> Werner Brähler: Frontbewährung in Russland 1944

Werner Brähler: Frontbewährung in Russland 1944

Dieser Eintrag stammt von Werner Brähler (*1925) aus Bendorf-Sayn, Februar 2010 (Homepage: www.ausmeinerzeit.de):

/lemo/bestand/objekt/braehler10 Nach meiner Ausbildungszeit als Offiziersanwärter in Tschechien und in Saarlouis hatte ich Ende Februar/Anfang März 1944 einen 10-tägigen Urlaub. Nach einem 3/4 Jahr gab es endlich ein Wiedersehen mit meinen Eltern, meiner Schwester und Verwandten. Anschließend erfolgte ab Juli 1944 die dreimonatige Frontbewährung in Russland. Ich kam zum Regiment 424 der 126. Infanterie-Division nach Pleskau, ca. 300 Kilometer südwestlich von Leningrad. Die Stadt und der Frontabschnitt um Pleskau seien durch Führerbefehl vom 19.04.1944 zum "Festen Platz" erklärt worden unter der Divisionsführung von Generalmajor Gotthard Fischer als Festungskommandant. Im Grundsatz bedeutete dieser Befehl: Diese Stellung und diese Stadt dürfen - ohne höheren Befehl - keinesfalls aufgegeben werden. Die 126. Infanterie Division war bereits seit März 1944 in den Stellungen dieses Frontabschnitts, der etwa 4 km außerhalb der Stadt Pleskau lag. Es war hier ein leichtes Dünengelände und viel Wald mit Buschwerk. Die Stellungen bestanden je nach den Geländeverhältnissen aus Gräben oder meist mannshohen Palisaden, gelegentlich auch aus einer dichten Blende mit Holzbunkern. Vor der HKL (Hauptkampflinie) befanden sich Gefechtsvorposten in loser Anordnung in Stützpunkten, die rundum aus Palisaden und Holzbunkern bestanden und damit gegen überraschende Angriffe des Gegners relativ gut gesichert waren.

Gleich an meinem ersten Tag wurden wir von einem Feuerüberfall der Russen überrascht. Sie schossen mit Granatwerfern auf die zum Stützpunkt "Martha" führenden Wege, die aus hintereinander gelegten Baumstämmen bestanden, auf die dicke Bretter lagen. Es war ja hier ein Sumpfgebiet, wo alle Befestigungsanlagen oberirdisch angelegt waren. Was ich nicht wusste, war die Tatsache, dass schon morgens ein ähnlicher Feuerüberfall stattgefunden hatte, wobei der Fahnenjunker, den ich ablösen sollte, tödlich verletzt wurde. Mein Kommen war also schon mit einem anderen schweren Schicksal verknüpft. Der Btl.-Kdr. hatte mir davon nichts berichtet, offensichtlich wollte er mich nicht gleich am ersten Tage meines Frontaufenthalts mit einer so schlechten Nachricht konfrontieren.

Ich meldete mich bei einem Leutnant. Er stand vor dem Holzbunker des Stützpunkts "Martha" und hieß mich willkommen. Dann machte ich mich mit den anderen Soldaten bekannt. Danach wurde ich zum Wachdienst eingeteilt. Zuerst erklärte man mir grob die Frontlage, dann die Einzelheiten des Geländeabschnitts in unserer unmittelbaren Nähe, auch die besonderen Gefahrenpunkte, da die russischen Stellungen kaum 100 m von den unseren entfernt waren. Man wies mich auf evtl. mögliche russische Scharfschützen in den Baumkronen hin, auf normale und anormale Geräuschbildungen, besonders in der Nacht. In diesen Stellungen wurden auch von Zeit zu Zeit, meistens in der Nacht, von beiden Seiten Überfälle inszeniert, um Gefangene zu machen. Man schlich sich dann an Bunker oder einzelne Wachtposten heran, um sie zu überwältigen und sie dann mitzunehmen. Jeder Laie kann sich vorstellen, dass eine solche Aktion sehr gefährlich und mit großer Lebensgefahr verbunden ist. Solche Einsätze nannte man "Operation Heldenklau". Rundum war das Gelände vermint, und es bedurfte nur einer kleinen Unaufmerksamkeit, um eine Katastrophe auszulösen. Am ersten Abend meines Hierseins sollte ein Trupp von 6 Leuten in die russischen Linien eindringen, und Gefangene machen. Ich meldete mich hierzu freiwillig, wurde aber abgelehnt, da ich in den Augen der Verantwortlichen noch zu "grün" war, was ja auch stimmte. Das Ergebnis dieser nächtlichen Aktion: 1 Gefangener, 1 toter russischer Soldat, 2 durch eine explodierende Mine schwerverletzte deutsche Soldaten. Eine schlechte Bilanz!

