> Paul Diekmann - Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil IV (Oktober bis Dezember 1916)

Paul Diekmann - Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil IV (Oktober bis Dezember 1916)

Dieser Eintrag stammt von Gertrud Mohr, Cord Diekmann und Christel Lohmann (info@cord-diekmann.de), den Enkelkindern Paul Diekmanns, Juni 2008:

 

Feldpostbrief, 18. Oktober 1916

Im Bismarckstollen am Ancretal, den 18. Oktober 1916
B 6, donnerstags, nachmittgs. 5 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Da bin ich nun wieder glücklich im schönen Bismarckstollen. Ein Tag ist sogar schon wieder um. Die 14 Tage werden wieder recht schnell verfliegen. D.h. wenn nicht wieder so wahnsinnige Angriffe folgen, wie die letzten 14 Tage hier im Bismarckstollen wir sie beobachten mußten.

Beschossen werden wir ja hier nicht mehr und nicht weniger als vorn. Aber es tut wohl, nicht die Verantwortung in erster Linie tragen zu müssen. Insofern bedeuten die 14 Tage hoffentlich eine Erholung! Und wenn sie um sind, ist auch der Oktober um und damit die Zeit, die uns eigentlich für diese Stellung bestimmt war. Es wird ja auch für diese Zeit von Ablösung geredet. Ich glaube zwar nicht daran, und wir alle wünschen es auch kaum. Niemand weiß, was folgt.

Nun hatten wir vorige Nacht gewaltigen Regen. Aber dem Engländer scheint das nichts zu machen. Die Artillerie schießt mehr als sonst. Gestern abend bekam's mein schöner Graben. Er sah beim Abschied übel aus. Ich wollte noch einmal durchgehen, hatte mir einen zerschossenen Unterstand angesehen, in dem wie durch ein Wunder niemand verletzt worden war, und mußte dann wieder umkehren. Eine Granate hatte zwei englische Leichen, die vom 3. Septb. noch herrührten u. die dicht am Graben verscharrt gewesen waren, wieder hochgehoben u. sie genau mitten in unsern Graben geworfen. Dem Geruch hielten meine Nerven doch nicht stand. Zwei brave Sanitäter haben sie trotzdem wieder fortgeschafft. Wann mögen so arme unglückliche Leichen endlich die letzte Ruhe finden? Noch nicht einmal, wenn Frieden wird. Man muß doch die Schützengräben später wieder einebnen. Ob man dann wohl die Gebeine sammeln wird? Ob man nicht hart u. abgestumpft wird? Viel zu sehr, um alle wahre Menschlichkeit zu vergessen und zu verachten? Jedenfalls wird man dann nicht mehr unterscheiden Können zwischen Freund und Feind. Die Knochen erzählen davon nichts.

Gestern abend hat's Abendessen mal wieder gut geschmeckt. Mein Bursche hatte mal wieder gekocht, u. der versteht's. Zur Feier des Tages gab's sogar Pudding mit eingekochten Erdbeeren. Der Pudding war aus kondensierter Milch und Puddingpulver entstanden. Er schmeckte natürlich auch dementsprechend. Aber es war doch wenigstens mal wieder Pudding! Vor ein paar Tagen gabs sogar mal Apfelbrei. Ltn. Reinecke hatte mir einen Sack Äpfel besorgt. Roh nicht zu genießen. Aber der Apfelbrei war umso schöner. Das beste ist aber mein guter Appetit. Ich bin zwar längst nicht wieder so dick geworden als ich mal war. Aber mein Befinden ist vorzüglich, u. das ist die Hauptsache. Erkältungen kenne ich kaum. Und wenn sie mal kommen, sind sie auch über Nacht wieder fort. Die 6 langen Wochen habe ich zwei Taschentücher gehabt. Sie sind selten gewaschen und haben vollkommen ausgereicht. Auch mein Rheumatismus regt sich nur zeitweise noch und ist zu ertragen.

Du brauchst Dir also keine großen Sorgen zu machen, I.L! Wenns ruhiger wird, halte ich noch einmal einen Winter aus, wenn's sein muß. Wenn wir dann nur nicht in gar zu nasse Gegenden kommen! Nun, da wir sozusagen im Winter drin sind, zweifelt am Winterfeldzuge niemand mehr. Traurig, aber wahr!

Gestern abend kam nur ein Brief von Siekmann. Über den kann man sich freuen. Und wenn ich glücklich heimkommen sollte, werden wir um so lieber auch mit Siekmanns verkehren, nicht wahr, Liesi? Nun höre ich aber so allgemein von Deinem frischen guten Aussehen rühmen, Liesi, daß ich daran glauben muß! Daß es so bleibt, ist nun natürlich Deine Sache. Mahnen u. bitten will ich nicht. Aber ich vertraue fest auf Deine Einsicht.

Morgen finde ich hoffentlich wieder Zeit zum Schreiben! Ich hoffe sogar mal wieder gute Bücher lesen zu können. - Gott befohlen, mein treues Lieb! Grüß u. küß mir meine beiden herzlieben Jungen, sei aber vor allem auch Du innigst gegrüßt u. geküßt von

Deinem Dich treu liebenden Paul.


 

Feldpostbrief, 29. Oktober 1916

Im Bismarckstollen B 6, den 29. Oktober 1916
am Sonntagmorgen um 3/4 8 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Sonntag ist's, u. kaum wirds hell. Das übliche Artillerieschießen scheint beendet zu sein. Jetzt fallen nur noch einzelne Schüsse. Da weilen meine Gedanken längst bei Euch im lieben Heim, u. heute werden sie, will's Gott, noch häufige Einkehr halten dort. An Zeit und Muße fehlt's ja nicht. Wenn man solange ununterbrochen in Stellung liegt, dann bildet sich allmählich ein so fester, regelmäßiger Dienstbetrieb heraus, daß sich die tägliche Arbeit schnell erledigt. Und was ich früher alles selbst machen mußte, das macht jetzt mein Schreiber bis auf die Unterschrift fertig. Ich finde da viel Zeit zum Lesen u. habe die Gelegenheit auch redlich ausgenutzt. Und doch befriedigt dies Leben nicht so ganz. Ruhezeit und Feierstunden müssen ein seltener Genuß sein, müssen sein wie Oasen in der Wüste. Dann erquicken sie und sind ein Genuß und däuchen uns als ein Geschenk des Himmels. Arbeit ist und bleibt ein Segen, und der Gott, der die aus dem Paradies Vertriebenen strafte, hat gestraft wie ein liebender Vater immer strafen sollte und doch ein Gott nur strafen kann, als er sprach: Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen. Da blickt mancher trüb in die Zukunft, denkt an Steuern und an hohe Preise nach dem Kriege und fürchtet im Stillen die Einschränkungen und das harte Arbeiten. Und doch ist alles das wahrscheinlich der einzige wirkliche Segen des Krieges.

