> Rüdiger Gensthaler: Erinnerungen an die Schulzeit im Nationalsozialismus

Rüdiger Gensthaler: Erinnerungen an die Schulzeit im Nationalsozialismus

Dieser Eintrag stammt von Rüdiger Gensthaler (1930-2013), 2013:

Rüdiger Gensthaler wurde in Kassel geboren. Die Familie zog jedoch aus ökonomischen Gründen schon zum Jahreswechsel 1930-31 nach Mittweida/Sachsen, woher die Mutter Elisabeth Eugenie Gensthaler, geb. Schumann (*1894) stammte und dort noch ein respektables Haus besaß. Die Bekanntschaft zum Vater entstand über die Wandervogelbewegung; beide waren Bergsteiger und erstiegen beispielsweise in den 20ern das Matterhorn. Sie war Mitglied der NS-Frauenschaft, nicht jedoch der NSDAP.

Der Vater, Josef Gensthaler (*1895), stammt aus Tauberbischofsheim. Das Paar lebte zunächst in Nordhessen, wohl auch aufgrund der Nähe zu national gesinnten Freunden und Bekannten. Nachdem er seine Arbeit als Düngemittelvertreter verloren hatte und mehrere Jahre arbeitslos war, zog die Familie nach Mittweida. Dort nahm er 1931 Kontakt mit der SA auf und trat dieser sowie der NSDAP bei.


Andreas
oder das „Ehren-Gericht“

Andreas stand im Kreis seiner Klassenkameraden. Überragend schlaksig, die Haare strähnig auf der Stirn verklebt. Schmarren im Gesicht! Blut aus der Nase! Ein nachlässiges Drüberhinwischen mit dem Hemdärmel! Unbeholfen seine Hand, die Haare aus der Stirn zu streichen, die Augen wieder freizulegen. Was war geschehen?

   Es herrschte Krieg. An den Schulen fehlten Lehrer. Waren sie „wehrfähig“, so standen sie vor Woronesch oder Tobruk oder sonstwo an einer Front.
Lehrerinnen an Oberschulen? Hier jedenfalls nicht.
„Pensionäre’’ taten jetzt wieder Dienst vor den Klassen. Sie hatten sich im Ersten Weltkrieg tapfer geschlagen. Sie waren vielleicht mit der Weimarer Republik nicht klargekommen und erfüllten nun als Veteranen ihre „nationale Pflicht“. Und die nahmen sie ernst, sehr ernst mitunter!
So hatte einer von ihnen eines Morgens beobachtet, wie Andreas irgendwen auf der Straße nicht mit dem gebotenen „Heil Hitler“ grüßte, sondern einem völlig abartigen „Moi´n!“
Das war - angesichts der allgemeinen Opferbereitschaft für „Volk und Führer“ - eines deutschen Jungen nicht würdig.
   Die Empörung vom Pult vorn sprang über auf die Klasse.
Ein „Ehren“-Gericht wurde beschlossen - ohne Gegenstimme.
Andreas mußte „sich stellen“.
Die Besttrainierten, die Stärksten fühlten sich erwählt - reihum - auf ihn einzuschlagen.
Sollte er doch zurückschlagen! Kampfgeist zeigen! Seine Ehre wiederher-stellen!
Andreas aber schlug nicht zurück. Er wehrte sich nur - doch ohne jedes Geschick. Er steckte ein, viel ein, gelassen, so als berühre ihn das alles nicht.                                                                                                     
Und dabei blieb er standhaft! Einfach nicht umzuwerfen!  
Die Fäuste sanken. Man umstand ihn anerkennend, „kameradschaftlich“:
„Hart im Nehmen“ und „Gut gehalten!“
Mit der wiedergewonnenen Ehre wußte Andreas offensichtlich nichts anzufangen. Kein Wort kam über seine blutigen Lippen. Sein verhängter Blick schien eher störrisch: Wenn´s mir paßt, sag ich wieder  „Moi´n“.                                        
 

Fahnenappell

Morgensonne am Montagmorgen über dem Schulhof.
Die ganze Schülerschaft unserer Grundschule ist aufmarschiert.
Auch wir, von einer Vierten Klasse, pedantisch gliedweise zu dritt aufgereiht, erwarten das „Heißt Flagge!“
Die Schnuren am Fahnenmast verheddern sich. Zerren und Zurren - im Augenblick hilft nichts. Die Hitlergrußarme bleiben gesenkt.
Mich juckt´s, weil´s mich eben juckt:
   „Das scheene Hakenkreuz! So schlabb heude! Gleich flutscht´s
   ganz in´ Dregg!“
Schließlich gehen Hakenkreuz und Grußarme doch hoch.
Aber  -
Vor mir baut sich W. auf, der rauflustigste Kämpe der Klasse, der gerne was beschützt oder niederringt, je nachdem,  einfach so aus Vergnügen an der Selbstachtung.
„Petzen“ ist eigentlich nicht seine Sache.
Aber heute juckt´s ihn, weil´s ihn eben so juckt.
Hat was von Fahnenschändung gehört.
 „Das grad war eine“, sagt er und lacht.
Der Klassenlehrer, beliebt trotz seines Parteiabzeichens, nimmt die Hinterbringung mit einem kühlen „So-so“ zur Kenntnis und verurteilt mich, Strafe muß sein, zu zwei Stunden Nachbrummen in einer unteren Klasse, die noch heftig mit Plus und Minus ringt.
Der Einstieg in die Enge einer Erstkläßlerbank, hinten an der Wand, gelingt, ohne daß Knochen brechen.
Jetzt nichts als kritzeln: „Wenn die bunten Fahnen weh´n...“
Kein Lied, um dabei andächtig strammzustehen. Aber eins für zwei Stunden Einsperren in diese verdammte ABC-Quetsche und Kritzel-strafe vollziehen.
Ein „Schönschreibheft“ kommt dafür nicht in Betracht.
Ein grad mal durchgeblättertes „Tageblatt“: „Hier nimm´s, das muß es tun!“
Mit Bedacht will der Text auf die Ränder und zwischen die Artikel ver-teilt werden. Weiße Stellen suchen, schwarze meiden, Kleckse unter-binden, wenig Tinte tunken bei dem fusseligen Papier, Wort für Wort, Zeile für Zeile reinmalen! Das kostet Zeit. Die zwei Stunden vergehen.
Nach der Befreiung: Die Ausmalkünste sind keine Kontrolle wert.
Schade ums Tageblättchen.
Später, als ausgereifte „Pimpfe“
in einem Geländespiel zwei feindliche Parteien vertretend,
treffen W. und ich aufeinander und müssen uns gegnerisch verprügeln.
Die Bizepse schwellen. Jeder hat zu siegen.
Als ich merke, daß ich das könnte, überlaß ich dem überanstrengten Gegner Sieg und Triumph und ernte die Anerkennung:
„Mensch, biste doll!“
Und wir bleiben Gutfreund.

lo