> Hannes Bienert: Hitlerjugend in Königsberg

Hannes Bienert: Hitlerjugend in Königsberg

Dieser Eintrag stammt von Hannes Bienert (1928-2015) aus Bochum, Juli 2013:

/lemo/bestand/objekt/bienert_01 Der Alltag für die Jugend während der NS-Diktatur sah hauptsächlich so aus: Ob Junge oder Mädchen, jeder musste einer Jugendorganisation beitreten. Es gab zwar keinen direkten Zwang, aber es wurde dann auf dich, wenn du nicht mitgemacht hattest, Druck ausgeübt und die Hitlerjungen versohlten mir den Hintern. Sie verprügelten jeden, der nicht mitmachte. Du warst ja ein Außenseiter und hattest dann auch nicht nur da, sondern auch, wenn das bekannt war, in der Schule Nachteile. Du warst kein treuer Nazi? - Das hatte seine Auswirkungen auch in der Beurteilung im Zeugnis. Also es hieß immer, keiner würde gezwungen, aber es war doch ein Zwang. Wir waren zu fast 100 Prozent damals organisiert, sowohl die Jungs als auch die Mädchen. Innerhalb der Jugendlichen gab es zwei Organisationsformen. Da waren einmal die 10- bis 14-Jährigen, die nannten sich die Pimpfe, das Jungvolk, wie das organisationsmäßig bezeichnet wurde. Aber eigentlich hieß es immer Pimpfe, das waren die kleinen Schnoddernasen von 10-14 Jahren.

Ab 14 Jahren kamst du dann in die HJ, das ist die Abkürzung für "Hitlerjugend", das war also nicht mehr das Jungvolk, sondern die nächste Altersgruppe. Die haben dann im Unterschied zu den Pimpfen die HJ-Binde getragen. Das war so eine breite Binde mit dem Hakenkreuz drauf. Das war natürlich erstrebenswert. Wenn du 14 Jahre warst, hast du sogar darauf bestanden, umgeschrieben zu werden in die HJ, denn du warst dann stolz. Das war so eine Art Symboltick, den man damals hatte. Das Gleiche gab es auch immer für die Mädchen. Sie wurden dann im BDM, das ist die Abkürzung für "Bund Deutscher Mädel", organisiert. Chauvimäßig sagten wir dann "Bubi Drück Mich" statt BDM.

Wir waren innerhalb der Organisationen in Gruppen unterteilt. Bei den Nazis war, sowohl bei der Jugend als auch im Privatleben der Erwachsenen, alles organisiert und erfasst. Eine Gruppe im Jungvolk von 10 Jugendlichen war dann eine Jungschar und zu jeder Jungschar von 10 Leuten gehörte ein Jungscharführer.Äußerlich  waren sie gekennzeichnet: Sie hatten rot-weiß geflochtene Schnüre, die gingen dann von der Schulterklappe der Uniformjacke bis hin zur Tasche. Das war von weitem zu sehen und man musste grüßen, wenn er vorbei kam, auch wenn du noch irgendeine Schnoddernase warst. Drei bis vier Jungscharen von 10 Jugendlichen wurden zusammengefasst zum Jungzug. Der Führer des Jungzuges trug die grüne Kordel. Ein Stadtgebiet oder Stadtteil mit mehreren Jungzügen nannte sich dann Fähnlein. Der Führer war der Fähnleinführer, er trug eine weiße Kordel. Das waren Führerpersonen, die musstest du grüßen und stramm stehen. Die ganze Stadt wurde dann als Bann, als Jungbann oder als HJ-Bann für Jungen und BDM-Bann für Mädchen, erfasst. Für diese beiden Organisationen gab es dann den Jungbannführer mit weiß goldener Kordel. Also alles nur Führer, Führer, Führer...

