> Fritz Schleede: Die Kinderlandverschickung 1940

Fritz Schleede: Die Kinderlandverschickung 1940

Dieser Eintrag stammt von Fritz Schleede (*1927) aus Hamburg, August 2002:

Wegen der vielen Fliegeralarme und Bombenangriffe in Hamburg wurde eine große Aktion durchgeführt. Fast alle Schulkinder wurden in Gebiete verschickt, wo keine oder nur selten Fliegerangriffe waren. Ich kam nach Dresden. Wir wurden zu Klassen zusammengestellt und bekamen einen Lehrer und einen etwas älteren HJ-Führer, der mit dem Lehrer helfen sollte. Mit einem Koffer voll Wäsche und einem Rucksack mit Verpflegung versammelten wir uns am Altonaer Bahnhof. Der ganze Bahnsteig war voller Kinder. In Gruppen kamen wir in den vorgeschriebenen Waggon. Am Anfang der Bahnfahrt war es noch interessant, aber als die Nacht kam, versuchten wir zu schlafen. In jedes Gepäcknetz krabbelten zwei Kinder. Die anderen vier Kinder legten sich auf die Holzbänke.

Es war schon Vormittag, als wir in Dresden ankamen. Wir mussten noch mit der Straßenbahn bis Dresden-Reik fahren. Dort in der Schule hatte man einen ganzen Flügel mit Klassenzimmern für uns abgestellt. Der Lehrer und der HJ-Führer bekamen einen Raum für sich. Zwei Klassenzimmer waren als Schlafräume mit Etagenbetten eingerichtet. Dann noch ein Tagesraum, in dem wir uns aufhalten konnten und auch Frühstück und Abendbrot gegessen wurde. Das Mittagessen bekamen wir in der Kantine einer Fabrik, gut fünf Minuten von der Schule entfernt.

Der Tagesablauf sah wie folgt aus: Um 7 Uhr weckte uns der Lehrer. Nach dem Waschen mussten wir die Zimmer aufräumen und die Betten bauen. Zwei von uns gingen dann zur Kantine und holten mit einem Blockwagen das Frühstück. Für jeden gab es zwei Brötchen mit Marmelade. Der Kaffee war in einer großen Thermoskanne. Ab 8 Uhr gab es das Frühstück und von 9 bis 12 Uhr hatten wir in unserem Klassenraum Unterricht. In den drei Stunden wurden wir von unserem Lehrer unterrichtet. Einen festen Stundenplan gab es nicht. Der Lehrer war in Hamburg Musiklehrer und schon recht alt. Es lag ihm mehr, uns was vorzulesen, als uns Mathematik und Grammatik beizubringen. Gelernt haben wir bei hm eigentlich nichts. Nachmittags war frei. Nur wer weiter weg ging, musste sich abmelden und zum Abendbrot zurück sein. Am Abend konnten wir uns auch noch mit Hobbys und Spielen beschäftigen. Um 22 Uhr war "Bettruhe".

Der Lehrer machte von Zeit zu Zeit mit uns Fahrten in die Stadt. Dresden hat viele Sehenswürdigkeiten. Einen Teil davon lernten wir kennen. Zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten in Dresden gehört der Zwinger, ein interessanter Barockbau mit einer großen Parkanlage. Im Inneren sind große Galerien mit kostbaren Gemälden. Anschließend gingen wir den kurzen Weg bis an die Elbe. Das war interessanter. Da fuhren Schiffe und Lastkähne, die auch bis Hamburg kamen.

Auf dem Weg durch die Stadt kamen wir auch an einer Kirche vorbei, die von den Dresdnern "Die dicke Tante" genannt wird. Es war die Frauenkirche, die eine gedrungene Form hatte und darum so genannt wurde. Etwas außerhalb von Dresden, in Radebeul, besuchten wir das Karl-May-Museum. Die meisten Jungs waren begeistert. Sie kannten viele Bücher von Karl May. Ich hatte noch kein Buch von ihm gelesen. Mir machte es Gedanken, wie ein Mann so viel erfinden kann, denn er war noch nie in Amerika und hatte auch keinen Indianer gesehen. Auch einen Tagesausflug in das Elbsandsteingebirge machten wir.

