Die Neue Wache – vom Wachlokal zum Nationaldenkmal

Sven Lüken | 11. November 2022

Neben dem Zeughaus befindet sich die Neue Wache, die heute zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist. Anlässlich des Volkstrauertags gibt Sven Lüken, Sammlungsleiter Militaria, einen Einblick in die Geschichte des Gebäudes.

Im Berlin des 18. Jahrhunderts führte die Schlossbrücke über den Kupfergraben aus dem Berliner Schlosses nach Westen. Im Gegensatz zu heute stand damals unmittelbar am Durchgang durch die Bastionen der Stadtbefestigung ein kleines Tor. Später wurde ein Gebäude errichtet, das den Bewachern des Schlosses als Stützpunkt diente: die Neue Wache.

1815: Ein König gentrifiziert seinen Kiez

Als 1735 der Abbau der Festungswälle begann und das Gelände am östlichen Ende der Allee Unter den Linden als repräsentativer Raum erschlossen wurde, rückte die Wache ins städtebauliche Interesse. Sie war nun Teil des nach 1740 durch den königlichen Bauherren Friedrich II. mit monumentalen Gebäuden wie der Staatsoper und des Palais des Prinzen Heinrich (heute Humboldt-Universität) bebauten so genannten „Forum Fridericianum“. Ab 1797 bewohnten der neue König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise das unmittelbar gegenüber dem Zeughaus gelegenen Königliche Palais. Die Wache war nun für dessen Sicherheit zuständig.

Unmittelbar neben dem Zeughaus und gegenüber dem damaligen Königlichen Palais, dem heutigen Kronprinzenpalais, gelegen war diese Schlosswache Gegenstand des Gestaltungswillens des musisch begabten königlichen Schlossherren. Nach den Befreiungskriegen bot sich der finanzielle Spielraum, um die jahrelangen gestalterischen Diskussionen durch einen Neubau zum Ende zu bringen. Der letztlich überragende Entwurf des preußischen Baumeisters Karl Friedrich Schinkel fußt auf Ideen des Architekten Salomo Sachs und wurde 1816 bis 1818 realisiert.

Die winterliche Neue Wache und das von Denkmälern preußischer Feldmarschälle gesäumte Forum der Armee, nach einem Gemälde, Berlin, vor 1848 © Deutsches Historisches Museum

1818 bis 1918: Dienst in einer Gedenkstätte

Neben der monumental-strengen konservativen Schlossfassade, der heiteren barocken Formen des Zeughauses mit seinen spielzeugartigen Trophäen und den opulenten korinthischen Kapitellen des Opernhauses zeigen hier die strengen Formen der antiken dorischen Ordnung an, dass wir einen Bau des asketischen preußischen Militärs vor uns haben. Die Bedeutung dieser Stile war damals dem gebildeten Publikum unmittelbar verständlich. Schinkel hat mit seinen strengen kubischen Formen zugleich ein Hauptwerk des deutschen Klassizismus geschaffen.

Der klassizistische Fries der Siegesgöttinnen von Johann Gottfried Schadow und das erst 1846 angebrachte Giebelrelief der Siegesgöttinnen ist nicht nur in seinen Materialien militärimmanent: Eisen und Blei. Auch thematisch blieb man dabei: Kampf, Anstrengung, Tod und Schmerz als Preis des Sieges.

Der Bau ist nur an seinen herausragenden Punkten aus repräsentativen Naturstein, sonst aus einfachen Ziegeln, wie seine römischen Vorbilder. Schinkel gelang es, dem relativ kleinen Baukörper klare Akzente zu setzen, die es ihm ermöglichten, den ungleich größeren Bauten seiner Umgebung standzuhalten. Wuchtige Eckrisalite fassen einen dorischen Portikus ein, der weniger an den Träger eines antiken Giebelreliefs als vielmehr an eine Reihe schützender Soldaten vor einem römischen Kastell in feindumtoster Umgebung denken lässt. Wer hier Wache steht, ist kein Feind, sondern verdient Vertrauen als Beschützer.

Dies alles nur, um ein repräsentatives Wachgebäude für einen Militärstaat zu schaffen. Der Grundriss war gemäß seiner Funktion als militärischer Zweckbau angemessen einfach: Eingangshalle, Wachtstube, Offizierszimmer, Arrestzelle lassen nicht erkennen, dass hier täglich ein wachhabender königlicher Prinz eine wechselnde Auswahl aus den vornehmsten Regimentern eines damals weltweit bestaunten Militärstaats „vergatterte“, wie das Militär die Versammlung der Wache nennt.