Über den Jungbannführern standen die Gauführer. An der Spitze der gesamten Jugendbewegung stand dann der Reichsjugendführer, er hieß Baldur von Schierach. Er wurde mit 26 Jahren von Adolf Hitler eingesetzt für die gesamte deutsche Jugend. Er war für den Ablauf, die Erziehung und alles was dazu gehörte – vor allen Dingen Gehorsam und Disziplin – verantwortlich. Darüber hinaus gab es innerhalb der HJ, wenn du dann in einer größeren Organisation warst, noch besondere Sondergruppen, so genannte Neigungsgruppen. In der Hitlerjugend also z.B. gab es die Wehrsportgruppe, da wurden Schießübungen gemacht. Dann gab es auch noch den Reitersport und Segelfliegen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Damals war das für uns begeisternd, das war sozusagen schon Vorbereitung auf den Krieg. Wer sich da in der Reiterstaffel oder im Segelfliegen bewies, bei dem sah man schon im Voraus, ob er eine Neigung für die Luftwaffe oder etwas anderes hatte.

Mich interessierte das Segelfliegen, weil ich damals nicht so weit dachte wie heute. Es gab beim Segelfliegen drei Gruppen. Jede hatte ein eigenes Abzeichen. Nach der ersten Prüfung hatte das Abzeichen eine Möwe und man war Gruppe A, nach zwei Prüfungen gab es zwei Möwen und man war Gruppe B und nach der dritten Prüfung war man in Gruppe C und hatte drei Möwen auf dem Abzeichen. Ich bin nur bis A gekommen, da kam dann der Krieg dazwischen und ich kam weg. Jetzt hatte ich mit Hitlerjugend nichts mehr zu tun, ich war dann Luftwaffenhelfer. Aber ans Segelfliegen erinnere ich mich noch heute.

Bei der Gruppe A hatten wir Windenstart mit einer Seilwinde. Ich setzte mich in ein Segelflugzeug rein, dann wurde die Seilwinde eingehakt, wie beim Abschleppen eines Autos. Das Seil war erst einmal ein paar hundert Meter ausgezogen, ungefähr wie beim Drachensteigen, und wurde gespannt, am Ende war das Segelflugzeug. Die Winde zog an und wickelte sich immer schneller auf und dann ging ich hoch. In einer bestimmten Höhe musste ich ausklinken. Ich konnte dann ein paar Runden drehen, segeln und kam dann nach einer bestimmten Zeit herunter. So kriegte ich die A-Prüfung. Das war eine der Möglichkeiten in der Hitlerjugend, wo wir auf den Krieg praktisch vorbereitet wurden. Das Gleiche gab es auch für Mädchen. Ähnliche Zusatzangebote waren der Einsatz in der Krankenhauspflege oder, so wie bei uns, als Luftwaffenhelfer. Später im Krieg wurden sie dann auch dort eingesetzt, im Funkdienst oder in den Feldlazaretten.

Natürlich waren wir alle uniformiert. Das sah dann so aus: Wir hatten dunkelblaue Kniehosen, das Braunhemd, so wie die Nazis das trugen. Die SA hatte sogar zwei Taschen am Hemd, wir hatten nur eine. Wir hatten dann einen Knoten aus Leder, da musste ich den Schlips durchziehen. Die schwarzen Binder konnte man nicht binden, sondern sie wurden um den Hals gehangen, geknotet und anschließend durch einen Lederknoten gesteckt. Man hatte noch einen Schulterriemen und einen Köppel, ein Schloss mit einem breiten Ring, darauf war das Hakenkreuz. Das war die Uniform. Ab HJ war jeder dann schon gekennzeichnet. Wir hatten eine Armbinde mit dem Hakenkreuz. Dazu trugen wir dann ein Käppi, ein Dreiecksschiffchen, auf dem Kopf. Zu der Winteruniform gab es lange Skihosen und eine Skimütze, so richtig mit Ohrenschützern dran. Mit der Hakenkreuzbinde um den Arm stellten wir etwas dar, und wir drangen darauf, in die HJ zu kommen. Wir hatten einen verkehrten Ehrgeiz, und die Uniform wurde zur Pflicht bei besonderen Anlässen.