Wie freue ich mich schon jetzt auf all' die Arbeit, die meiner harrt! Wie schön sollen dann aber auch die Feierstunden sein. Nicht seltener werden sie kommen als früher. Im Gegenteil. Im Grunde genommen wird doch auch jede Stunde Arbeit an unsern Kindern Feierstunde und Erholung zugleich sein. Das hoffe ich zu Gott. Wenn diese Stunden nur erst da wären! - Aber scheint heute nicht alles noch in unendlich weiter Ferne? Mehr fast denn je. Unsere Erfolge vor Verdun nimmt man uns mit leichter Hand, fast spielend, wieder. Hat die deutsche Kraft nachgelassen? Die Feinde werden's glauben, den Neutralen wird's jubelnd verkündet werden. Uns Kämpfern hier an der Somme hat's Herz still gestanden für ganze Augenblicke. Wir haben's nicht glauben mögen, was erst als Gerücht hier durchkam. Und gestern habe ich meinen Augen nicht getraut, als ich den Heeresbericht sah. 'Hast Du Dich zürnend gegen uns gewendet?' so fragt man seinen Gott. Und in heißer Herzensangst habe ich inbrünstiger als sonst noch gefleht zum Herrn der Heerscharen. Vergeßt auch Ihr daheim das Beten nicht! Nur einer kann noch helfen in des armen Vaterlandes traurig tiefer Not. Das sollte jeder einsehen. - Ob Du zur Kirche bist, Liesi? Es ist gerade 10 Uhr. Die Stunden fliegen. Nur noch zwei Tage, dann sind wir wieder vorn. Gut, daß Mondenschein kommt. Die Nächte sind jetzt entsetzlich finster. Auch heute scheint's trüb und regnerisch zu bleiben. Soll man dies Wetter wünschen? Das Fort Douaumont haben uns die Franzosen im Schutze des Nebels wieder abgenommen.

Gestern abend habe ich keine Post von Dir bekommen. Von der am 26./10. verunglückten Post sind wenigstens die Briefsachen wieder aufgefunden worden. Alle Pakete sind natürlich gestohlen worden. Gestern abend schickte mir Gustav ein Paket mit Äpfeln und Nüssen. Der liebe Kerl denkt eigentlich noch am meisten an mich. Rudolf schreibt nun auch häufiger. Er ist wohl für einige Tage in der Senne. Daher kann ich ihm kaum antworten. In Düsseldorf scheint's ihm nicht zu gefallen.

Eigentlich müßte ich noch einmal durch die Stellung. Da es aber ziemlich regnet, warte ich noch damit. Gestern abend bekam ich 8 Mann Ersatz. Gesunde Leute. Verluste haben wir in letzter Zeit gottlob sehr wenige gehabt. Gebe Gott, daß das so bleibt!

Mit herzlichstem Sonntagsgruß u. heißen Küssen für Dich und unsere Lieblinge u. mit treuem 'Gott befohlen' bin u. bleibe ich

Dein Dich liebender Paul.


 

Feldpostbrief, 31. Oktober 1916

Im Bismarckstollen am Ancrebach, B 6
am Dienstag, d. 31. Oktober 1916, morgens 10 Uhr.

Mein heißgeliebter, kleiner Helmut!

Zwei Jahre bist Du nun alt. Und kaum 5 Wochen von den 104 Deines jungen Lebens hat sich Dein Vater Deines Anblicks freuen dürfen. Aber gottlob ist das nicht die einzige Freude geblieben! Dein gutes Mütterlein hat mir in lieben Briefen so oft und so trefflich Dein liebes Bild gemalt, daß ich meinen Jüngsten immer habe wachsen und sich entwickeln sehen. Schöne Photographien halfen mir das liebe Bild oft vervollständigen, das ich von Dir im Herzen trage. So hast Du ohne Deinen Vater ein gut Stück Deines Lebensweges zurückgelegt u. mußt vielleicht noch ein ander Stück ohne mich weiterwandern. Wer kann in die Zukunft blicken! Wer sagt Dir und mir, ob wir uns wiedersehen dürfen!

Aber wir wollen nicht sorgen und nicht zagen. Gerade jetzt, wo ich manchmal keinen Ausweg sehe aus all der schweren Not des Vaterlandes, wo kein hoffnungsfroher Lichtstrahl all das Dunkel um uns erhellen will, da schreibt mir unser liebes, gutes Mütterlein, daß sie sich stark und gesund fühlt. Wenn Gottes Güte die beste aller Mütter Dir erhält, Helmut, dann ist mir nicht bange um Dich und um Deine und Deines Bruders Zukunft.

Paulchen hat ein Tagebuch bekommen, bald nach seiner Geburt. Gern und oft hab' ich von seinem Wachsen und Werden darin festgehalten. Du hast solch ein Buch nicht. Es war ja Krieg. Aber wenn Deine Mutter oder in den paar Urlaubswochen mal Dein Vater das Buch vervollständigt haben, dann ist nie bloß von unserm Ältesten die Rede, sondern allemal auch von Dir, dem heißgeliebten Jüngsten. So gehört denn das Buch Euch beiden. Ich weiß, Ihr einigt Euch später gern darum. Und wenn's wirklich Dein Bruder als der Älteste in Verwahr hat: blättert recht oft gemeinsam darin! Lieben werdet Ihr einer den andern, wie Eure Eltern Euch lieben, den einen so wie den andern. - Das Blatt wird Mutti Eurem Tagebuch einfügen.

Zwei Jahre, Helmut! Lange Zeit! Und doch, wie sind sie geflogen! Und wie hat Gottes Güte über Dir gewaltet! Wenig Sorge hat Deine Gesundheit uns gemacht. Viel Freude aber haben wir an Deinem geistigen und körperlichen Wachstum haben dürfen. Gebe der treue Gott, daß das so bleibe! Ich will dann gern die harte Trennung noch länger ertragen, wenn ich Dich gesund wieder in meine Arme schließen darf, Helmut, Dich und Deinen Bruder Paul. Wieviel Glück ist's für mich doch allemal gewesen, wenn ich mich Eurer lachenden Gegenwart erfreuen durfte! Und wenn die Zeit jedesmal auch noch so kurz war! Ihr seid uns Sorgenbrecher. Euer frohes Kinderlachen, Eure harmlosen Fragen und Euer kindliches Geplauder haben gar oft schon das liebe, gute Mütterlein auf andere, leichtere und frohe Gedanken gebracht. Gebe der treue Gott in Gnaden, daß Ihr beide auch weiterhin unser Trost und unsere Freude bleibt!

Je trüber die Gegenwart erscheint, je banger wir in Deutschlands Zukunft blicken, desto mehr seid Ihr beide unsere Hoffnung. Ich habe das feste Vertrauen, daß Ihr unsere Hoffnungen nicht zuschanden macht. Ich habe ja bisher so wenig für Euch tun können, besonders für Dich, mein lieber Junge. Was ich tat, tat ich für alle daheim, fürs teure Vaterland. Aber vergiß mir nie, was Deine treue Mutter getan hat für Dich! Getan, trotzdem es ihr oft schwer genug geworden ist! Und nun mit Gott hinein ins neue Lebensjahr, mein lieber Bub! Er schütze und schirme Dich weiterhin väterlich! Ich bin und bleibe Dein getreuer

Vater.


 

Feldpostbrief, 7. November 1916

Im Schützengraben am Ancrebach
B. 6, U. 29, Dienstag, den 7. November 1916, nachmittags 3 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Mir geht's wie Dir. Dann kommt mal zwei Tage lang keine Post, und dann kommen gleich wieder mehrere Briefe auf einmal. Gestern abend kamen zwei. Vom Donnerstag und Freitag. Letzterer sogar erst am 4. gestempelt. Da brauche ich mir also für heute abend wohl keine Hoffnung zu machen. Vater schrieb auch. Gerade, nachdem ich mich in Deinem Briefe von gestern noch darüber gewundert hatte, daß ich von Waddenhausen solange ohne Nachricht sei. - Auch Vaters Brief war schon vom Freitag. Er scheint sich über den 8. Oktober sehr gefreut zu haben. Du, m. L., hattest damals sicher zu wenig Zeit. Sonst hättest Du ja auch von den beiden Bubenjungen etwas geschrieben.