Gedenkstätte war die Neue Wache von Anfang an. Als sie 1815 entstand, gedachte man der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich, die Preußen unzählige Anstrengungen und Opfer gefordert hatten. Fünf bei Armee und Bevölkerung populäre Generäle wurden von bedeutenden Berliner klassizistischen Künstlern als Standbilder entworfen und gegossen. Sie vertraten die opferreiche Armee. Zwei – Scharnhorst und Bülow – flankierten die Neue Wache, drei – Yorck, Blücher und Gneisenau – standen gegenüber am Rand des Prinzessinnengartens, in Gestik und Haltung korrespondierend. In einer Zeit, als die Linden noch nicht zur sechsspurige Rennstrecke verkommen waren, entstand hier ein Forum der preußischen Armee, versteckt und fast verträumt unter hohen Bäumen.

Die restaurierte Neue Wache nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin © Deutsches Historisches Museum

Das Leben in der Neuen Wache war wenig abwechslungsreich: Keine Demonstrationen, keine Provokationen wie heute, nur das militärische Einerlei der sich stündlich ablösenden Wache. Seit 1818 gab es allerdings einmal am Tag eine „Große Wachablösung“ nach russischem Vorbild mit Musikzug, die bis 1990 eine Berliner Attraktion bleiben sollte. Ein kleiner Metallzaun zu den Linden hielt den Platz für Aktivitäten in Grenzen. Immerhin ließ am 16. Oktober 1906 der falsche „Hauptmann von Köpenick“ seine Gefangenen, den echten Bürgermeister von Köpenick und seine Mitarbeiter, zur Neuen Wache bringen, weil er sich so des Aufsehens sicher war. Und kurz vor dem Ersten Weltkrieg trug die preußische Militärverwaltung der Zentralörtlichkeit der Neuen Wache Rechnung, indem sie eine Fernmelde- und Poststelle hierher verlegte. Von hier ging am 1. August 1914 die Mobilmachung aus, der Anfang vom Untergang.

1931 bis 1945: Gedenkort des Ersten Weltkrieges

Nach der Revolution des November 1918 gab es keine zu bewachenden Monarchen und keine Garderegimenter mehr. Die Neue Wache war ohne Funktion. Eine gewerbliche Nutzung erschien möglich, allein ihre Eigenschaft als Baudenkmal und ihre künstlerische Qualität brachten die Neue Wache schnell in den Mittelpunkt der Diskussionen um einen zentralen Ort des Gedenkens für die Opfer des Ersten Weltkrieges. Auf Vorschlag des zuständigen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) erhielt nach einem Wettbewerb der Berliner Architekt Heinrich Tessenow, Professor an der Technischen Hochschule zu Berlin und in konservativen Kreisen sehr gefragt, den Auftrag dazu. Sein 1931 ausgeführter Entwurf für das nunmehrige „Ehrenmal der Preußischen Staatsregierung“ sah eine Entkernung des Inneren zugunsten eines einzigen weihevoll gestaltete Gedenkraumes vor, der zudem durch eine kreisrunde Öffnung zum Himmel geöffnet war, so dass Schnee und Regen ungehindert einfallen konnten. Zentraler Gedenkort war ein schwarzer Granitwürfel, auf dem ein Eichenlaubkranz au goldenen und silbernen Blättern ruhte. Hier konnten Kränze niedergelegt werden. Eine ständige militärische Ehrenwache war nicht vorgesehen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 fand Tessenows monumentale Gestaltung auch das Gefallen der neuen Machthaber. Ein schlichtes christliches Kreuz an der Wand ergänzte allerdings fortan seinen Entwurf und grenzte nicht-christliche Soldaten vom Gedenken aus. Seit dem 12. März 1933 zogen wieder Ehrenposten und Wachablösung auf, die Neue Wache diente bis zur Zerstörung im Krieg als inoffizielles „Reichsehrenmal“ der Kriegspropaganda des NS-Reiches.

