> Werner Kohler: Nationalsozialistische "Zwillingsforschung"

Werner Kohler: Nationalsozialistische "Zwillingsforschung"

Dieser Eintrag stammt von Werner Kohler aus Gundelfingen, September 2015:

 

Mein Vater Josef Kohler eröffnete 1929/30 seine Heilpraktiker-Praxis in der Zähringer Straße im Stadtteil Herdern in Freiburg im Breisgau. Die Straße wurde später in Adolf-Hitler-Straße umbenannt. Zuvor hatte mein Vater zusammen mit meinem Großvater praktiziert.

Der erste Patient in der Praxis meines Vaters war Herr Farid Fahmy, ebenfalls aus Freiburg. Herr Fahmy war Jude, verkaufte sein Inventar und verließ Deutschland frühzeitig wegen der 1933 beginnenden Judenverfolgung. Mein Vater kaufte ihm einen Teil seiner Wohnungseinrichtung zu einem reellen Preis ab, um Herrn Fahmy die Überfahrt nach USA zu ermöglichen.

1932 heirateten meine Eltern in Freiburg vor dem Standesamt. Im Familienstammbuch aus dem Jahr 1941 heißt es: "Du sollst Dir möglichst viele Kinder wünschen, denn erst bei drei bis vier Kindern bleibt der Bestand des Volkes sichergestellt."

Staatsangehörigkeit, Reichsbürgerrecht und rassische Einordnung wurden meiner Mutter und meinem Vater in diesem Stammbuch bestätigt. Die Basis für eine größere Familie schien gesichert.

Doch es sollte anders kommen. 1934 war meine Mutter hochschwanger und der Vater im Zuchthaus in Berlin. Er hatte sich in der Öffentlichkeit gegen Hitler  geäußert und wurde von einem Nachbarn denunziert. Innerhalb kürzester Zeit wurde er von der Geheimen Staatspolizei aus einem Lokal in der Innenstadt von Freiburg verhaftet und mit unbekanntem Ziel abtransportiert.

Meine Mutter wusste tagelang nicht, was mit dem Vater geschehen war. Bange Wochen vergingen. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an unseren damaligen Rechtsanwalt in Freiburg. Er war Jude und hatte in Berlin studiert und pflegte dorthin noch Kontakt. Meine Mutter war völlig mittellos und trotzdem fuhr der Anwalt im PKW mit ihr zusammen nach Berlin.

Er konnte vor Gericht erwirken, dass mein Vater nach Freiburg in die Haftanstalt überstellt werden konnte. Ein  Jahr Zuchthaus war die vom Volksgerichtshof Berlin verhängte Strafe.

Unser Vater war von nun an Naziverfolgter mit Berufsverbot. Monate später wurde auch unser Anwalt, der ja Jude war, verhaftet. Sein Lebensweg war exemplarisch für das Schicksal jüdischer Bürger Freiburgs. Man transportierte ihn ins Lager Gurs in Frankreich, er kehrte aber nach Beendigung der NS-Schreckensherrschaft nach Freiburg zurück.

Am 23. November 1934 wurden wir, die zweieiigen Zwillinge, Helmut und Werner Kohler, zuhause in Freiburg in der Adolf-Hitler-Straße 99 geboren. Es folgten noch zwei Brüder, Günter (1941) und Dieter (1943).

Unser Vater litt unter dem Berufsverbot als Heilpraktiker, zudem stand er unter steter Beobachtung. Er wurde trotz im Ersten Weltkrieg erlittener Verwundung zum Militär einberufen und kam zur Ausbildung zunächst in die Kaserne nach Villingen-Schwenningen. Nach Beendigung der Kampfhandlungen im Westen gegen Frankreich folgte die vorläufige Entlassung. Der Krieg war jedoch nicht zu Ende.

Am 16. Juli 1943 begann der Leidensweg meines Zwillingsbruders und mir. Einer Aufforderung zu einer normalen medizinischen Untersuchung waren unsere Eltern aus Angst nicht nachgekommen. Ohne jede Vorankündigung erschienen dann im Juli kurz vor 8 Uhr der nazi-uniformierte Schuldirektor mit zwei Zivilpolizisten in Ledermänteln unter großem "Heil Hitler"-Gruß. Die Mitschüler waren erstaunt über diesen Auftritt. Wir wurden aus der Klasse geführt und in einen PKW gezwängt. Mein Bruder und ich weinten, wir hatten Angst. Wir ahnten nicht, was mit uns geschehen sollte.

