> Hermann Lohmann: Rettung über das Frische Haff 1945

Hermann Lohmann: Rettung über das Frische Haff 1945

Dieser Eintrag stammt von Hermann Lohmann (1925-2016) aus Deutsch Evern, Februar 2010.

Im März 1945 hatte sich unsere "Panzer-Division Hermann Göring" bei Balga am Frischen Haff der sowjetischen Großoffensive zu erwehren. Am 25.3.1945 wurde durch die Heeresführung endlich erlaubt, den völlig sinnlos gewordenen Kampf gegen die riesige Übermacht des russischen Gegners aufzugeben. Es wurde die Rettung über das Frische Haff erlaubt.

In der Nacht vom 27. auf den 28.3.1945 gelang es mir, mich über das Haff zu retten. Es herrschte totales Chaos am Strand. Der Russe schoss mit allem was ihm an Artillerie und Stalinorgeln zur Verfügung stand in die Menschenmassen am Strand hinein und auf die über das Haff mittels Booten und Flößen flüchtenden Soldaten. Verwundete schrieen überall. Sie wurden kaum oder gar nicht mehr versorgt. Ich dachte in diesem furchtbaren nächtlichen Chaos nur: Hoffentlich wirst du nicht verwundet, hoffentlich bist du gleich tot, wenn es dich treffen sollte.

Am 27.3.1945, es war eine dunkle, mondlose, aber sternklare Nacht, gespenstisch erleuchtet vom Feuer der Granateinschläge und der Brände am Haffufer. Das Krachen, Bersten und Heulen der Geschosse, das Schreien der Menschen, das Angstgewieher der Pferde war grausam - es war die Hölle. Trotz allem gelang es mir, auf einem Floß dem Inferno zu entkommen.

Als es dunkel wurde, stiegen wir auf ein selbstgebautes Floß, welches aus einer Scheunentür bestand. Darunter waren leere Benzinkanister mittels Telefondrähten und Nägeln befestigt. Als wir mit etwa zehn Mann und unseren Gewehren und Rucksäcken auf dem Floß standen, sprang vom flachen Strand noch ein junger Soldat einer fremden Einheit auf unser Floß. Das Floß trug uns nicht. Es ging am Strand unter. Als wir alles Gepäck weggeworfen hatten, trug das Floß noch immer nicht. Ein Mann musste von Bord gehen. Der junge fremde Soldat wurde aufgefordert zu gehen und als er nicht freiwillig ging, vom Floß gestoßen. Ich sehe ihn noch heute durch das seichte Wasser zum Strand zurückwaten. Er schrie: "Mama, hilf mir doch, hilf mir."

Das Floß hielt uns nur mühsam über Wasser. Auch mich wären die sich auf dem Floß befindenden Unteroffiziere und Wachmeister wohl am liebsten noch los gewesen. Aber sie hatten wohl Angst, sich alleine nicht orientieren zu können. Ich erklärte ihnen jedenfalls sehr schnell anhand der Sterne, die in dieser dunklen, mondlosen Nacht gut zu sehen waren, wo der Polarstern stehe und wo deshalb Norden sei. Ich weiß bis heute nicht, ob sich wirklich keiner auf dem Floß am Sternenhimmel auskannte. Ich blieb jedenfalls auf dem Floß. Vielleicht hat mir ja die in der Schule und als Hobbyastronom erworbene Kenntnis des Sternhimmels damals das Leben gerettet.

Einen Bericht hierzu schrieb ich meinen Eltern am nächsten Morgen in Neutief auf der Frischen Nehrung gegenüber Pillau. Es war ein seltsames Gefühl als plötzlich völlige Ruhe herrschte. Es wurde also gegenüber in Balga nicht mehr gekämpft. Der Russe hatte dort den Rest des Festlandes erobert. Es war eine seltsame, trügerische, unheimliche Ruhe, die ich nach all dem Chaos und Kampfeslärm irgendwie noch nicht begreifen konnte.

In dieser Stimmung schrieb ich an meine Eltern folgenden Brief, der noch am 6.4.1945 von einer Luftwaffeneinheit mit der Feldpost-Nr. L48912 Luftgau-Postamt Königsberg Ostpreußen abgestempelt worden ist. Erstaunlich ist, wie lange dort die Feldpost noch funktionierte, denn am 9.4.1945 hat Königsberg kapituliert. Ich habe den Brief mit Pillau, den 27.3.1945 datiert. Ich bin aber der Meinung, ihn in Neutief gegenüber von Pillau unmittelbar nach der Flucht über das Wasser des Haffs geschrieben zu haben. Es muss der 28.3.1945 gewesen sein, denn der Russe hat Balga am 28.3. eingenommen und es herrschte gegenüber auf dem Festland bereits absolute Ruhe.