Im Briefe vom Donnerstag meinst Du, daß Du Dich von der Luft nicht ganz abgewöhnen wollest. Ich schrieb ja vor einigen Tagen noch darüber u. bitte nochmals, Liesi: Geh so oft u. so lange als irgend möglich nach draußen! Daß ich in den letzten Tagen wieder etwas mehr frische Herbstluft mitbekommen habe, schrieb ich ja schon. Sie ist mir auch ganz vorzüglich bekommen. Aber heute morgen war ich trotz des üblen Regenwetters draußen. Aber der Regen steckt mir wieder böse in den Knochen. Der Rheumatismus im rechten Beine regt sich wieder. Einige Tage lang habe ich ihn gottlob kaum gespürt. Ich muß jedenfalls heute mal wieder massieren u. war schon so froh, daß ich die Schmerzen los war.

Jetzt scheint mir der eigentliche Winterregen eingesetzt zu haben. Nach den Stürmen der letzten Tage war ja damit zu rechnen. Wenn damit nun nur auch das blödsinnige Artillerieschießen aufhören wollte! Aber das ist heute noch toller als gestern. Da werden unsere Gräben bald nett aussehen! - Vorige Nacht gabs hier ein schauerlich schönes Schauspiel, wie ich's noch nicht erlebt habe. Ich hatte mich gerade zu Bett gelegt, als meine Posten oben am Unterstande herunterriefen, daß bei Albert ein Riesenbrand sei. Der Himmel war dann auch südöstlich von Albert blutrot, und alle paar Minuten flogen Flammenbündel bis an die Wolken. Kein Zweifel: Das waren Riesen-Explosionen. Und bald sah ich dann auch, wie hoch oben in höchsten Höhen Schrapnells platzten. Man schoß auf Flieger. Scheinwerfer suchten den Himmel ab. Aber wohl vergeblich. Unsere wackern Flieger sind hoch über den Wolken heimgekehrt. Hoffentlich alle! Ihre Bomben haben scheinbar riesige Munitionslager der Engländer in Brand gesetzt. Dumpf drangen aus einer Entfernung von 20 km die Schläge ans Ohr, und der Luftdruck löschte unsere Lampen. Das muß furchtbar gewesen sein. Noch jetzt steigen dort Dampfsäulen auf. - Sag unserm Bubenjungen nur, daß seine Entschuldigungen nicht stichhaltig seien. Er müsse mal wieder schreiben. Bald will doch das Christkindlein kommen. Daß er Großmutter mehr liebt als Dich, ist zu erklärlich. Aber auch nicht schlimm. - Wann hat Mutter Geburtstag? - Nun ist schon wieder die halbe Zeit hier vorn um. Schneller sind mir die Tage wohl nie geflogen. - Ich bin u. bleibe mit herzlichstem Gruß und heißen Küssen für Dich u. Bub u. Helmut u. mit treuem "Gott befohlen" Dein Dich liebender

dankbarer Paul.


 

Feldpostbrief, 11. November 1916

Im Schützengraben am Ancrebach, den 11. November 1916
B 6, U 29, am Sonnabend Abend um 1/2 6 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Ihr rüstet auf den Feiertag. Hier scheint's nicht so, als ob der Sonntag ein Ruhetag werden sollte. Ununterbrochen liegt seit heute Mittag wieder schwerstes Feuer auf unsern Gräben. So kannten wir's seit langem schon nicht mehr, u. wir hatten uns eigentlich alle schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß endlich, endlich das Ende der Offensive da sei. Das scheint nun keineswegs so. Gestern morgen fing's mit einem furchtbaren 3/4 stündigen Trommelfeuer wieder an. Dann kam einige Ruhe bis zum Nachmittage. Aber dann ging's weiter die ganze Nacht durch und endete mit dem gewaltigen Trommelfeuer heute morgen. D.h. nur, um gleich nach Mittag um so toller wieder einzusetzen. Rechts von uns ist's allerdings noch viel schlimmer. Sonst war wenigstens jeden Abend um diese Zeit Schluß, u. die Leute konnten Essen holen. Ob's heute anders sein soll? Das wäre allerdings ein übles Zeichen.

Aus den Heeresberichten der letzten Tage sehe ich, daß auch an der Somme und bei Verdun die Schlacht weiter tobt u. daß vor allem die Franzosen immer weitere Vorteile erringen. Da dürfen natürlich die Engländer schon nicht untätig bleiben, auch wenn sie es vielleicht gern möchten. Ein Rätsel ist und bleibt uns, woher bloß die unendlich viele Munition kommt! Millionenwerte fliegen tagsüber auf und hinter unsere Stellung. Es ist furchtbar. Dabei war's den ganzen Tag nebelig. Flieger waren nur heute morgen da. Einen hat scheinbar einer meiner Grabenposten mit dem Gewehr heruntergeholt. Er landete dicht hinter der englischen Linie u. verschwand dort im Nebel.

Die Friedensgerüchte erhalten sich hartnäckig. Mit Rußland soll ein 10- oder 12-tägiger Waffenstillstand zustande gekommen sein. "Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube", sagt Goethe im Faust. Und diese Botschaft ist wahrlich zu schön, als dass man sie glauben könnte. Aber bei Gott ist ja kein Ding unmöglich. Zu ihm wollen wir rufen in all unserer Not, an ihn uns halten zu jeder Zeit!

Es ist gleich 6 Uhr. Ich komme von oben. Da hängt ein Nebel in der Luft, undurchdringlich dicht. Er fällt schon in leisen Tropfen nieder. Wir hatten Vollmond, u. nun wird wohl der eigentliche Winterregen einsetzen. Wenn nur bei solch unsichtigem Wetter nicht ein Angriff einsetzt! Man sieht dann die stürmenden Truppen erst dicht am Graben, wenn's zu spät ist, und die Signale von roten Leuchtkugeln, die unsere Artillerie zu Hilfe rufen sollen, werden nicht gesehen und sind vergeblich geschossen. Wenn dann kein Sperrfeuer einsetzt, kann der Feind in solchen Massen eindringen, daß an Verteidigung kaum zu denken ist. Andererseits weiß ja allerdings auch die feindliche Artillerie dann nicht, was los ist. Für unsere Grabenposten ist's jedenfalls eine schwere Aufgabe, in das undurchdringliche Grau hineinzustarren - stundenlang. Und das nun schon 10 Wochen, Tag für Tag, Nacht für Nacht! Was unsere braven Leute leisten, das wissen nur wir! Und wenn ich durch den Graben gehe und sie anspreche: Nie sind sie unzufrieden und mürrisch. Wie lieb ich darum die Leute habe! Wie es mir wehe tut, wenn einer schwer verwundet ist und dem sichern Tode entgegengeht! Und unendlich schwer wird's mir, dem Vater oder der Mutter daheim im fernen Polen oder sonstwo im lieben Vaterlande den Tod des braven Sohnes mitteilen zu müssen. Aber ich tue es stets selbst.

Jetzt endlich ist's etwas ruhiger geworden. Draußen klappern die Kochgeschirre schon. Und im Nebenstollen, wo meine Patrouillengruppe liegt, singt's u. klingts'. Steh ich in finst'rer Mitternacht - Goldig deutsches Gemüt! - Brief und Zeitung von Montag u. Dienstag kamen gestern abend. Vielen Dank, m. Lieb! Etwas schneller kommen ja nun meine Briefe auch wohl an! Der Angriff, von dem Du schriebst, war nicht nördlich, sondern östlich der Ancre. Also am andern Ufer. Dem lieben Helmut heißen Dank für sein liebes Schreiben! Kauf ihm doch mal recht etwas Schönes zum Dank dafür!

Bub hat mit Hans gespielt? Er schließt sich wohl gern an andere an?

Grüß u. küß auch ihn! Und damit dem treuen Gott befohlen!

Er wolle uns alle schirmen u. schützen! Mit treuem Gruß u. Kuß

Dein dankbarer Paul.


 

Feldpostbrief, 15. November 1916

Bucquoy, den 15. Novb. 1916
Mittwochmorgen 1/2 11 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Ich lebe und bin nicht gefangen. Vorgestern war die unglückselige Schlacht! Der ganze Regimentsabschnitt war sofort verloren. Nur 9. u. 10. Komp. haben alles gehalten.

