all meinen Filmen beibehalten möchte: beobachten, wahrnehmen, ohne an den Gefühlen teil zu haben; wenn ich für meine Figuren Partei ergreifen würde, oder sie verteidigen würde, könnte das Publikum nicht mehr selbst urteilen.“ (Sohrab Shahid Saless).

am 26.1.2010 um 20.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Am Rand der Städte
D 2006, R: Aysun Bademsoy, K: Sophie Maintigneux, 83’ OmU, DigiBeta

Am Rand der türkischen Mittelmeerstadt Mersin sind in den 1990er Jahren riesige Wohnsiedlungen entstanden, in denen die Rückkehrer aus Deutschland, die „Deutschländer“, ein seltsames Zwischenleben führen. Hier leben Türken, die viele Jahre in der Bundesrepublik gearbeitet und gespart haben und nun ihren Ruhestand genießen wollen. Kinderspielplätze, Ornamentgärten, Swimmingpools und Palmen gehören genauso dazu wie die Pförtner dieser Gated Communities. Die Kamerafrau Sophie Maintigneux hat für die Innen- und Außenräume hinreißend überzeugende Bilder gefunden. Die Bewohnerinnen und Bewohner erzählen mit großer Eloquenz ihr Leben in Deutschland: „Dort gab es die köstliche Gelegenheit immer allein zu sein. Deren Ende nicht so köstlich war. In der Türkei wäre ich auf diesen Gedanken nicht gekommen, so viel allein sein zu wollen. Sich von den Menschen so sehr zu trennen.“ Und sie sprechen von ihren Krisen und Lebensbewältigungsstrategien. „Je mehr ich durch meine dokumentarische Arbeit in den letzten Jahren die Situation der in Deutschland lebenden Türken begreife, umso mehr merke ich, wie weit sich diese Türken von der Türkei entfernt haben.“ (Aysun Bademsoy).

am 29.1.2010 um 19.00 Uhr

 

 

MIGRANTISCHE SELBSTBILDER
Radiografia della miseria
I 1967, R: Piero Nelli, Text: Leonardo Sciascia, K: Luciano Tovoli, M: Egisto Macchi, 16’  OF, Beta SP

Emigrazione 68: Italia oltre confine
I 1968, R: Luigi Perelli, Text: Dacia Maraini, K: Alberto Marrana, M: Franco Potente, 32’   OF, Beta SP

Catenaccio in Mannheim
I 2001, R: Mario Di Carlo, K: Andrea Ruzzenenti und Super8-Aufnahmen der Familie Prestigiacomo, 33’  OmU, Beta SP

Radiografia della miseria analysiert die Ursache der Emigration am Beispiel eines Orts im Inneren Siziliens im Jahr 1967, indem er die Verarmung der Landbevölkerung beschreibt. Die Kamera von Luciano Tovoli führt uns in die kargen Häuser, zeigt die fast mittelalterlichen Hygiene- und Lebensbedingungen, die von Einsamkeit, Unterernährung, Fehlen von Vertrauen und jeglicher Aussicht auf eine bessere Zukunft zeugen. Wegen der Wirtschaftskrise infolge des Zweiten Weltkriegs und der großgrundbesitzerfreundlichen Landwirtschaftspolitik kam es von 1944 bis 1949 zu Bauernunruhen und Landbesetzungen. Die daraufhin von der Regierung eingerichteten Förderinstrumente wie die Cassa per il Mezzogiorno blieben weitgehend ohne Erfolg. Zwischen 1946 und 1957 wanderten rund 1,7 Millionen Italiener, vor allem junge Männer, ins westeuropäische Ausland.
Emigrazione 68 beschreibt das Drama des Exils, zu dem Millionen Italiener durch Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Unterentwicklung gezwungen wurden. Gezeigt werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen der italienischen Migranten in den Industriezentren des Nordens (Holland, Belgien, Schweiz, vor allem aber in Deutschland), ihre Unterkünfte, die häufig nicht die Bezeichnung Wohnung verdienen. Die Immobilienspekulation profitierte vom prekären Status der Arbeitsmigranten. Der Film erinnert auch an das tragische Grubenunglück im August 1956 im belgischen Marcinelle, bei dem 135 italienische Bergleute (insgesamt 262 Bergleute verschiedener Nationen) ums Leben kamen. Und er schildert die sozialen Kämpfe der italienischen Arbeitsmigranten, die Einforderung ihrer Rechte. „1955 war das erste Anwerbeabkommen zwischen Italien und der Bundesrepublik ausgehandelt worden, ab den 1960er Jahren hat die größere ‚Freizügigkeit’ durch die EWG-Verträge zwar eine Marginalisierung der Italiener auf dem Deutschen Arbeitsmarkt zur Folge, aber auch transnationale Mobilisierung.“ (Aurora Rodono: Mobilität als Lebensentwurf? Die italienische Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland. In: Projekt Migration, Köln 2005)
Ein Sohn italienischer Migranten aus Mannheim befragt in Catenaccio in Mannheim andere Kinder von italienischen Migranten nach ihrem Verhältnis zu den Erzählungen ihrer Eltern. „Sie waren echte Ausländer. Mein Opa kam vor vierzig Jahren als Gastarbeiter, so hießen die damals. Den Mumm, dieses Risiko einzugehen, hätte heut keiner mehr.“ Straßenfeste der 1960er Jahre und Feiern italienischer Fußballfans während der EM 2000, in der die italienische Mannschaft ins Finale kam, werden von dem Filmemacher parallel montiert. In den Gesprächen sind Spuren der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft zu finden, die damals, als die Bundesregierung versuchte, das Staatsbürgerschaftsrecht zu reformieren und das überkommene ius sanguinis in ein ius solis umzuwandeln, besonders kontrovers geführt wurden.

am 29.1.2010 um 21.00 Uhr

 

 

 
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