Auch in die Schule musstest du damit kommen z.B. zu besonderen Feiertagen und Anlässen, wie Hitlers Geburtstag. Wenn man mit Uniform in die Schule musste, kontrollierte der Lehrer, der auch organisiert war, entweder in Naziuniform oder mit SA-Uniform, erst einmal die Schulklasse. Wir mussten einzeln im Korridor antreten und dann marschierten wir gruppenweise im Gleichschritt auf den Schulhof. Der Direx, logischerweise auch ein hoher Nazi, hielt eine große Rede. Es kamen auch örtliche Nazigrößen und wir mussten dann im Klassenverband vortreten und im Schulhof wurde die Flagge gehisst. Das Jungvolk hatte diese Landknechtstrommel und blies Fanfaren und wir mussten meistens ein Lied singen mit Trommeln und Fanfaren dabei, das ging dann so im Text: "Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg, wir werden weiter marschieren bis alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und Morgen die ganze Welt." Ursprünglich hieß es im Originaltext: "... denn heute hört uns…". Diese kleine Änderung wurde von den Nazis bewusst so gesungen.

Regelmäßig gab es natürlich für uns in der Hitlerjugend zwei Mal in der Woche Dienst. Am Mittwoch hatten wir Heimdienst und am Freitag hatten wir länger Dienst, weil samstags nur ein halber Tag Schule war. Am Heimabend bekamen wir politischen Unterricht. Wir mussten den Lebensweg vom Führer auswendig lernen, ich weiß heute noch den Anfangssatz: "Adolf Hitler als Sohn eines österreichischen Zollbeamten am 20. April 1889 in Braunau am Inn geboren ..." Auf dem Heimabend nahmen wir auch dieses Hitlerbuch, das er in der Festung Landsberg geschrieben hatte, als er damals in Festungshaft saß, durch. Das Buch ist berühmt im faschistischen Bereich: "Mein Kampf!" In jedes Haus gehörte sozusagen dieses Buch.

Zum Heimabendunterricht gehörte auch die Judenhetze: "Die Juden werden von Amerika finanziert, die beuten uns aus!" Es wurde auch über Blutschande gesprochen. Blutschande war Rassenschande. Das Vorbild, das von den Nazis angestrebt und gefördert wurde, bezeichneten sie als den "Germanischen Typ". Der "Germanische Typ" war groß, mindestens 1,80 m, blauäugig und blond. Selbstverständlich durfte keiner mit den jüdischen Mitmenschen, Mann oder Frau, Kontakt oder Geschlechtsverkehr haben oder heiraten. Auf dem Heimabend sangen wir auch entsprechende Lieder. "Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht es uns noch mal so gut!", das war der Standard-Song bei diesen Heimabenden, wenn Judenhetze war.

Die Hitler Jugend war zwar kein Zwang, aber wer sich weigerte oder irgendwie auffiel, der wurde bestraft. Nicht, dass du Schläge gekriegt hast, also doch, du kriegtest Schläge, aber das war dann so: Du wurdest vor der ganzen Truppe, wenn die angetreten war, gemaßregelt und im Wiederholungsfall kriegtest du dann die Strafe. Im Sportunterricht wurde einer ausgesucht, der stärker war. Beide bekamen Boxhandschuhe und der Stärkere hat dich dann nach Strich und Faden verprügelt bis das Blut spritzte. Bei den Geländespielen war das ähnlich. Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt, also wie an der Front und im Krieg. Es wurde nicht geschlagen, aber man wurde in den Schwitzkasten genommen, an den Armen genommen und gepresst, bis man keine Luft mehr kriegte. Bei den Geländespielen gab es auch noch den Reiterkampf. Der Stärkere nahm einen auf die Schulter und dann wurde gekämpft. Geländespiel nannte sich das schon, aber es war immer mit Krieg und Gewalt verbunden. Wenn ein paar nicht ganz mit zogen, gab es dafür eine Extrastrafe, und wenn das nur Boxen war.

