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Rudolf Urbahn: Das NS-Regime

Dieser Eintrag stammt von Rudolf Urbahn (*1916) aus Hamburg, Juli 2002:

Warum habt ihr euch nicht dagegen gewehrt? Warum habt ihr euch das alles gefallen lassen? Wie konnte es nur so weit kommen? Fragen, die unsere Generation sich bis zum Lebensende wird anhören müssen und die wohl noch einige Jahrzehnte an die Deutschen gestellt werden. Man muß schon selbst in der Zeit gelebt haben, um die Antworten auf diese Fragen zu verstehen.

Wie war das denn in den letzten Jahren vor 1933? Über sechs Millionen Arbeitslose. Und das, obwohl nur wenige Frauen berufstätig waren, hatten sie doch mit Hausarbeit und Kindererziehung genug zu tun. Wer hatte damals schon einen Staubsauger? Also runter mit dem Teppich auf den Hof, rauf auf die Klopfstange und den Teppichklopfer geschwungen, und das meist wöchentlich. Lebensmittel brachte man in der warmen Jahreszeit mangels Kühlschrank in den kühlen Keller, in den Wintermonaten den Ofen heizen. Waschmaschine? Existierte nur in der Phantasie. Nylonstrümpfe? Unbekannt. Also war Strümpfestopfen angesagt usw. Die Frau war mit ihrem Haushalt ausgelastet, abgesehen davon, daß es ohnehin kaum Arbeit für sie gab. Der Mann war also im Normalfall der Alleinverdiener. So war damals die Situation, auf 65 Millionen Einwohner kamen 6-7 Millionen Arbeitslose und eben das fast nur Männer. Das Arbeitslosengeld dieser Zeit war mit dem von heute nicht zu vergleichen, auch nicht vom Wert her.

Da waren die Straßenkämpfe zwischen den Nazis, Sozis und Kommunisten, Anpöbeleien von herumstehenden, meist jugendlichen Arbeitslosen auf der Straße, mehrere Bettler pro Tag an der Wohnungstür, die sogenannten "Hofsänger", die darauf warteten, daß man ihnen ein in Papier eingewickeltes Fünf- oder Zehnpfennigstück auf den Hof warf. Also: der Ruf nach dem starken Mann, der endlich mit der Faust auf den Tisch haut und gleichzeitig auch für Zucht und Ordnung sorgt.

Und dann kam er ja auch und mit ihm die Parolen "Doppelverdiener (die es teilweise ja noch gab) raus aus den Betrieben!" und "Niemand darf monatlich mehr als tausend Mark verdienen (das waren ohnehin nur wenige Spitzenverdiener)!" oder "Gemeinnutz geht vor Eigennutz!" sowie "Schluß mit dem Klassenkampf!" und "Schmach dem Versailler Vertrag!". Man sprach vom "Arbeiter der Stirn und der Faust!". Das Wort vom "Volksgenossen" tauchte auf.

Na, und dann war es soweit. Am 30. Januar 1933 kam die sogenannte "Machtergreifung". Da das Ganze wie eine unblutige Revolution ablief, hielt ich und viele andere in meinem Umfeld es fast für normal, daß man politische Funktionäre der Oppositionsparteien in uns bis dahin unbekannte Konzentrationslager einlieferte. Wir dachten dabei an Umerziehung, um auch sie von der nationalsozialistischen Idee zu überzeugen. Daß die Praxis anders aussah, erfuhren wir Normalbürger auch erst nach dem Krieg.

Nach der Machtübernahme Hitlers kamen zunächst die für uns angenehmen Seiten. Nach drei Jahren gab es statt Massenarbeitslosigkeit fast Vollbeschäftigung, was wohl jeder von uns als das Wichtigste empfunden hat. Als besondere Errungenschaft haben viele die Organisation "Kraft durch Freude", kurz KdF genannt, angesehen (eine Unterorganisation der "Deutschen Arbeiterfront", die Nachfolgerin der zwangsweise aufgelösten Gewerkschaften). Da konnte sich auch mal der kleine Mann eine Kreuzfahrt leisten. "Auf nach Madeira" hieß es da, oder "ab in die norwegischen Fjorde".

Mir persönlich bleibt die freudige Erinnerung, daß ich als 19jähriger das erste Mal richtig Urlaub machen konnte. Bis dahin stets von Berlin nach Leipzig zu den Großeltern, fuhren jetzt mein Freund und ich mit einem KdF-Sonderzug für zehn Tage nach Fischbach am Inn in Bayern. Das Ganze kostete mit Fahrkosten, Vollpension und zwei Busausflügen 49,50 Reichsmark und das war selbst für damalige Verhältnisse richtig geschenkt. Weiterhin hatte KdF vielfältige, preiswerte Angebote in den Bereichen Sport und Unterhaltung. Sicher nicht von allen, aber doch von der Mehrheit der Jugendlichen wurden die Aktivitäten in HJ oder BDM gern angenommen. Der Arbeitsdienst, den ich persönlich auch hinter mich gebracht habe und von dem die Wenigsten begeistert waren, fanden wir gerecht. Mußten doch für 25 Pfennige am Tag auch die Söhne der oberen Schichten den Spaten in die Hand nehmen. - Die Olympiade 1936 löste allgemeine Begeisterung aus, auch im Ausland

Man könnte alledem noch einiges Positives hinzufügen, insbesondere auf außenpolitischer Ebene, bis dann 1939 der Einmarsch in Polen schon nachdenklich machte. Ich selbst habe dann, 1937 zur Wehrmacht einberufen, bis 1945 Gelegenheit gehabt, Europa auf eine ganz besondere Art und Weise kennenzulernen. Der Judenverfolgung, die ja 1938 verstärkt einsetzte, konnte ich keinesfalls zustimmen. Es hieß, die Juden seien "Volksschädlinge" und müßten enteignet werden. Niemand konnte sich aber damals vorstellen, daß diese Menschen in KZ´s eingeliefert und später systematisch umgebracht würden. Diese Gräueltaten waren auf der Welt einmalig und mehr als verabscheuungswürdig.

Im Nachhinein als Fazit betrachtet: Bis 1939 sahen die meisten von uns so etwas wie eine Aufbruchsstimmung, bei vielen sogar gepaart mit Begeisterung, auch bei mir. Nur, beim vorher viel gepriesenen Frieden hätte es bleiben müssen. Bis zu diesem Zeitpunkt kann ich auf die Frage: "Wieso habt ihr euch nicht gewehrt?" nur antworten: "Warum sollten wir"? wir sahen keine Veranlassung dazu. "Aber in Hitlers Mein Kampf war doch schon alles zu lesen"? Stimmt, aber wer von uns hatte diesen Wälzer schon gelesen? Ich selbst nicht und mir war auch niemand anderer bekannt, das Thema wurde gar nicht erläutert.

Je mehr es auf das Kriegsende zuging, desto mehr begann die allgemeine Stimmung zu sinken, auch bei mir. Als man dann am Schluß hörte, was alles Schlimmes und Grausames passiert war, kamen die abgrundtiefe Enttäuschung, Zorn und Wut. Unsere Generation hatte man verschaukelt und betrogen. Daher nach dieser Erfahrung die Mahnung an die nachfolgenden Generationen: "Wehret den Anfängen"!

Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn diese historische Epoche von unmittelbar Betroffenen anders beurteilt wird. Ich kann nur aus der Distanz von heute das sagen, was ich damals tatsächlich erlebt und empfunden habe

lo