Nach einigen Tagen, ausgefüllt mit Wachestehen an den Palisaden, mit nächtlichen Plagen von Myriaden von Mücken, die kaum abzuwehren waren, suchte ich durch "Rauchen" ihrer Herr zu werden, was aber nicht gelang. Ich zählte eines Tages über 50 Mückenstiche auf meinem linken Handrücken. Auch die offiziell verteilte "Grüne Mückensalbe" half hier nicht. Also rauchte ich auch nicht mehr. Offensichtlich war ich ein beliebtes Angriffsobjekt für die Mücken, denn andere Kameraden wurden mehr davon verschont. Ich besorgte mir ein Mückennetz und Handschuhe, wenn ich nachts auf Wache stehen musste. Auch beim Schlafen im Holzbunker störten mich diese Plagegeister sehr. Wir hingen danach ein großes Netz vor dem Eingang unseres Bunkers, was dann endlich Abhilfe brachte.

Am 13.07.1944 dehnte der Russe seine Angriffe auf die Heeresgruppe Nord aus, die mit dem rechten Flügel bei Polozk, (nordwestlich Witebsk). mit dem linken finnischen Meerbusen bei Narva stand. Zunächst setzte die 2. russische Front im Baltikum zum Durchbruch auf Rositten an, und am folgenden Morgen begann der Angriff der Russischen Front bei Ostrow. Am gleichen Tage wurde unsere 126. Inf.-Div. alarmiert und durch Verbände einer Luftwaffen-Division in den Stellungen um Pleskau abgelöst. Wir wurden in großer Eile, zum Teil sogar im LKW-Transport, zum Teil mit der Eisenbahn (Einladeort Petseri), südl. des Pleskauer Sees) in den Raum Ludsen gebracht.

Wir wurden am 15. Juli 1944 etwa 30 km südostwärts von Ludsen in dem kleinen Ort Rosenau ausgeladen und sofort in eine größere Frontlücke eingesetzt. Hier erhielten wir den Auftrag, die Landenge zu besetzen und zu sperren. Bei Istalsna wurden Teile unserer Regimenter 422 u. 426 noch im Transportzug von russischen Kräften angegriffen. Der Schwerpunkt der russischen Angriffe richtete sich in dem unwegsamen Wald- und Sumpfgebiet auf eine lettische SS-Division. Trotz heftigster Gegenwehr gelangen den Russen hier erhebliche Einbrüche. Als die 126. Inf.-Div. hier eintraf, war es für eine günstige Wendung bereits zu spät, zumal rechts und links ähnliche kritische Entwicklungen eingetreten waren. In den anschließenden schweren Kämpfen versuchten wir unsere Gefechtsziele zu erfüllen. Oftmals kam es vor, dass im Bereich meiner Kompanie die Stellungen 5 - 6 mal am Tage wechselten. Bei einem frühabendlichen Angriff von Infanterieeinheiten der Roten Armee fiel ein Unteroffizier, dem ich auf dem Bahntransport viel Geld beim Kartenspiel abgenommen hatte, durch einen Herzschuss in meiner unmittelbaren Nähe. Das hat mich tief berührt, und ich habe den Spielgewinn mit den anderen persönlichen Habseligkeiten der Familie dieses Kameraden zukommen lassen. Seit dieser Zeit habe ich nie wieder in meinem Leben um so überhöhte Geldeinsätze gespielt, mich überhaupt allen Glücksspielen ferngehalten.

Die Übermacht der sowjetischen Divisionen machte sich hier besonders bemerkbar, da wir einen überaus großen Divisionsabschnitt zu verteidigen hatten. Die ständigen Angriffe der Russen ließen uns kaum zur Ruhe kommen. Unsere Kompanie wurde einmal in einen neuen Abschnitt befohlen, der einen Tag zuvor sehr heiß umkämpft war. Zwei Kompanien von uns waren nahezu aufgerieben, die Toten noch nicht geborgen, sie lagen teilweise noch am Waldrand und im angrenzenden Straßengraben. Viele von ihnen hatten Kopfschüsse, was auf russische Scharfschützen hinwies. Vorsicht war also geboten.