Dresden hatte man zur offenen Stadt erklärt. Das heißt, dass keine militärischen Anlagen in der Stadt waren. Man wollte so die vielen Kunstschätze, die in der Stadt vorhanden waren, schützen. Nach internationalem Recht durften nur militärische Anlagen angegriffen werden. Somit durfte die Stadt nicht bombardiert werden. Aber trotzdem gab es Fliegeralarm, wenn feindliche Flugzeuge in die Nähe kamen. Es war aber sehr selten. Wir Hamburger waren es anders gewohnt. Bei uns gehörte Fliegeralarm zum normalen Leben, wir mussten täglich ein- bis zweimal in den Luftschutzkeller gehen.

In unserer Freizeit bastelten wir gern. Wenn wir Material für unsere Bastelarbeiten brauchten, mussten wir es von unserem Taschengeld bezahlen. Meistens fuhren einer oder zwei von uns in die Stadt und kauften in den Kaufhäusern, was wir brauchten. So sparten wir das Fahrgeld. Am liebsten bauten wir Flugzeugmodelle. Am teuersten war die Klebe. Die Tube UHU war teurer wie der Bogen. Im Laufe der Zeit hingen immer mehr Flugzeuge an der Decke in unserem Tagesraum. Auch Mühle, Dame, Schach und Karten wurde gespielt. Dabei habe ich Skat gelernt, bin aber kein guter Spieler. Ich hatte andere Interessen. Mein liebstes Hobby war die Technik.

Kurz vor Weihnachten 1940 sagte uns der Lehrer, dass wir uns jeder ein Buch wünschen können. Der Kantinenwirt wollte uns damit eine Freude machen. Ich wünschte mir "Das neue Universum", ein Buch über neue Technik. Auch die Weihnachtspakete, die wir von zu Hause bekamen, wurden uns bei der kleinen Weihnachtsfeier am Heiligen Abend überreicht. In den meisten Paketen waren kleine Geschenke, Kuchen und Naschereien, die dann schnell verzehrt wurden. Solche zusätzlichen Leckereien waren immer begehrt. Unsere Eltern und Verwandten opferten dafür einen Teil ihrer Zuckerzuteilung. Aus Dankbarkeit für die Bücher brachten wir dem Kantinenehepaar ein Ständchen. Der Lehrer hatte zu einer Volksliedmelodie einen passenden text gedichtet, den wir in der Schule einübten. Als wir dann am Feiertag zum Essen kamen und die Essenausgabe geöffnet wurde, brachten wir ihnen unser Ständchen. Ganz ergriffen hörten sie uns zu.

Im Januar 1941 fuhren wir für 4 Wochen in ein Schullandheim ins Erzgebirge. Zuerst mit der Bahn bis Lauenstein. Dann 6 km zu Fuß nach Löwenhain. Nach einer Woche bekamen wir Ski. Immer zwei Jungs bekamen ein Paar und konnten abwechselnd fahren. Am nächsten Tag kam ein Lehrer aus dem Dorf und gab uns Unterricht. Wir lernten, wie man auf den Skiern läuft, Kurven fährt und bremst. Schon nach ein paar Tagen konnten wir uns ganz gut auf den brettern bewegen und schon kleine Ausflüge und Besorgungen für das Heim machen.

Am Abend las der Lehrer das Buch "Peter Pink" vor. Schon bei der ersten Seite gab es viel zu lachen. Da stand: "Es gibt Leute von denen man sagt, sie sind so faul, dass sie stinken, aber Peter Pink ist zum Stinken noch zu faul". Wir freuten uns schon auf den Abend, wenn der Lehrer wieder mit dem Buch kam.

Leider waren die 4 Wochen zu schnell um. Wir wären gerne noch länger da geblieben, denn die Freiheit, die wir hatten, war nun vorbei. In Dresden mussten wir wieder in die Schule und die anderen Pflichten fingen wieder an. Weil meine Schulzeit Ostern zu Ende ging und ich in die Lehre sollte, musste ich zurück nach Hamburg. Am 21. April 1941 war mein erster Tag als Werkzeugmacherlehrling.

lo