Aber wir waren eingeschlossen. Da habe ich mich abends in der Dämmerung nach hinten durchgeschlagen, um Verstärkungen zu holen. Die gab's nicht, u. so ist am andern Tage meine ganze Kompagnie auch gefangen genommen. Ich kann mich nicht über meine Freiheit freuen. Ich hätte bleiben sollen, wo ich war. Dann war ich bei meinen braven Leuten. Jetzt bin ich mit meinen 4 Ordonnanzen heute nacht hier angekommen.

Dein unglücklicher Paul.


 

Feldpostbrief, 17. November 1916

Courcelles, den 17. November 1916
am Freitagmorgen 1/2 10 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Da die Post gleich fortgeht, gibt es auch heute nur diese paar Zeilen. Ich kann auch kaum meine Gedanken zusammenfassen. Die Nerven sind doch zu arg mitgenommen. Nachts schlafe ich zu wenig. All die grausigen Schlachtenbilder stehen mir vor Augen, u. immer u. immer wieder frage ich mich, ob ich nicht noch hätte in dem Augenblick, als ich sah, daß keine Truppen zu bekommen waren zur Hilfe für meine beiden armen Kompagnien, zurückgehen sollen durch die englischen Linien hindurch zu meinen braven Leuten, um mit ihnen zu sterben oder mich gefangen nehmen zu lassen. Ich habe mit meinem Gott im Gebete gerungen u. finde nicht Recht oder Unrecht, das geht bei all der Körperschwäche auf die seelische Gesundheit. - Gestern war ich beim Divisionskommandeur der 38. Inf. Division in Vaulx, um als einziger Offizier über den Angriff vorn zu berichten. Alles ist so schleierhaft, so unerklärlich. Nur bei dem Nebel konnte eine solche Katastrophe kommen.

Ich bin mit herzl. Gruß u. Kuß in treuester Liebe

Euer Vater.


 

Feldpostbrief, 21. November 1916

Thiant bei Valenciennes, Nordfrankreich,
Dienstag, den 21.11.1916, nachm. 1/2 5 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Da wir morgen früh noch einmal umziehen, will ich lieber heute schnell etwas ausführlicher schreiben, da ich morgen wohl doch kaum Zeit finde. Und Du mußt doch endlich mal Näheres erfahren. In den vorhergehenden Tagen bin ich zum Schreiben einfach nicht imstande gewesen. Meine Nerven versagten vollkommen, und noch immer finde ich nachts kaum Schlaf. Die Gedanken jagen einander, u. Träume scheuchen mich aus jedem Halbschlummer wieder auf. Oft denke ich, Lust zum Leben werde mir nie wiederkommen. Ich möchte dann lieber tot sein oder in Gefangenschaft. Dann wäre ich bei meinen braven Leuten, die am blutigen 13. ihr Leben gelassen haben oder die am 14. in Gefangenschaft geraten sind. Und nur ein Gedanke hält mich aufrecht: der, daß ich meinem Vaterlande hier nach nützen kann durch treue Arbeit an den neuen Leuten, die nächstens meine Kompagnie bilden werden. Sie wieder dahin zu bringen, wo vorher die Kompagnie gestanden hat, das ist ein hohes, schönes Ziel. Da will und darf ich vorerst an Urlaub noch nicht denken. Und die Arbeit, die unendlich viele, wird hoffentlich ein Segen werden, wenn Gott mit mir ist!

Wie hatten wir alle uns auf die so wohlverdiente Ruhe gefreut, wie schön sollte Weihnachten für unsere braven Leute werden! Und nun ist alles so ganz anders gekommen! Daran darf ich nicht mehr denken. Noch immer steht mir das Bild der Toten vor Augen. Natürlich waren's die besten. Noch immer höre ich die Schwerverwundeten wimmern und stöhnen, noch sehe ich brennende englische Leichen vorm Graben liegen - nie im Leben wieder werde ich die Bilder los.

Wie wars' denn eigentlich? Ich habe mich lange besinnen müssen, ehe einige Klarheit wieder ins Bewußtsein kam. Am Sonntag, den 12.11. habe ich Dir abds. noch geschrieben u. auch an Bubi u. Helmut und Lieschen. Die Post haben sicher die Engländer in die Hände bekommen. Kurz vor dem Schreiben war ich noch durch den Graben. Eine dicht vor mir platzende schwere Granate riß große Steine los u. schleuderte einen von Backsteingröße gegen meinen Stahlhelm. Der allein hat mir das Leben gerettet. In meinem Briefe an Dich habe ich meinem Gott heiß gedankt. In der Nacht übertraf das Artilleriefeuer alles bisher dagewesene. Gasgranaten hatten die Luft vergiftet. Hinter dem Bismarckstollen waren viele krank zusammengebrochen. Vorn spürten wir das Gas weniger. Verloren hatte ich gottlob in der Nacht nur einen Toten und einen Verwundeten. Da kam der Unglückstag, der Montag! 13. November! Um 3/4 8 bebte die Erde von einer Sprengung. Ein Riesentrommelfeuer setzte ein, u. um 8 Uhr standen die Engländer am Graben. Es war so dichter Nebel, daß Freund und Feind nicht zu erkennen waren. Unsere roten Leuchtkugeln sind nicht gesehen worden, u. so konnte unsere Artillerie nicht helfen. Kein Schuß fiel. Die Engländer hatten leichtes Spiel. Rechts u. links von uns waren sie durch, u. bald standen sie uns im Rücken. Aber auch von dort konnten sie uns nicht überrennen, u. so waren wir von allen 4 Seiten eingeschlossen. Nun warteten wir sehnsüchtig auf Hilfe von hinten. Wir haben uns die Augen ausgeschaut. Sie kam nicht. Statt dessen kamen immer noch mehr Engländer. Aber noch waren Lücken hinter uns, u. durch eine solche bin ich abends mit 4 meiner bravsten Leute durchgeschlichen, um Hilfe heranzuführen. Es war keine da. Und niemand wußte, wie es um uns da vorn stand. Kein Wunder: Unser Oberstleutnant ist vermißt, der Regimentsadjutant tot. Keine Leitung mehr! Da waren natürlich auch keine Reserven mehr. Und das Schicksal ging unerbittlich seinen Gang weiter. Ich habe noch viel versucht. Doch davon morgen, wenn's möglich ist! - Gott befohlen, mein heißgeliebtes Lieschen! Er schirme u. schütze uns u. unsere Jungen! Herze und küsse sie! Sei aber vor allem Du treu gegrüßt u. heiß geküßt von

Deinem Dir stets dankbaren Paul.

- Post von Dir werde ich wohl erst lange Zeit nicht bekommen. Alte Briefe schicke ich wieder mit! -


 

Feldpostbrief, 23. November 1916

Haulchin bei Valenciennes, den 23. November 1916,
am Donnerstagnachmittag um 3/4 1 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Daß gestern abend noch Dein lieber Brief vom 15. gekommen ist, habe ich schon geschrieben. Wie lange Du armes Mädchen wohl in Sorge noch gelebt hast! Am 13. u. 14. Nov. habe ich natürlich nicht schreiben können. Und wann und wie mein kurzer Kartenbrief vom Mittwochmorgen (15.11.) fortgekommen sein mag, weiß ich auch noch nicht. Lange hast Du ihn sicherlich noch nicht. Und wieviel hundert andere Frauen und Mütter und Geschwister warten noch heute in schwerster Sorge auf Nachricht! Soeben telegraphierte Meyenbergs Vater um Auskunft. Dem hatte ich aber damals gleich geschrieben. Die meisten Angehörigen wußten doch nach den langen Wochen ziemlich genau, wo wir lagen. Und überall mußte der Heeresbericht vom 15./11. schwere Sorge wachrufen. Als Helmut seine Hände gefaltet hat, da war ich gerettet. Hoffentlich sind's auch alle andern. Bald muß doch Nachricht eintreffen aus der Gefangenschaft. Bis dahin hat man keine Ruhe.