Das Reichsehrenmal mit einem Doppelposten der Reichswehr, nach 1933, Berlin © Deutsches Historische Museum

1960 bis 1990 Ein Gedenkort des Sozialismus: Das Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus

Nach dem Krieg wurde diskutiert, was mir dem diskreditierten Bau geschehen solle, bis das SED-Regime, sich wieder mit Zustimmung der sowjetischen Besatzungsmacht für die Architekturen Schinkels und Tessenows interessierte. Die Statuen der preußischen Generäle der Befreiungskriege, die zur ursprünglichen Konzeption gehörten, wurden 1950 auf Befehl von Walter Ulbricht entfernt oder versetzt. Die Neue Wache selbst erschien im rekonstruierten Gewand seit 1960 als „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“, seit 1969 statt Tessenows Würfel und Lorbeerkranz mit Ewiger Flamme in einer Schale aus Jenaer Glas. Auch die Decke wurde geschlossen. Erde aus Konzentrationslagern und von Schlachtfeldern sowie sterbliche Überreste unbekannter Häftlinge und Soldaten als Opfer von Widerstand und Krieg erwiesen der Gründungslegende und der Staatsräson der DDR pathetisch ihre Referenz. Außen stellten Doppelposten und Wachablösung im Feldgrau der NVA die SED-Variante des Pazifismus sicher, was freilich bis 1990 eine Attraktion der Berlinbesuchenden blieb.

Die Partei- und Staatsführung der DDR in der zum Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus umgestalteten Neuen Wache, nach 1969, Berlin, Deutsches Historisches Museum © Bundesarchiv Koblenz, 1987/0913/1N

Seit 1990: Kohl und Kollwitz – die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft

Nach Mauerfall und Wiedervereinigung 1990 wurde die Urfassung Tessenows für die neue, nun gesamtdeutsche Gedenkstätte weitgehend rekonstruiert. Nur der Granitwürfel mit Eichenlaub, das sich sogar erhalten hatte, erschien nicht mehr vermittelbar. Auf Wunsch von Bundeskanzler Helmut Kohl wurde eine stark vergrößerte Kopie der Skulptur „Mutter mit totem Sohn“ von Käthe Kollwitz aufgestellt. Über Zulässigkeit und Relevanz wurde lange diskutiert, schließlich wurden erläuternde Bronzetafeln gegossen, um die Opfergruppen zu benennen, die sich zugehörig fühlen durften. Seit 1993 dient die Neue Wache als „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Militärisches Zeremoniell gibt es nur bei Gelegenheit durch die Bundeswehr im Rahmen ihrer reduzierten Möglichkeiten. Es scheint, als hätte Bundeskanzler Kohl recht gehabt: die Skulptur von Käthe Kollwitz wird heute von Betrachtenden aus der ganzen Welt als Ausdruck persönlichen Schmerzes verstanden.

Modell der Neuen Wache mit der geplanten Umgestaltung durch Aufstellung der vergrößerten Skulptur von Käthe Kollwitz „Mutter mit totem Sohn“, Berlin, 1993 © Deutsches Historisches Museum

Preußens Generäle sind hier unerwünscht

Ein bitteres Nachspiel hat die Sache. Die Erben von Käthe Kollwitz hatten als Preis ihrer Zustimmung zur Vergrößerung der ursprünglichen Skulptur erreicht, dass die Standbilder der fünf preußischen Generäle, die zur allersten Gedenkstättenkonzeption gehörten, bis zum Ablaufen der Kollwitz’schen Urheberrechte 2015 nicht wieder an die Neue Wache zurückkehren sollten. Nach allen Verlautbarungen aus Wissenschaft, Kunst, Politik und Verwaltung und nicht zuletzt nach dem, was Käthe Kollwitz selbst gedacht hatte, sollte spätestens nach dem Wiederaufbau des Schlosses die Rekonstruktion der Ursprungsaufstellung erfolgen. Inzwischen stehen Yorck, Blücher und Gneisenau getarnt und verbannt noch im Unterholz des hinteren Prinzessinnengartens. Schon damit war die ursprüngliche Konzeption zerstört. Aber ausgerechnet die Standbilder des aus dem Bürgertum stammenden und eher demokratisch gesinnten Scharnhorst und des musisch begabten, charaktervollen und versöhnlichen Bülow verschwanden 2021 von der Neuen Wache, während der Haudegen Blücher und der Reaktionär Yorck bleiben durften: Nachsicht mit dem, der das Richtige will und das Falsche tut!

Foto: DHM/Thomas Bruns

 

 

Sven Lüken

Sven Lüken ist Leiter der Sammlung Militaria am Deutschen Historischen Museum