Ich bekam den Auftrag, einen Spähtrupp zu führen, um festzustellen, ob auf einer ca. 2 km entfernt liegenden Straße (Rollbahn), der Gegner bereits Nachschub führte? Zu solchen Unternehmungen suchte man sich meistens die mitgehenden Soldaten selbst aus, oder fragte nach Freiwilligen. Wir gingen zu viert los, suchten und nutzten jede sich bietende Deckung im Wald, der häufig durch Lichtungen unterbrochen war. Es wurde nicht gesprochen sondern wir verständigten uns mit vorher abgesprochenen Handzeichen. Schulmäßig sicherten wir unser Vorgehen und gaben uns beim Überqueren der Lichtungen Feuerschutz. Ich selbst ging voran, und wir kamen gut weiter. Plötzlich sah ich in einer Entfernung von ca. 80-100 m eine Bewegung. Da huschte etwas an meinen Auge vorbei, ohne dass ich es sofort genau identifizieren konnte. War es ein Tier oder ein Mensch? Ich warf mich zu Boden und beobachtete diese Stelle weiter. Es stellte sich heraus, dass es ein russischer Trupp war, der aus ca. 10 Soldaten bestand, und der sich d i r e k t auf unsere Stellungen hin bewegte. Da wir bereits in unmittelbarer Nähe unseres Zieles waren, die Rollbahn sahen, auf der bereits jede Menge an Waffennachschub transportiert wurde, und somit unsere Aufgabe erfüllt war, beeilten wir uns, um noch vor den Russen unsere Kompaniestellung wieder zu erreichen. Wir schlugen einen Haken, und konnten uns dann in der uns abgewandten Frontseite im Wald aufrecht und damit schneller bewegen. Angekommen, wurde Meldung gemacht und unsere Soldaten gleich alarmiert, und auf das Kommen des russischen Stoßtrupps vorbereitet. Das gelang uns hervorragend.

Die Russen waren ahnungslos. Wir ließen sie bis auf ca. 10 bis 15 m an uns herankommen und auf meinen Befehl hin, eröffneten wir das Feuer. Diejenigen Russen, die nicht sofort kampfunfähig oder gleich erschossen waren, erwiderten das Feuer und benutzten dicke Bäume als Deckung. Es war - wie immer im Wald - ein ohrenbetäubender Lärm, den diese Schießerei auslöste. Hierbei wurde mir mein großer Stimmaufwand beinahe zum Verhängnis. Ein Russe erspähte mich, ich ihn ebenso, er nahm seine Maschinenpistole hoch und ich ging blitzschnell in Deckung. Er erwartete wohl, dass ich an der gleichen Stelle wieder hervorkam. Ich ließ mich aber in der Deckung nach rechts abrollen, und tauchte hinter einem anderen Baum wieder auf, wo ich ihn selber tödlich treffen konnte. "Auge um Auge, Zahn um Zahn", wie es in der Bibel heißt, ist die Situation im Kriege, besonders für Infanteristen. Da gilt keine Rücksicht, da gibt es kein Erbarmen, sondern nur das Bestreben, sein eigenes Leben zu retten.

Täglich waren wir schweren Angriffen der Russen ausgesetzt. Feindliche Schlachtflieger warfen Bomben auf unsere Stellungen, unterstützt von Artilleriefeuer. Pausenlos lagen wir unter dem Beschuss von Granatwerfern und den unberechenbaren "Ratschbum-Kanonen", die im direkten Beschuss ihr Zielfeuer auf unsere Vorderhangstellungen richteten. Bei einem Angriff versuchte ich mehrmals Rufkontakt zu unseren Nachbar-Schützenlöchern aufzunehmen, aber es meldete sich niemand. Ich wollte wissen, was dort los war und robbte dorthin. Als ich dort angekommen war, sah ich, dass ein Granatwerfer-Volltreffer beide Kameraden tödlich verletzt hatte. Ich robbte zurück unter dem ohrenbetäubenden Lärm einschlagender "Ratschbum-Granaten". Obwohl ich mich sehr anstrengte, dauerte es doch einige Zeit bis ich mein Schützenloch wieder erreichte. Doch der obere Rand war durch eine Granate zerstört, mein Kamerad war tot. Er lag zusammengesunken im Schützenloch, sein Kopf war zertrümmert.