Ich wollte Dir noch über den Abend des 13. weiterschreiben. Als ich mit meinen 4 braven Leuten (auch mein wackerer Tröster ist dabei) glücklich bis an unsere 2. Stellung gekommen war, hoffte ich dort reichlich Verstärkung zu finden. Aber die Gräben waren so dünn besetzt, daß wir unbemerkt hineinkamen. So wenig Posten standen. Wir trafen auf unsere 8. Kompagnie mit knapp 80 Mann. Von denen war nichts zu verlangen. Weil man von unserm Rgts.-Kdr. nichts wußte u. unser Rgts.-Adjutant tot war, bin ich durch ein entsetzliches Artilleriefeuer hindurch zum Nachbarregiment 62 gelaufen. An den Tod haben wir wahrhaftig nicht gedacht. Ich fühlte, daß ich heil durchkam. Der Oberstleutnant der 62er war morgens bereits gefangen gewesen u. arbeitete gerade einen Angriff aus, durch den er am andern Morgen seine verloren gegangene Stellung wieder nehmen wollte. Mir konnte er natürlich keine Kräfte geben. Ich versprach ihm aber, zum andern Morgen von hinten Kräfte heranzuschaffen, damit gemeinsam angegriffen werden könnte am andern Morgen. Ich brach dann aber beinahe zusammen. Es ging bis weit über die Kniee durch Schlamm und Wasser. Ich kam zurück bis zum Kompf. der 8. Komp., u. dort fand sich ein braver Kollege, der Ltn. Feger, der eine Meldung an unsern Rgts.-führer, Hptm. Minck, zurückbrachte, in der ich um Hilfe bat. Fünf wackere Leute nahm er mit. Hingekommen sind alle. Zurückgekehrt ist keiner. Den Rückweg haben ihnen wohl die Engld. schon abgeschnitten.

So wurd's 5 Uhr morgens. Ich mußte dem Rgt. 62 melden, daß ich noch keine Hilfe habe. Als auch um 6 Uhr noch nichts zu sehen war, schickte ich an 9. u. 10. Komp. den Befehl, sich durch Rückzug zu retten. Die hatten aber die Gefahr der Lage nicht erkannt und wollten sich weiter halten, bis Verstärkung käme. Nun blieb mir nichts andres übrig, als selbst zum Hptm. Minck zu laufen. Den Weg hatte ich nie gesehen, von der 8. Komp. war kein Mann mitzukriegen. Nur meine 3 Ordonnanzen wagten's nochmals, u. wieder war Gott mit uns. Von all den Hunderten schwerster Granaten konnte keine auch nur einen von uns verletzen. Aber wir waren falsch gelaufen. Und zu Hptm. Minck konnten wir am Tage nicht. Die 99er,auf die wir trafen, hielten ihn für gefangen. Jedenfalls stand dicht neben seinem Unterstande schon ein engl. Maschinengewehr. Das ließ keinen heran.

Erst am Abd. des 14. konnten wir in der Dunkelheit durch. Da hörten wir dann das Traurige: An die Rettung der beiden Kompagnien hatte man garnicht denken können, weil Truppen fehlten. Ltn. Feger hatte deshalb schon schriftl. Befehl bekommen, daß wir uns zurückziehen sollten. Hätte ich den bekommen, dann hätte ich die beiden schönen Kompagnien selbst geholt, u. alle waren gerettet. Gott hat's anders gewollt. Nun war's zu spät: Auch die 8. Komp. hatte sich schon zurückgezogen, u. so war sogar die 2. Stellung schon verloren. Auch der Batls.-Unterstand des Hptms. Minck wurde abends um 12 Uhr noch fluchtartig verlassen, u. nun kam der traurigste Rückweg, den ich je aus Stellung zurückgelegt habe. Die wahnsinnigsten Gedanken wühlten im Gehirn. Meine brave Kompagnie gefangen, ohne mich! Ich hätte nichts dabei gehabt, wenn eins der dicht platzenden Geschosse der Qual des Gewissens ein Ende gemacht hätte. Dazu kam das Entsetzliche, Furchtbare, das meine Augen geschaut, kam die Sorge ums arme Vaterland. Ich übersah ja genau, was verloren gegangen war, sah, daß die Engländer Riesenerfolge gehabt u. daß bei uns die furchtbarste Verwirrung einriß. Am Nachmittage des 14. suchten 2 Kompagnien 99er einen neuen Graben zu ziehen. Die englische Artillerie fegte unbarmherzig dazwischen. Tote gab's über Tote. 2 Offiziere u. 2 Ordonnanzen sprangen in einen Graben. Ein schweres Schrapnell. Alle 4 lagen. Ein Offz. tot, sein Begleiter auch; der andere Offz. schwer verwundet. Nur ein Mann war heil geblieben. Weil er unten gelegen hatte.

Und dann war ich an Artilleriestellungen vorbei gekommen. Die Geschütze verlassen. Viele Munition noch dabei. Alles kam nun in Feindeshand. Und was geht sonst mit einer Stellung verloren! Die fleißige stetige Arbeit ganzer 2 Jahre, die Riesenunterstände! Nachher liegen unsere armen Leute unter freiem Himmel bei Schnee und Frost und Regen. Und die Engländer sitzen in unsern warmen Unterständen. Sieh, Liesi, da verliert man Mut u. Glauben! Und als ich hörte, daß schon in der Nacht zum 14. ein ganzes Bataillon 144er dem Feinde in die Arme gelaufen sei, ohne daß ein Schuß hat abgegeben werden können - keiner wußte ja, wie weit die Stellungen deutsch und englisch waren! - da habe ich geglaubt, nun gäb's kein Retten mehr. Wohl begegneten uns unterwegs Truppen mehr als gut und nötig! Aber was hilft alles, wenn es zu spät ist. Und die Engländer hatten Mut bekommen. Wenig Verluste und große Erfolge. Sie trommelten in den folgenden Nächten noch einmal so arg als sonst. Sie haben ja auch noch allerlei erreicht. Ich hatte keine Lust mehr, noch Berichte zu lesen. Aber der Durchbruch ist trotz alledem nicht gelungen. Die neuen Truppen haben Übermenschliches geleistet. Wie's jetzt nur aussehen mag dort! Wir hören den Kanonendonner nicht mehr. Aber meine Gedanken sind immer noch am Ancrebach. Dorthin werden sie auch immer wieder zurückkehren.

Die Nacht vom 14. zum 15. habe ich in Bucquoy im Keller, im Bette meines Feldwebels geschlafen. Um 4 Uhr war ich erst dort. Zum Umfallen müde. Ich habe auch wohl einige Stunden geschlafen. Da wurde ich wach u. kam zum ersternmal zum Nachdenken über meine Lage. Allein übriggeblieben! Alle meine treuen Freunde vom I. u. vom III. Batl. weg! Und das II. Batl. hatte ja so Arges nicht miterlebt. Da habe ich mich in wüsten Fiebergedanken im Bette gewälzt wie seither schon oft wieder! Und habe nur meinen Gott gebeten, er möge mir die geistige Gesundheit erhalten u. mich vorm Wahnsinn retten. Haben meine armen Leute noch bluten müssen? Wer gibt mir Gewißheit! Wohl lag die Kompagnie in guten Händen. Ich hatte sie Meyenberg übergeben. Aber die volle und ganze Verantwortung auch für die 10. Komp. trug ich ganz allein. Und beide Kompagnien hätten gerettet werden können noch am Morgen des 14. Nov., wenn ich gewußt hätte, daß keine Hilfe kam. Darüber komme ich nicht hin, und wenn ich noch soviel getan habe. Wenn meine braven Leute gefangen sind, dann mag's gut sein. Sie haben's besser als wir alle. Sie haben ihr Leben gerettet. Aber vorläufig wissen wir noch nichts.

