
Natur und deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht
Eröffnungsrede von Kuratorin Julia Voss
14. November 2025
Seit heute ist die Ausstellung „Natur und deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht” im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums zu sehen. Im Rahmen der feierlichen Eröffnung am 13. November 2025 hielt die Kuratorin Prof. Dr. Julia Voss folgende Rede:
Ich möchte auf drei Aspekte der Ausstellung „Natur und deutsche Geschichte. Glaube – Biologie – Macht” eingehen:
Warum beginnen wir, wie wir beginnen – nämlich mit Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert?
Wir beginnen mit Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert, in einer Zeit, die als „Gründerzeit“ beschrieben worden ist: Viele Städte und Klöster werden gegründet, in sich ausbreitenden Kulturlandschaften. Auch Hildegard gründet ihr Kloster auf dem Rupertsberg mit etwa 50 Jahren bei Bingen am Rhein. Sie ist also in diesem Sinne eine typische Vertreterin dieses Wandels.
Sie ist aber auch eine Ausnahmefigur: Hildegard, eine Benediktinernonne, Komponistin und Äbtissin, berichtet, Visionen zu erleben, die sie als göttliche Botschaften versteht. Als erste Frau in der Geschichte erhält sie vom Papst in Rom die Erlaubnis, diese niederzuschreiben, natürlich auf Lateinisch. Das Wort „Natur“ nimmt keine zentrale Rolle bei ihr ein, dafür aber der Begriff „viriditas“, abgeleitet vom lateinischen Wort für Grün. Diese „Grünkraft“ versteht sie als göttliches Geschehen, das alles Lebendige durchwirkt. Hildegard setzt sich intensiv mit der Schöpfung auseinander, den Tieren und Pflanzen, ihren Heilwirkungen. Es ist aber keine Einbahnstraße: Pflanzen und Tiere, so ihre Überzeugung, können den Menschen heilen. Umgekehrt muss sich auch der Mensch in den Dienst der „Grünkraft“ stellen, um zur Heilung der Schöpfung beizutragen. Wir haben hier also eine sehr vielseitig gelehrte Frau des Mittelalters, die sich fragt, was die Ordnung im Verhältnis zur Schöpfung herstellt oder stört – das schien uns ein interessanter Ausgangspunkt.
„Hildegard von Bingen“ ist die erste Fallgeschichte oder das erste historische Fenster, die erste Vignette, mit der wir beginnen. Wir versammeln insgesamt fast zwei Dutzend solcher Beispiele oder Wendepunkte aus etwa 800 Jahren deutscher Geschichte.
Diese historischen Fenster sind in fünf chronologisch aufeinanderfolgenden Räumen angeordnet: Mittelalter, Frühe Neuzeit, Industrialisierung, Nationalsozialismus und geteiltes Deutschland (so ist auch die Ordnung des Begleitbands, erschienen bei Matthes & Seitz).
Warum enden wir, wie wir enden – nämlich mit der Umweltpolitik der 1970er Jahre?
Unsere Ausstellung endet vor etwa fünfzig Jahren, nämlich etwa Mitte der 1970er Jahre: Ein neues Wort verfestigt sich in der deutschen Sprache, der „Umweltschutz“. „Umweltschutz“ zieht in die ersten Parteiprogramme und als Abteilung in Ministerien ein – ich komme noch dazu. Gleichzeitig ist es ein Anliegen, das nun zunehmend von großen Protestbewegungen gefordert wird. Unser Beispiel ist die Anti-Atomkraft-Bewegung in Wyhl am Kaiserstuhl, eine bürgerlich ausgerichtete Bewegung, bestehend aus Winzerfamilien, Pfarrern, Handwerkern und Akademikern, darunter viele Frauen.
Wyhl wird wichtig für Gründungsmitglieder der Grünen sein. Und es beginnt eine neue Ära, in der „Umweltschutz“ mehr und mehr als ein Thema des liberalen oder linken Parteienspektrums gesehen wird. In der Bewegung in Wyhl gab es jedoch noch eine ausgeprägte konservative Strömung. Wie wir in der Ausstellung zeigen, waren es außerdem Hans-Dietrich Genscher und die FDP, die auf Bundesebene die Umweltpolitik verankern wollten. Zuvor setzte sich auch Willy Brandt als Kanzlerkandidat der SPD dafür ein. Die 1970er-Jahre im Zeichen des „Umweltschutzes“ schienen uns also ein guter historischer Moment, um als historisches Museum zu enden.
Was sind die gliedernden Elemente der Ausstellung?
Von den großen chronologischen Räumen habe ich bereits gesprochen. Zu jedem dieser Räume haben wir ein Interview mit einer Historikerin oder einem Historiker geführt. Diese Interviews sind als Videos in der Ausstellung in gekürzter Form zu sehen – immer in die hellgelben Raumstele eingepasst – und in voller Länge im Begleitband abgedruckt. Uns war wichtig, die Breite der historischen Forschung, aus der wir schöpfen, auf diese Weise abbilden zu können.
Die einzelnen historischen Fenster, die wir aufmachen, die Fallgeschichten oder Vignetten, leiten jeweils ein Tier oder eine Pflanze ein: Die Taube etwa führt zu Hildegard von Bingen. Der Wolf, der auf dem Plakat abgebildet ist, führt zum Dreißigjährigen Krieg. Weitere Tiere und Pflanzen sind die Kartoffel, die Eiche, das Moos oder auch der Pfau, die Sumpfschildkröte, die Roterle oder der Belugawal. Jedes dieser Tiere und Pflanzen hat in der historischen Episode, die wir erzählen, eine besondere Rolle gespielt oder Bedeutung gehabt. Die Tiere und Pflanzen sind jeweils in diesem Rotton markiert und mit dem Einleitungstext versehen.