Das setzte sich dann auch fort, diese nationalsozialistische Erziehung. Wenn wir den Heimabend hatten, quatschten wir vorher im Chor so eine Art Gelöbnis herunter, einen Spruch. Wir mussten aufstehen, stramm stehen, und bevor der Jungzugführer oder Fähnleinführer mit seinem Thema "Rassenkunde" oder "Blutschande" oder sonst einem Thema anfing, mussten wir dann den Slogan aufsagen, der lautete damals: "Hitlerjungen sind zäh wie Leder, flink wie die Windhunde und hart wie Kruppstahl!" Das mussten wir richtig brüllen, dann durften wir uns hinsetzen und es ging los. Ein Hitlerjunge weint nicht, ein Hitlerjunge ist nicht schwach und ein Hitlerjunge, ein echter Hitlerjunge übernimmt immer die Führung, versucht immer das Beste, das Maximum heraus zu holen!

Das setzte sich das ganze Leben fort, unter den Faschisten, bis hin in die Luftwaffenhelferzeit. Es gab immer Druck, du konntest nicht ausweichen. Wir hatten später einen bei den Luftwaffenhelfern, der immer auffiel, wenn wir im Gleichschritt marschierten. Wir mussten dabei die Hände schwenken, doch dieser Junge hatte eine motorische Störung, er konnte das nicht. Der Unteroffizier schrie immer: "Hände schwenken!" Wir marschierten im Gleichschritt und schwenkten wie üblich – mal den linken, mal den rechten Arm. Er schwenkte beide Arme gleichzeitig so, dass er alle, die hinter ihm marschierten, aus dem gleichmäßigen Takt brachte. Dafür kriegten wir jedes Mal "Strafexerzieren", alle! Uns wurde gesagt, wir sollten uns den Jungen in der Freizeit mal vorknöpfen, sonst würden wir nachher noch einmal bestraft. Das klappte aber nicht, weil der Junge eben diese motorische Funktionsstörung hatte. Er kriegte das einfach nicht so wie wir hin.

Der Junge schlief nicht in meinem Zimmer, sondern im Nebenzimmer. Eines Morgens traten wir an und er fehlte. Die Kameraden, bzw. die sich Kameraden nannten, von seinem Zimmer wussten angeblich auch nicht, wo er war. Wir suchten im ganzen Gelände. An der Flakstellung war eine Bahnböschung, die das Gefechtsgelände begrenzte. An der fanden wir ihn. Er hatte sich vor den Zug geschmissen, Kopf ab!

Es hieß ja: "Erzieht ihn euch selbst!" Die Kameraden hatten ihn zu guter Letzt im Bett mit schwarzer Schuhcreme eingerieben und das Kopfkissen mit den Federn ausgeschüttet. Den ganzen Körper mit der Schuhcreme und den Federn, da drehte der Junge total durch, haute mitten in der Nacht ab und schmiss sich vor den Zug. Er konnte das nicht mehr ertragen. Das war das Ergebnis dieser schrecklichen Erziehung: "Tapfer und flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!" Das Ganze wurde nicht direkt bestraft, die Schuldigen haben wohl eine Rüge gekriegt, pro forma wurde das getadelt. Die Folge dieser faschistischen, nationalsozialistischen Erziehung war: Keine Menschlichkeit, keine Tränen vergießen, sonst wurdest du geächtet. Ein Hitlerjunge hatte hart wie Kruppstahl zu sein …

Ein schreckliches Erlebnis aus meiner HJ-Zeit, das für immer in Erinnerung bleiben wird, war an einem Sommernachmittag. Durch Königsberg fließt die Pregel, und im Sommer gingen wir häufig mit unserem Jungzugführer Wolfgang dort schwimmen, der für uns 10-11-Jährigen Mutproben abhielt. Wir mussten auf Lastschiffe klettern, die von Schleppern gezogen wurden, und von dort ins Wasser springen. Nach dem Motto nationalsozialistischer Erziehung, ein Hitlerjunge müsse flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl sein, wollte der Jungzugführer uns Pimpfen gegenüber ein Beispiel besonderen Mutes geben. Er wurde ein Opfer übertriebener Tapferkeit, denn er kletterte statt auf die motorlosen Lastschiffe auf das motorisierte Schlepperschiff. Beim Sprung ins Wasser kam er in die Schiffsschraube, die natürlich eine Wirkung hatte wie ein Fleischwolf. Feuerwehrleute holten die menschlichen Reste aus dem Fluss und wickelten sie in eine Decke. Das war das Ende unseres Jungzugführers Wolfgang.

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