Nur eins ist sicher! Solch eine Kompagnie kriege ich nie wieder! Eben schon kamen 80 Mann Ersatz. Aus Lemgo, Detmold, Salzuflen! Aber keine Lipper dabei. Münsterländer u. Rheinländer. Meist Katholiken. Aber sonst kräftige Leute, die alle schon im Felde waren! Möge ein treuer Gott mir die Kraftgeben, die Leute recht zu erziehen, ihnen den alten guten Geist treuester Pflichterfüllung bis zum Tode einzuimpfen! An Fleiß u. gutem Willen soll's nicht fehlen. Laß uns weiter auf den alten treuen Gott vertrauen, Liesi, der mich so wunderbar geleitet hat. Wir wollen noch mehr als sonst beten. Er wird uns nicht verlassen. Du schreibst ja, daß ohne seinen Willen nichts geschieht.

Herze und küsse mir meine lieben Jungen, Liesi! Vor allem aber sei Du herzlichst gegrüßt u. heiß geküßt von Deinem dich

treu liebenden Paul.


 

Feldpostbrief, 26. November 1916

Haulchin, den 26. November 1916
Sonntagnachmittag um 3 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Totensonntag! Gestern vor einem Jahre, dem Tage nach, war ich zum letztenmale in Illies, bei unsers lieben Theodor Grabe. Ich habe Linas Blumenzwiebeln gepflanzt. Was aus den Blumen geworden ist - ich hab's nicht mehr gesehen. Ob sie geblüht haben im Sommer, ob der Friedhof weiter gepflegt worden ist, nachdem die 55er fort waren? Was hat das Regiment inzwischen wieder alles erlebt! Wieviel neue Friedhöfe hat's anlegen müssen bei Verdun und an der Somme! Und wie mag der schöne Friedhof in Illies jetzt aussehen! Haben die englischen Granaten ihn verschont? Erreichen konnten sie ihn ja längst nur zu gut.

Uns geht's ja nicht anders. In Salomé und Hantay, wo unsere großen Friedhöfe sind, liegen seit langem sächsische Truppen. Wie mag's dort jetzt sein. Und in Bourgogne erst gar, wo allem Anschein nach schon im Frühjahr 1915 unsere Linien zurückgedrängt worden sind! Und all die vielen Toten, die hier in der Gegend seit dem Mai gefallen sind! Sie ruhten auf dem schönen stillen Friedhof in Bucquoy. Und heute kam unser neuer Adjutant vom Rgt. 15. Der erzählte, daß Bucquoy ganz von unsern Truppen geräumt werde, da es ständig unter engl. Artilleriefeuer liege. Da wird natürlich bald kein Haus mehr ganz sein, und dann zerwühlen englische Granaten auch bald den Friedhof. Das sind eigenartige Totensonntagsgedanken. Aber sie dürfen uns nicht schmerzen. Der Leib gilt ja nun einmal nichts mehr. Ich habe zerfetzte Leiber gesehen, Körper, von denen kaum etwas Erkennbares geblieben war, habe Körper zermodern und zerfallen sehen draußen in Wind und Wetter und Sonne u. habe wieder aufgewühlte Leichen gesehen, die ihre Ruhe nicht finden sollten im Schoß der Erde. Da sieht man's, daß der Leib nichts ist als Staub und Asche, nicht mehr und nicht weniger, da verliert man darum auch alle Scheu vor Leichen. Und daran müssen sich unsere Angehörigen daheim auch gewöhnen, daß, wie der grausige Krieg hier alles zerstört, so auch unsere Leiber zerfetzt und zerrissen werden. [...]

Am Sonntagabend um 3/4 10 Uhr.

Mein treues Lieb!

Eben komme ich zurück. Unser Bataillonskommandeur ist noch nicht da. Da habe ich bisher all' die Arbeit gehabt. Aber heute kam schon unser neuer Adjutant. Der kann jetzt die schriftlichen Sachen erledigen. Er gefällt mir übrigens sehr. Er ist Fabrikbesitzer, 31 Jahre alt u. hat sehr gesunde Ansichten. Gegessen hat er heute bei mir. Die Kompagnieführer haben wir nun alle zusammen. Aber die übrigen Offiziere fehlen meist noch. Die 10. Kompagnie hat Niediek wieder, die 11. u. 12. kriegen zwei Offiziere, die zu Anfang des Krieges gleich verwundet worden sind und seitdem wieder im Felde waren, Ltn. Hellwege und Ltn. Bockermann. Gut, daß nun endlich die Arbeit beginnen kann! Auch für unsere Leute ist's so besser. Sie waren doch eigentlich ohne jede Beschäftigung.

Heute abend habe ich noch einen Spazierritt nach Denain heraus gemacht. Ich war so wenig an der frischen Luft gewesen und wollte auf andere Gedanken kommen. Der Ritt hat mir auch gut getan. Ich hatte die ganze Zeit vorher nur ein einziges Mal geritten. Ich hatte kein Verlangen danach.

Nun ist der Totensonntag um. Der letzte steht mir noch klar in Erinnerung. Das Wetter war das gleiche. Wie es wohl immer am Totensonntage ist. Morgens trübe und dunstig und nachmittags und gegen Abend noch bleiche Novembersonne. Voriges Jahr fuhr ich zum Pionierkursus nach Seclin. Im Wagen morgens war's bitterkalt, im Zuge auch. In Lille war ich im Museum und in der Gemäldegalerie. Und abends saßen wir im schönen, gemütlichen Kasino in Seclin und lernten einer den andern allmählich kennen. Welch' schöne Tage sind damals gefolgt! Und am nächsten Sonnabend dann wurde August schon verwundet. Ich kann's nicht glauben, daß das alles nun schon ein Jahr zurückliegen soll. Immer wieder meine ich, so schnell als im Kriege sei mir nie die Zeit geflogen. Und gerade die Zeiten, die andere die langweiligsten nennen, die Schützengrabentage, schwinden mir am schnellsten. Ich habe nichts' dabei, wenn wir bald wieder in eine einigermaßen ruhige Stellung kommen. Augenblicklich tobt allerdings wohl der Kampf bei Beaucourt und Serre noch furchtbar. Auch die 15er sind wieder mit dabei gewesen. Selbst bei Gommécourt rechnet man noch mit Angriffen. Die Erfolge bei uns haben selbstredend den Engländern neuen Mut gegeben. - Morgen mehr, mein liebes Lieschen! Gute Nacht u. Gott befohlen!

Am Montagmittag 1 Uhr.

Mein heißgeliebtes Lieschen!

Da die Post gleich abgeht, muß ich schnell machen. Hier ist alles noch nicht geregelt. Jedenfalls wird die Post kaum so rasch überkommen, wie das im Schützengraben der Fall war. An den Schützengraben habe ich überhaupt schon oft wieder gedacht. Man hatte sich so gewöhnt. Und immer wieder fliegen meine Gedanken nach dort zurück. Trotz aller Gefahr und aller Not. All die Freunde und lieben Bekannten sind ja auch nicht mehr.

