Nadeshda Minjailo

Sowjetische Plakate aus dem Großen
Vaterländischen Krieg

 

 

Mein Jahrhundert, mein wildes Tier Du, wer vermag Dir ins Auge zu schauen?
(Osip Mandelstam)

 

 

 

Vor einem halben Jahrhundert begann mit dem für die sowjetischen Völker unerwarteten deutschen Überfall ein Krieg, der für die UdSSR zum Großen Vaterländischen Krieg werden sollte. Zwar war die sowjetische Führung über den bevorstehenden Angriff informiert, sie unterließ es jedoch, Vorkehrungen zu treffen. Zwei totalitäre Systeme standen sich in diesem Krieg gegenüber. Entfesselt vom nationalsozialistischen Deutschland zielte er nicht nur auf die Vernichtung der bolschewistischen Führung in der UdSSR, sondern auch auf die Versklavung der sowjetischen Völker.

 

Aggressivität ist ein Wesensmerkmal jedes totalitären Staates und äußert sich in seiner Innen- und Außenpolitik. Während sich im Deutschland der dreißiger Jahre die Aggression in erster Linie gegen seine Nachbarn richtete, betraf in der Sowjetunion die stalinistische Politik des Völkermordes vor allem das eigene Volk. Unser Land wurde von einer doppelten Tragödie betroffen: Von innenpolitischen Verfolgungen geschwächt, wurde es von einem gut organisierten Feind überfallen. Unterstützt von der Antihitlerkoalition errang das Sowjetvolk, dank seiner heroischen Anstrengungen, den Sieg - ihm sei Ruhm und Ehre. Die Zahl der geopferten Menschen für diesen Sieg kennen wir bis heute noch nicht, doch sein Ergebnis nutzte der Bolschewismus. Der totalitäre Staat der Sowjetunion ging gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervor.

 

Wie sehen wir uns, die wir früher Feinde waren, heute? Eine lange Geschichte der gegenseitigen Feindbilder steht zwischen uns und prägt nachhaltig die Geschichte unserer beiden Völker im 20. Jahrhundert. Die Ausstellung gibt die Möglichkeit, sich der Ikonographie des faschistischen Deutschland aus sowjetischer Sicht zu nähern, um gemeinsam im Spiegel der Plakate sich zu erinnern, was vor einem halben Jahrhundert an Aggressivität und Diffamierung bildhaft wurde. Aber das Plakat ist nicht nur ein Spiegel. Wenn wir bereit sind, hinter den Spiegel zu schauen, unsere unbewußte Angst überwinden und die stereotypen Vorstellungen und Modelle der historischen Ereignisse überwinden, die von den Ideologen beider Staaten detailreich für uns konstruiert wurden, können wir die Spezifik des Plakats als Geschichtsquelle einer gemeinsamen Tragödie erkennen.

 

Die gesellschaftliche Funktion des Plakates besteht in der visuellen Vermittlung emotionaler Erregung zur Mobilisierung des Betrachters. Charakteristisch für das Plakat sind die Verbindung von Bild und Text und deren Verbreitung als Botschaft in hoher Auflage. Das Plakat wird in der Regel wegen seiner Bildhaftigkeit als Illustration genutzt, wobei häufig nur auf die erkennbare oder aktuelle Botschaft verwiesen wird. Die viel wichtigere latente oder strukturelle Information, die nicht der Text des Plakates vermittelt, gibt Auskunft über die Weltanschauung, Ideologie und gesellschaftliche Dynamik jener Zeit. Oft blieb diese Dimension des Plakates ungenutzt. Gerade unter diesem Aspekt ist das Plakat eine einzigartige Geschichtsquelle.

 

In Rußland erscheint das Plakat später als in Europa. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts tritt es als Reklameplakat hervor. Im 1. Weltkrieg wachsen ihm erstmals gesellschaftliche Funktionen zu, die mit den politischen Veränderungen nach der Oktober-Revolution eintraten. Die Geschichte des Plakates als ideologische Waffe beim Aufbau des sowjetischen Staates begann. Das Phänomen einer »proletarischen Kunst« bestimmt wesentlich die Plakatkunst des jungen Sowjetstaates. Als Schlüssel zum Verständnis der Gründe, die zur Entstehung dieser Kunst führten, muß auf den außerordentlichen Machtzuwachs des Staates, der zur Errichtung eines totalitären Regimes führte, verwiesen werden. Zu dessen Charakteristika gehörte der zielstrebige Einsatz der Kunst als Mittel der ideologischen Beeinflussung des gesellschaftlichen Bewußtseins. Dabei nahm das Plakat nicht zufälligerweise einen besonderen Platz ein. Aufgrund seiner Spezifik, seiner massenhaften Verbreitung, seiner lakonischen Aussage und Flexibilität entsprach das Plakat besonders gut seiner Rolle in der ideologischen Auseinandersetzung.

