> Hannes Bienert: Das Novemberpogrom in Beuthen (Oberschlesien), 1938

Hannes Bienert: Das Novemberpogrom in Beuthen (Oberschlesien), 1938

Dieser Eintrag stammt von Hannes Bienert (1928-2015) aus Bochum, Juli 2013:

In Beuthen habe ich als 10-jähriges Kind die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erlebt. Wir hatten da nachts schon die SA grölen gehört. Die liefen durch die Straßen in ihren braunen Naziuniformen und den Stiefeln. Die Sprechchöre "Juda verrecke!" habe ich noch immer in den Ohren. Ich ging da morgens zur Schule - mein Vater war arbeitslos und wir hatten wenig Gelegenheit dazu, dass wir mal außerhalb der Reihe naschen konnten - und da kam ich oben auf den Ring. Der Ring war der Zentrale Platz, und wie ich später erfuhr, gehörte das dortige Schokoladen- und Süßwarengeschäft einem Juden. In der Mitte war die Tür und rechts und links waren zwei riesige Schaufenster. Dort kamen wir morgens auf dem Weg zur Schule an, und wir wussten ja gar nicht, was los war. Die Scheiben waren zerschlagen, und die Süßigkeiten lagen verstreut herum. Da stand ein SA-Mann Posten, damit wir nicht daran gehen konnten, dass nichts geklaut werden sollte. Wir passten auf und kletterten dann, als wir glaubten, wir wären sicher, schnell durch die kaputte Scheibe. Ich wollte ja nur ein Bonbon, Schokolade, was die Eltern nie kaufen konnten. Wir nahmen uns dann Schokolade und Bonbons und dann entdeckten die uns. Obwohl die Nazis alles zerstört hatten, durftest du nicht plündern. Das wollten sie lieber für sich verwahren, was weiß ich, was sie damit machten. Zwei Männer, zwei Nazis, liefen hinter uns her und wollten uns schnappen. Da kamen wir dann auf so ein altes Abstellgelände, wo diese Möbelwagen, die für Umzüge benutzt werden, standen. Unten an den Möbelwagen war ein Klappfach. Das konntest du hoch heben, das war für Spiegel, für große Sachen. Darin haben wir uns dann versteckt. Wir hörten wie die Nazis uns oben suchten. Wir hatten großen Bammel. Wir hatten eigentlich, weil die Oma Marktfrau war, sehr guten Kontakt zu den Juden.

Meine Mutter sagte, wenn die Kinder krank waren: "Wir gehen zum jüdischen Arzt!" Wir hatten gute jüdische Ärzte, gute Rechtsanwälte, aber das war ja verboten. Da mussten wir heimlich dahin gehen. Wir durften uns nicht sehen lassen. Ich kannte viele Juden sogar persönlich. Wie gesagt, die Oma war Marktfrau. Und damit die Eltern zu Weihnachten ein bisschen Geld verdienen konnten, verkauften die Mutter oder der Vater Karpfen neben dem großen Stand der Oma. In einer großen Zinkbadewanne waren die Karpfen drin. Ich musste dann, darauf war ich ganz stolz, die Karpfen ausliefern. Ich kannte dadurch viele Juden, denn die kamen und suchten einen Karpfen aus. Die kamen dann in eine kleinere Wanne und ich musste mit dem Wassereimer den Juden dann die Karpfen nach Hause bringen. Das war kurz vor Weihnachten. Dann kriegte ich immer zehn Pfennig oder so Trinkgeld, das war mein zusätzliches Weihnachtsgeld. Daher war meine soziale Einstellung zur jüdischen Geschäftstechnik gut. Der Kontakt mit den Juden war geprägt dadurch, dass ich immer hörte: "Der Arzt ist gut!" oder: "Der Rechtsanwalt ist gut!"

Die Juden waren nun in einer derartigen Notsituation, wir durften ja bei denen auch nicht mehr kaufen. An den Schaufensterscheiben stand: "Kauf nicht beim Juden!" Du wurdest fotografiert, wenn du da reingingst, und dann wurdest du bei der Nazizentrale vorgeladen. Wir kauften trotzdem bei den Juden, um sie zu unterstützen. Aber wir gingen nicht in den Laden rein, sondern man sprach den Juden an, und der kam dann mit Kinderschuhen oder mit einem Anzug, einer Hose, in die Wohnung rein. Die kamen dann jede Woche wieder, dann haben wir abgezahlt. Mit einer Mark oder zwei Mark. Eigentlich hatten die Juden insgesamt bei der Bevölkerung einen guten Ruf. Das war eben nicht zu verstehen, was dann damals am 9. November passierte. Das wurde von vielen damals nicht verstanden und begriffen, was man mit der jüdischen Bevölkerung machte.

lo