Heute morgen hat der neue Regimentskommandeur, Oberstleutnant v. Werder das Regiment bei Thiant zusammengehabt. Eine halbe Stunde von hier. Ein sonnenheller Morgen! Aber welch' wehmütige Gedanken! Wie wenige alte Leute hat's Regiment nur noch! Alles fremde, neue Gesichter. Das tut so wehe. Morgen will der Divisionskommandeur das Regiment sehen. Es gibt sehr viel Arbeit. - Aber Arbeit ist noch der größte Segen. Wenn nur nicht soviel alte Offiziere kommen, daß ich meine Kompagnie abgeben muß! Dann wäre ich totunglücklich. Das ist ja gerade das Einzige noch, was mich aufrechterhielt: Daß ich eine Kompagnie wieder heranbilden wollte wie es die alte 9. war. Geb's Gott, daß es so wird! - Ich bin mit herzlichen Grüßen und treuen heißen Küssen in dankbarer Liebe

Euer treuer Vater.


 

Feldpostbrief, 22. Dezember 1916

/lemo/bestand/objekt/pd07 Haulchin, den 22. Dezember 1916,
Freitag, des Abends um 6 Uhr.

Mein heißgeliebtes, gutes Lieschen!

Der letzte Abend im gemütlichen Quartier! Noch eine Nacht im weichen warmen Bett! Morgen Abend brüllen uns die Geschütze der nahen Front wieder das Abendlied. Bis hier hat man sie heute wieder hören können, über 70-80 Kilometer weg. Man wird sich erst wieder gewöhnen müssen. Wie gut haben's da die Urlauber! Sie fahren zwar erst am 24. hier fort, fahren aber erst nicht mit nach Courcelles. Auch mein Bursche fährt mit. Ich habe ihm einen Urlaubsschein auch nach Nienhagen geschrieben u. gebe ihm außer diesem Briefe auch in einem Pakete einige Sachen mit. Auch ein Stückchen Käse ist dabei. Von unserm Verpflegungsoffizier. Der kam von Deutschland u. sagte mir, daß dort Käse nicht mehr zu haben sei. Vielleicht mache ich Dir eine Freude damit. Wir bekommen ihn eigentlich etwas zu oft. Unsere Verpflegung ist überhaupt vorzüglich. Da brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen. Schick mir deshalb auch keine Würste mehr, Liesi! Es wäre unrecht. Hilf lieber dort mal jemandem! Die Lebensmittelnot in Deutschland scheint doch sehr groß zu sein.

Auch Dein Päckchen Kerzen schicke ich Dir wieder zurück. Selbst kann ich mir ja keinen Baum machen. Tannen gibt's nicht. Und für den großen gelieferten Kompagniebaum haben wir auch Kerzen bekommen. Wo der Baum brennen wird, das wissen wir noch nicht, sowenig wie ich weiß, wo morgen abend mein Quartier sein wird. Soldatenlos! Aber die Kerzen bewahr mir auf! Ich hoffe doch, daß unserer Jungen Lichterbaum noch Nadeln hat, wenn ich komme. Dann können wir uns, will's Gott, alle noch einmal zusammen über der Lichter Schein freuen. In unserer demnächstigen Stellung gibt's elektrisches Licht. Kerzen werden auch wohl überhaupt nur noch für die Marine geliefert.

Wenn man an den bitteren Mangel von Rohstoffen denkt, fängt man zu zweifeln an, ob wir noch weiter durchhalten können. Ein Stückchen Seife kostet hier 1,20 M. Aber Schaum gibt sie nicht. Und mit manchen andern Dingen geht's genau so. Ersatzmittel sind da doch nicht zu schaffen. Erst jetzt hören wir auch von Urlaubern, daß unsere Ernte nicht gut gewesen ist u. daß man sich große Sorge wegen der Kartoffeln macht. Und was wird für Obst gezahlt! 30 M der Zentner. Und für Weihnachtsnüsse haben wir beinahe 5 M für das Pfund bezahlt. Pfeffer hat uns neulich 18 M das Pfund gekostet. Ich war diese Zeit Kasinovorstand u. habe so einigen Einblick in diese Dinge bekommen. So übel hatte ich mir die Sache denn doch nicht gedacht.

Wie froh kann ich da sein, daß ich mir in dieser Beziehung Euretwegen keine Sorge zu machen brauche! Von unserm Schweinchen schreibst Du mir mal, nicht wahr? Und die Ziege ist wohl auch wieder gesund. Unser Hauptmann kauft auf, was er hier kriegen kann u. schickt einen Urlauber nach dem andern zu seiner Frau: Hasen u. Enten, Hühner und Tauben, Wurst und Speck und Käse. In Großstädten sei für alles Geld eben nichts mehr zu haben.

Da muß doch des Krieges Ende kommen. Und wenn die Gegner den Frieden noch so weit von sich weisen. Ich hoffe immer noch, daß die Worte der feindlichen Minister täuschen sollen wie unsere Note hat täuschen wollen.

/lemo/bestand/objekt/pd08 Gestern abend waren alle Unteroffiziere des Bataillons mit uns im schönen Kasino. Die Regimentsmusik spielte, u. wir haben friedlich u. gemütlich beieinander gesessen bis 3 Uhr heute morgen. Um 8 Uhr wurd's Zeit, daß meine Koffer gepackt wurden. Da bin ich nun ein bischen recht müde, u. heute abend geht's früh zu Bett. - Hoffentlich. Eine kleine Abschiedsfeier wird sich nicht vermeiden lassen. Heute gab's keinen Dienst mehr. Da habe ich dann ein Buch, das ich in den ganzen 4 Wochen kaum zur Hälfte gelesen habe, zuende lesen können. Heute nachm. bin ich dann beim Kompf. der 11. Komp. gewesen, dem Kollegen Hellwege, der mir von allen Kameraden eigentlich am besten gefällt. Draußen goß es in Strömen. Trotzdem hatte heute abend der Hauptmann noch die Regimentsmusik kommen lassen. Sie spielte auf dem Marktplätze zum Abschied. Unsere Leute sind mit der Bevölkerung gut fertig geworden. Ich glaube überhaupt, daß wir mit dem Ersatz zufrieden sein dürfen. Besonders nachdem wir vor einigen Tagen 42 der ältesten und schwächsten Lt. von jeder Kompagnie abgegeben haben.

Post haben wir nun schon 2 Tage lang nicht mehr erhalten. Aber wahrscheinlich erwartet sie uns in Courcelles, wo das Rgt. ja nun schon zwei Tage liegt. Hoffentlich ist meine Post immer mitgekommen u. hoffentlich trifft Euch dieser Brief gesund an! Mitnehmen soll Troester nichts. Ich habe ja doch alles. - Mir geht's gut. Erkältet bin ich allerdings immer noch. - Gott befohlen, Liesi! Ich bin mit Gruß u. Kuß in

treuester Liebe Euer Vater


 

Feldpostbrief, 25. Dezember 1916

Courcelles, am 1. Weihnachtstage, abends 1/2 6 Uhr.

Mein gutes, liebes Lieschen!

Weihnachten hätte ich zu Hause feiern wollen. Jetzt will ich's wenigstens in Gedanken tun. Ein Kasino haben wir noch nicht. Aber heute Abend gibts Bier. Ich bleibe aber viel lieber zu Hause. Ich sehne mich ja viel zu sehr nach meinem lieben Lieschen. Und nur mit Dir möchte ich plaudern. Hoffentlich stört mich niemand mehr! - Na, da steht auch ausgerechnet in diesem Augenblick schon eine Ordonnanz da u. bestellt mich für 6 Uhr zum Hauptmann. Besprechung mit den Kompagnieführern. Da kann ich mir meine Stiefel wieder anziehen u. komme sogar um meine Tasse Kaffee. Den ganzen Tag bin ich beschäftigt gewesen. Ob ich nun nachher meine Ruhe finde u. die Zeit für mein Lieschen u. für Weihnachtsgedanken? Hoffen wir's zunächst einmal!