 

Der gesellschaftliche Auftrag, den das Plakat zu erfüllen hatte, galt der Verbreitung der Symbolik des sowjetischen Staates, der Propagierung der neuen Helden in der Öffentlichkeit und der Darstellung des Feindes. So kann man beim sowjetischen Plakat bereits seit seiner ersten Geburtsstunde im Jahre 1918 zwei Genres unterscheiden: das heroische und das satirische Plakat. Während es im Bürgerkrieg seine Helden auf die »Verteidigung der Errungenschaften des Oktobers« orientierte, wurde zur Friedenszeit die Mobilisierung der Massen für die Arbeitsfront seine Hauptfunktion. Zahllose Hämmer schlagen auf Ambosse. Kurbelwellen und Zahnräder drehen sich, filigrane Metallkonstruktionen recken sich gen Himmel, elektrische Lampen brennen, Loren rollen auf Schienen, und Lokomotiven werden repariert. Und immer wieder rauchende Schlote. Diese »Symbolik der Industrialisierung« ist das Bildelement des Plakates in den zwanziger und dreißiger Jahren. Immer wieder und wieder verkörpern sie die neue Zeit, in der der Mensch nur ein »Schräubchen« (Stalin) in der Gesellschaft ist.

 

Wesentliche Botschaft der Plakate, die das »neue Leben« und die Erziehung zum »neuen Menschen« propagieren, war die Verteidigung der Errungenschaften des Sozialismus gegenüber einer grundsätzlich feindlich betrachteten Außenwelt. Fixiert auf diese Feindschaft zwischen den Weltsystemen spaltete sich die Motivwelt des Plakates in Freund und Feindbild. Es nutzte dabei traditionelle Bildschöpfungen aus der altrussischen Kunst so zum Beispiel den Drachen. Während der Revolution symbolisierte er die gestürzte Monarchie und zur Zeit des Bürgerkrieges verwandelte er sich zur Hydra des Weltimperialismus. Diese Metapher findet sich vielfältig bei den Künstlern der zwanziger und dreißiger Jahre wieder. In der Folgezeit wird die Hydra des Imperialismus in die Hydra des Faschismus transformiert, als Beispiel sei auf das Plakat von Alexej Kokorekin »Tod dem faschistischen Scheusal« (1941) (ABB.9)verwiesen. Die gespannte Atmosphäre, die Militarisierung des Lebens und die ständigen Aufrufe zur Wachsamkeit sind charakteristisch für das sowjetische Plakat von Anfang an. Seine Helden sind zunächst Arbeiter und Bauern mit dem Gewehr und danach in der Regel der Berufssoldat. Ihn zeichnen Fernglas und Gewehr aus. Die Ausstellung zeigt eine Reihe von Plakaten aus den Jahren vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Besonders interessant ist in künstlerischer Hinsicht das Plakat einer talentierten Vertreterin des Konstruktivismus, Valentina Kulagina »Alles für die Verteidigung der UdSSR« (1930) (ABB.1). Sie erreicht eine starke Ausdruckskraft des Bildes durch die konstruktivistische Klarheit der Komposition, scharfe Konturen und helle Lichtflecken.

 

Der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges steigert den Bedarf an Plakaten. Anzahl der Titel und die Auflagenhöhe nehmen schnell zu. Während in den dreißiger Jahren die Auflage normalerweise 30000 Exemplare betrug, so schwankte sie während der Kriegszeit zwischen 50000 und 150000 Stück. Das Plakat von Irakli Toidse »Mutter Heimat ruft!«  (ABB. 6) vom Juli 1941 erreichte 200000, das Plakat »Soldat der Roten Armee, rette uns! « (1942) (ABB. 18) von Viktor Korezki sogar die Rekordauflage von 400 000 Exemplaren.