"Pillau, d. 27.III.1945

Meine lieben Eltern! Ihr habt sicher große Angst um mich ausgestanden. Aber nun ist alles überstanden, denn ich bin mit dem Rest meiner Kameraden glücklich der Hölle von Balga entronnen. Es war wirklich furchtbar, was ich in den letzten Tagen erlebt habe. Aber gestern abend hatte alles ein Ende. Es wurde gerade dunkel, als wir uns ein Floß aus Holz und Benzinkanistern machten und ruderten mit Hilfe von Spaten vom Land weg übers Frische Haff. Wir waren mit 10 Mann auf einem Floß und mussten alles Gepäck wegwerfen, weil es sonst zu schwer geworden wäre. Als wir so 2 Stunden gerudert waren und schon der Erschöpfung nahe, kam die Rettung. Ein Seenotboot kam auf uns zu geschossen und nahm uns auf. War das ein herrliches Gefühl, als wir nun endlich geborgen waren.

Mitten in dieser Hölle erhielt ich noch 3 Briefe von Euch. 2 von Vater vom 21. u. 22.1. und von Mutter vom 10.2. Meinen allerherzlichsten Dank dafür. Es war wirklich eine Freude, als es mitten im Hexenkessel von Heiligenbeil hieß, es gibt Post und es waren 3 Briefe für mich dabei. Was ich in den letzten Tagen gesehen habe, kann ich Euch mit Worten gar nicht schildern. Aber jetzt geht es mir wieder sehr gut, denn nun sind wir geborgen. Hoffentlich geht es Euch auch noch einigermaßen und macht Euch der Tommy nicht zu viel Sorgen mit seinen Fliegern! Nun seid recht herzlich gegrüßt von Eurem Sohn Hermann.

Ich wollte mehr schreiben. Aber erstens geht es hier schlecht und zweitens bin ich sehr müde und mit den Nerven fertig."


Es herrschte allgemein bei unserer Einheit ein chaotisches Durcheinander. Wir wurden dann von Neutief nach Pillau gebracht. Dabei fanden sich auch etwa 80 Mann von ca. 300 Mann meiner Einheit unter anderem auch Fritz Speckmann und Franz Heieis wieder ein. Wir marschierten dann durch das Samland in Richtung Fischhausen. Wir lagen dort in einem Fichtenwald. Irgendwie haben wir uns dort im Wald mit unterwegs gefundenen Ausrüstungsgegenständen wie Zeltplanen und Decken wieder eingerichtet. Wir gruben im Wald eine 10-20 cm tiefe Mulde und machten sie eben. Dieser Liegeplatz für 3-4 Kameraden wurde dann mit Fichtenreisig ausgepolstert, um nicht auf der nackten Erde liegen zu müssen. Darüber haben wir wohl mittels Fichtenstangen ein Dach gebaut, welches wir mit Fichtenreisig abgedeckt haben, um etwas vor Regen geschützt zu sein.

Trotz allem haben wir den Mut nicht verloren. Wir hatten kein Brot. Aber neben uns im Wald lag eine pferdebespannte Trosseinheit, deren Planwagen bis oben hin mit Kommissbroten beladen waren. Obwohl wir um Brot baten, gab uns der Zahlmeister nichts. Wir griffen deshalb zu einer List. Zwei von uns Kameraden unterhielten sich mit der Wache und lenkten deren Aufmerksamkeit von den Planwagen ab. Währenddessen bestiegen andere von uns von hinten die Planwagen und nahmen sich mehrere Arme voll Brot. Das Brot wurde sofort unter den Kameraden unserer Einheit verteilt. In der letzten Phase des Rückzuges in Ostpreußen kam es oft vor, dass die Zahlmeister Verpflegungslager bis zuletzt verteidigten und an die eigene Truppe nichts herausgaben. Viele Verpflegungslager sind dadurch den Russen unversehrt in die Hände gefallen oder wurden im letzten Augenblick in die Luft gesprengt. Es ist aber auch öfter vorgekommen, dass Soldaten Zahlmeister gerade noch rechtzeitig, teilweise sogar mit Waffengewalt, gezwungen haben, die Verpflegungslager freizugeben. Wir brauchten jedenfalls kein schlechtes Gewissen zu haben, als wir uns das Brot nahmen.

Am 1. Ostertag, den 1. April 1945 lagen wir noch bei Fischhausen im Wald. Dort habe ich die Deutsche Frontzeitung "Der Stoßtrupp" erhalten, die ich bis zu Hause in meiner Bekleidung zusammen mit dem letzten Brief meiner Mutter bei mir getragen habe. Auch meinen Fotoapparat habe ich bis zu Hause im Brotbeutel mitgeschleppt und so gerettet. Dieses war nur möglich, weil ich nicht in einem Gefangenenlager war. In dieser letzten Frontzeitung ist der Kampf in Ostpreußen und die Schlacht am Frischen Haff vom Kriegsberichter A. Haas verhältnismäßig sachlich dargestellt. Allerdings stellt er trotz der katastrophalen deutschen Niederlage die Kämpfe der eigenen Kameraden und der deutschen Armee sehr positiv dar. Eine Betrachtungsweise, die auch heute noch in jeder Armee der Welt trotz eigener Niederlagen üblich ist. Die Vernichtung der Deutschen 4. Armee am Frischen Haff habe ich miterlebt und überlebt. Kurz nach Ostern 1945 erfolgte dann die Rettung über die Ostsee.

lo