1/2 9 Uhr. - Gerade komme ich zurück u. habe zu Abend gegessen. Käse (echten Schweizer) u. Leberwurst u. Keks u. Apfelsinen. Zum Kaffeetrinken hatte ich kaum Zeit heute nachmittag, u. gleich muß noch der Feldwebel kommen, damit der Dienst für morgen festgesetzt wird. So werden die Feiertage zum schlimmsten Arbeitstage. Nie bin ich den Krieg so zum Überdruß satt gewesen als jetzt. Von Urlaub ist immer noch keine Rede. Das verbittert schließlich noch am meisten. Und nimmt alle Lust und Liebe. Dabei habe ich noch allerlei Ärger in der Kompagnie, mit dem Feldwebel u.s.w.

Aber weg damit! Das soll mein liebes Lieschen alles nicht wissen. Und heute ist ja Weihnachten. Dazu fand ich eben so viele liebe Briefe u. Karten mit Weihnachtswünschen vor, daß ich mich freuen mußte. Auch Dein lieber Brief vom 20. war schon dabei. Und eine Karte von Pastor Sturhahn.

Heute morgen war ich todmüde. Besonders geschlafen hatte ich nicht. Es war oft schlimmes Trommelfeuer. Auch ein Flieger kam gestern abend spät noch und warf Bomben. Auch eine Christbescherung! Kaffee gabs nicht, da mein Bursche zu lange geschlafen hatte u. weil um 1/2 10 Uhr schon eine Besprechung beim Brigadekommandeur war. Ich habe an mein Mütterchen denken müssen und an den schönen Kaffee und den leckeren Kuchen an jedem Weihnachtsmorgen, wenn nebenan der Lichterbaum brannte. Wieviel Liebe durften wir Kinder doch gerade an diesem Morgen erfahren! Wir wollen's mit unsern Jungen sicher auch so halten. Gewiß schreibst Du mir recht ausführlich über Weihnachten, nicht wahr, Liesi? Zwar ist's 1/2 10 Uhr u. das elektrische Licht brennt nicht mehr u. mein Ofen will auch so recht nicht mehr. Aber etwas möchte ich doch noch plaudern.

Nach der Besprechung heute morgen ging ich zum Weihnachtsgottesdienst. Pastor Müller. Im Kino. Von der Predigt habe ich nicht sehr viel gehört. Aber ich sah doch einen Weihnachtsbaum brennen u. hörte Weihnachtslieder u. sang sie selbst. Die hellen Tränen wären mir beinahe über die Backen gelaufen als die Musik zu dem alten schönen "O du fröhliche" ansetzte.

An die schöne Weihnachtsfeier in Bourgogne durfte ich nicht denken. Neben mir saß Niedieck, der damals die 3. Komp. führte. Und auch vor einem Jahre war's noch so schön. Wer von all den lieben Kameraden ist nun noch da? Alles fremde Gesichter! Alles Leute mit anderen Erinnerungen! Und wie trostlos sind die Verhältnisse hier! Kein Raum, in dem eine Kompagnie hätte feiern können! Bäume und Geschenke sind noch nicht da. Weihnachtsstimmung kommt nicht auf. Und auf den Straßen ein so entsetzlicher Schmutz, daß man kaum durchkommt. Und vom Himmel strömender Regen. Das ist in Frankreich aber wohl immer so.

Übel war auch unser Reisetag. Am 23.12. morgens 9 Uhr sollte unser Zug von Trith-St. Leger fahren. Spät abends am 22. aber kam Befehl, daß der Zug 2 Stunden früher abgehe u. daß wir eine Station vor Bapaume ausgeladen würden. Keiner zweifelte daran, daß wir an der Somme eingesetzt würden, weil dort gewaltige Artilleriekämpfe zu hören waren. In netter Stimmung habe ich mich am 23.12. morgens um 5 Uhr von Troester verabschiedet, der in Haulchin zurückblieb, um von dort in Urlaub zu fahren. Er sollte Dir von allen Befürchtungen nichts erzählen u. hat's auch sicher nicht getan. Es regnete in Strömen u. nach 1/2 Stunde Marsch floß mir das Wasser über die Satteltaschen an den Beinen hinab. Mein Schimmel scheute in der Finsternis vor jeder Wasserpfütze u. jedem Pfahle. Sonst wäre ich trotz des Regens eingeschlafen. Auf dem Bahnhofe in Trith habe ich meine Knie etwas wieder getrocknet u. dann haben wir uns in einem Abteil II. Klasse dicht neben einander gepreßt u. eine Flasche Rum u. Steinhäger nach der ändern geleert bis wir etwas warm wurden u. einschliefen. Die Kälte des ungeheizten Wagens hatte uns natürlich rasch wieder wach. Um 12 Uhr waren wir in Frémicourt vor Bapaume. Befehle für uns waren nicht da, u. des furchtbaren Regens wegen brachten wir unsere Leute in der Kirche unter. Der Sturm hatte alle Telefonleitungen zerrissen, u. erst um 3 Uhr erfuhren wir, daß das Bataillon doch nach Courcelles solle. Das waren 18 km. Ein furchtbarer Weg für unsere Leute mit ihrem sämtlichen Gepäck. Sturm u. Regen noch ärger wie morgens. Ich bin oft vorausgeritten oder zurückgeblieben, um Schutz hinter Häusern oder Mauern zu suchen.

Wir kamen über Mory, wo wir im September einige Zeit in Zelten gelegen hatten. Ich kannte den Ort nicht wieder. Eine zweigeleisige Bahn mit neuem Bahnhof war gebaut. Die Wege sind nämlich einfach nicht mehr zu benutzen. Die Straßen haben metertiefe Löcher, die mit Schlamm u. Wasser gefüllt sind. Das ganze Bataillon suchte auf einer großen, breiten Chaussee im Gänsemarsch Stellen, die zu passieren waren. 2 km über eine Stunde! Mein Schimmel hatte ein Eisen verloren u. lahmte. Ich mußte zu Fuß gehen u. hatte meine schönen gelben Stiefel mit Gamaschen an. Bis über die Knie ging's durch den Schlamm, u. dann fiel ich längelang noch in den Graben. Mein schöner Mantel u. meine neue Mütze sind heute noch nicht wieder in Ordnung. Den Tag werde ich nie vergessen. Eigentlich war's der tollste im Kriege. Schlimmere Wege gabs in La Bassée bei Hochwasser nicht. Die halbe Kompagnie hatte ich unterwegs verloren. Erst nach u. nach fanden sich die Leute wieder ein. Und dann abends 1/2 10 in ein fremdes, ungemütliches Quartier. Essen hatte es den ganzen Tag nicht gegeben. Immerhin war's aber besser als wenn man uns von Frémicourt in die Granatlöcher an der Somme geschickt hätte. Und nicht mal schlimmer erkältet bin ich nun. Gerade das befürchtete ich am meisten. Und keiner unserer Leute hat sich krank gemeldet. Sogar der Schimmel macht's schon wieder. Nur daran, daß ich sogut wie mein Troester all diesem Umzugskram hätte aus dem Wege gehen können, darf ich nicht denken. Sonst kommt die Bitternis. Gerade bei so etwas ist ein Kompagnieführer leicht zu entbehren. Aber all das Schimpfen hat ja keinen Zweck.

Ich muß schließen. Es wird kalt, u. morgen früh um 7 Uhr muß ich aufstehen. Gott befohlen, mein Lieb! Er schütze uns alle!

Ich bin u. bleibe mit herzlichstem Gruß u. vielen Küssen für Dich und unsere Jungen in treuester Liebe

Dein dankbarer Paul.

 

Weitere Feldpostbriefe von Paul Diekmann:
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil I (Mai bis Dezember 1915)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil II (Januar bis April 1916)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil III  (Mai bis September 1916)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil V (Februar bis Mai 1917)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil VI (Juni bis Juli 1917)
Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg - Teil VII (November 1917)

    lo