Das Auto brachte uns ins Anatomische Institut in Freiburg in der Albertstraße. Es wurden die Einzelbrustbilder gemacht und Personaldaten festgehalten. Es folgten Fotos von allen Seiten, unbekleidet. Röntgen, Urinprobe, Bluttest, Injektionen. Jeder Teil unseres Körpers wurde vermessen, abgetastet, mit x Tabellen-Augenfarbe-Haarfarbe-Haarwurzeln verglichen und fotografiert. Wir wurden für bestimmte Eingriffe jeder einzeln auf eine Bahre festgeschnallt. Wir weinten leise vor uns hin. Die Untersuchungen setzten sich fort.

Zweimal pro Woche wurden wir in der Schule zwangsabgeholt. Einspruch der Eltern war zwecklos. Nach Wochen stellten sich fast gleichzeitig bei meinem Bruder und mir Übelkeit, Erbrechen und hohes Fieber ein. Eine Infektion, so informierte man unsere Eltern. Wir wurden in die Kinderklinik Mathildenstraße in Freiburg eingeliefert. Zunächst zur weiteren Beobachtung, so hieß es. Auch die beiden jüngeren Brüder wurden untersucht, jedoch ohne Befund. Ich wurde nach ein paar Tagen entlassen, zwischenzeitlich war die gesamte Wohnung in der Adolf-Hitler-Straße desinfiziert worden. Mein Bruder Helmut wurde nach sieben Wochen nach Hause entlassen und starb qualvoll an einer Zwerchfell-Lähmung.

Tage nach der Beerdigung meines geliebten Bruders wurde mein Vater zum Militärdienst an die Ostfront einberufen. Meine Mutter war verzweifelt. Ich trat allein die 3. Klasse der Karlschule ohne meinen Zwillingsbruder an. Ich war traurig. Die damalige Lehrerin zeigte Mitgefühl.

Einen Monat später sollte ich den Dienst als Pimpf im Jungvolk antreten im Fähnlein 9 im Innenhof des Friedrich-Gymnasiums. Ich war noch zu schwach, um am ersten Geländetraining teilzunehmen, ich blieb fern und wurde vom Fähnleinführer gezwungen, den Dienst anzutreten.

Es herrschte Krieg, die Fronten rückten näher. Die Stadt Freiburg wurde zur Lazarettstadt erklärt. Auf den Dächern fast aller großen Schulen wurden riesige rote Kreuze aufgemalt. Diese Gebäude unterlagen einem bestimmten Schutz.

Schwerverwundete wurden täglich direkt von der Westfront nach Freiburg in die Notlazarette transportiert. Täglicher Fliegeralarm und Luftlagemeldungen beherrschten den Alltag. Die täglichen Sorgen um Nahrung und Gesundheit der Angehörigen ließen den Verlust meines Bruders einigermaßen ertragen.

Freiburg, die Lazarettstadt, blieb nicht mehr verschont. Die Front im Westen war nahe gerückt. Sie verlief bereits auf der Höhe Mülhausen-Colmar-Straßburg. Die Bevölkerung verbrachte viele Stunden bei Tag und Nacht in den Luftschutzkellern. Der Schulunterricht fiel aus. Es begann eine Teilevakuierung der Familien.

Mein Vater bekam zusammen mit seinem Kompaniechef, der ebenfalls aus Freiburg stammte, Sonderurlaub. Große Freude bei meiner Mutter, doch der Vater kam bei uns nicht an. Der Sonderurlaubszug war direkt in den Bombenhagel des Fliegerangriffes auf Freiburg am 27. November 1944 hineingeraten. Tage verbrachten wir in einem tiefen Gewölbekeller in der Nachbarschaft, bis uns durch eine Rotkreuzschwester die Nachricht überbracht wurde, dass unser Vater noch lebte, ihm aber im Bombenhagel das rechte Bein durch einen großen Bombensplitter abgetrennt wurde. Es begann eine Odyssee.

Die Familie ausgebombt, der Vater lebensgefährlich verletzt, flüchteten wir mit Hab und Gut, mit Mutter, Oma, Tante und den kleinen Brüdern unter enormen Anstrengungen über den Schloßberg mit Leiterwagen zu Verwandten nach Neuhäuser (Kirchzarten).

1961 verlor ich meinen Bruder Günter im Alter von 19 Jahren bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall. Heute frage ich mich, wie konnte eine Mutter so viel Leid ertragen?

lo