Was hatte ich für ein Glück gehabt! Man kann in einem solchen Moment nicht sagen, was da einem alles durch den Kopf geht. Sicher große Trauer um den und die anderen toten Kameraden, man denkt dabei zuerst an die Angehörigen, die Familien, die es zu benachrichtigen gilt. Aber auch Hilflosigkeit, eine unbändige Wut, Trotz und Entschlossenheit überfällt einen. Ich kam mir aber auch sehr einsam und verlassen vor. Und immer hörte der Beschuss nicht auf.

Der Tod vieler Kameraden war einfach nicht zu begreifen, nicht ideologisch, nicht religiös, mehr schmerzlich, ungerecht, sinnlos und absurd. Wie konnte man da in verklärenden, mythischen Phrasen vom "Heldentod" reden, wo das Sterben wahllos um sich greift, das Leben nur am seidenen Faden hängt, hoffnungsfrohe Menschen erbarmungslos zu Tode gebracht werden, die ein paar Minuten vorher noch mit einem gesprochen hatten? Wie sollte man da Trost haben, religiös sein und Gottes Allmacht und Menschenliebe begreifen? Ich hatte mir seit meiner Unteroffiziersausbildung keine Illusionen mehr über den Krieg gemacht. Schließlich waren zu der Zeit bereits 4 meiner Cousins gefallen. Am Ende des Krieges waren es insgesamt 9 Angehörige aus den Familien meiner Eltern. Und hier an der Front erlebte ich nun jeden Tag, wie der Tod im Kriege aussieht: grausam, unmenschlich, widersinnig, heimtückisch und unberechenbar. Dennoch hoffte ich weiter auf mein persönliches bisher unbeschreibliches Glück.

Ich lernte im Sommer 1944 unsere Frontsituation realistischer einzuschätzen. Der Unterschied zwischen der offiziellen Propaganda und den tatsächlichen Gegebenheiten war eklatant. Der Zweifel nagte in mir. Die älteren Landser und Vorgesetzten, die schon ein paar Jahre an der Ostfront waren, standen der Propaganda auch kritisch gegenüber. So deutlich wie jetzt hatten wir die Unzulänglichkeiten unserer eigenen Situation noch nicht gesehen und erlebt.

Eine Truppe, die in schweren Kämpfen vom Feind immer nur geschlagen wird, die durch die Überlegenheit und Feuerkraft der gegnerischen Waffen sich immer nur nach Rückwärts orientieren muss, verliert zwangsläufig an Selbstvertrauen. Wenn ganze Kompanien, Bataillone und Regimenter fast total dezimiert werden, können nur noch Erfolge die Truppenmoral verbessern, nicht aber Worte, Propaganda, leere Versprechungen und Hoffnungen. Wer Augen hatte, konnte, ja musste sehen. Jeder von uns sah, dass hervorragende, bewährte Einzelkämpfer durch die aussichtslosen Gefechtssituationen regelrecht verschlissen wurden. Das traf auch u.a. besonders für Offiziere, für Kompanieführer zu. Verwundung und Tod mahnen andere Soldaten instinktiv zu vorsichtiger Handlungsweise. Ich fing an, mir hierüber mehr Gedanken zu machen.

Die relativ kurze Zeit meines Fronteinsatzes - es waren ja nur gerade 45 Tage - war gekennzeichnet durch äußerst schwierige Rückzugskämpfe, eine kolossale Materialüberlegenheit der Russen und eine überaus große Anzahl von Menschenverlusten an Toten und Verwundeten unserer drei Regimenter 422, 424 und 426 in der 126. Infanterie Division. Ich persönlich konnte glücklich sein, ohne Verwundungen diese Zeit überstanden zu haben, aber Ich hatte nun erlebt, was der Krieg eigentlich ist. Ich kannte jetzt den Unterschied zwischen Ausbildung und der Frontrealität. Ich wusste, was man empfindet, wenn ein Kamerad durch eine Granate zu Tode kam. Ich lernte den "Geruch des Todes" im Kriege kennen, wenn Granatsplitter Menschen zerfetzen, die dann in einer Zeltbahn "entsorgt" wurden, um einen Ausdruck unserer heutigen Zeit zu benutzen. Der damals so oft zitierte "Heldentod", war oft nichts anderes als ein "sinnloses Sterben" für wen? Was hatte das Vaterland, was hatte Deutschland davon? Mein Glauben an den "Sieg" war erschüttert worden! Mit "Heldentum" allein, war der Krieg n i c h t zu gewinnen!

Ich hatte Glück, den Fronteinsatz lebend überstanden zu haben, und kam im Oktober 1944 auf die Schule V für Fahnenjunker der Infanterie nach Posen.

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