 

Der Staatsverlag »Iskusstwo« in Moskau und Leningrad war in den Kriegsjahren das Hauptzentrum der Plakatproduktion. Bereits in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges wurde eine spezielle Plakatform aus den Jahren des Bürgerkrieges - die »ROSTA-Fenster« - in Form der »TASS-Fenster« wieder zum Leben erweckt. Die »TASS-Fenster« sind eine Sonderform des Plakates, die sich im Rückgriff auf die »ROSTA-Fenster« der erprobten Form des schnell reagierenden Bildes bedienten. Ihre Form war aus der Notwendigkeit entstanden, operativer, direkter, vielfältiger und konkreter die Ereignisse aufzugreifen, um sie innerhalb weniger Tage in Bilder umzusetzen, schneller als dies ein Plakat gekonnt hätte. Dies konnte die polygraphische Basis unseres Landes noch nicht leisten. Die »TASS-Fenster« wurden mit Schablonen hergestellt, die es gestatteten, innerhalb einiger Tage immerhin Hunderte an mehrfarbigen Plakaten zu produzieren. Diese Herstellungsmethode hat auch in künstlerischer Hinsicht eine eigene Spezifik bei den »TASS-Fenstern« erbracht. Für sie war die Vielfalt der verwendeten Mittel charakteristisch, so die Verbindung von Bild mit langem Text, die detaillierte vielfarbige Darstellung und der erzählerische Stil. Der Anteil an satirischen Plakaten war sehr hoch.

 

In der Redaktion der »TASS-Fenster« war Nikolai Denisowski Chefredakteur, künstlerischer Leiter wurde Pawel Sokolow-Skalja. An den »TASS-Fenstern« arbeiteten bekannte sowjetische Künstler, Maler, Graphiker und Schriftsteller: Michail Tscheremnych, Pawel Sokolow-Skalja, Kukryniksy, Georgi Sawizki, Demjan Bedny, Vasili Lebedew-Kumatsch und Michail Kultschizki. Es war nicht immer leicht, Text und Abbildungen miteinander zu verbinden. Marschak, der in den Kriegsjahren Texte zu vielen Arbeiten der Kukryniksy schrieb - scherzhaft sprach man von Marskukryniksy - erinnert sich an die gemeinsame Arbeit: »Gewöhnlich stammte die Idee von den Künstlern, und ich schrieb zu der Zeichnung oder Skizze die Verse. Aber damit hatte ich es nicht leichter. Es war notwendig, daß die Verse im »Gleichschritt« mit der Zeichnung gingen, daß sie mit ihnen im Biß, im Rhythmus, in der Einfachheit und Leichtigkeit übereinstimmten.«

 

Die schöpferische Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Literaten ließ Plakate entstehen, deren soziale Funktion es war, den Kampfgeist zu heben und das Volk im Kampf gegen den Feind zusammenzuschließen. Am 28. Juni 1941 erschienen in den Straßen Moskaus die ersten acht »TASS-Fenster«. Leider ist das »Fenster« Nr.1 von Michail Tscheremnych mit dem Titel »Es marschierte der Faschist zum Pruth« verloren gegangen. Die ersten »Fenster« wurden beinahe ausnahmslos mit Gouache oder mit Öl auf Leinwand gemalt. Später benutzte man nur noch Gouache auf Papier. Zur Vervielfältigung übertrug man die Zeichnung vom Original auf Schablonen, danach wurden die Blätter mit wasserfesten Druckfarben bestrichen und anschließend zusammengeklebt. So war das »Fenster« innerhalb weniger Stunden fertig.

 

Über einen Zeitraum von fünfeinhalb Jahren wurden etwa 1500 Plakattitel herausgegeben. In der ersten Zeit betrug die Auflage nur zwischen 20 und 100 Exemplaren. Insgesamt 62 »Fenster« wurden nicht über die Schablone vervielfältigt und existieren somit nur im Original. Zum Ende des ersten Kriegsjahres 1941 stabilisierte sich die Produktion bei etwa 150 Exemplaren je Motiv, ab Frühling 1942 stieg die Auflage erstmals auf 300 und später sogar bis zu 600 Exemplaren. Auf diesem Niveau hielt sich die Auflagenhöhe dann bis zum Kriegsende. Die letzten »Fenster« erschienen in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Die fertigen Plakate wurden in Moskau und Leningrad verbreitet, darüber hinaus auch an Abonnenten versandt. Der Kreis der Abonnenten war sehr groß: Eisenbahnen, Werke, Klubs, Gebiets-, Stadt- und Parteikomitees, Kinos, Bibliotheken, Lazarette usw. Mit dem Übergang zur Friedenszeit ging der Bedarf an »TASS-Fenstern« stark zurück. Am 14. Dezember 1946 erschien als letztes »Fenster«, die Nummer 1485. Die »TASS-Fenster« hatten ihre historische Aufgabe erfüllt.

 

Heute ist die Forschung weitgehend über die Funktion und Aufgabe der »TASS-Fenster« informiert. Aber nicht von jeder Ausgabe ist ein Exemplar erhalten geblieben. Die bekannt gewordenen Verluste beziehen sich alle auf die Anfangsperiode des Krieges. Eine Reihe von Originalen der Plakate ging während der Evakuierung der Redaktion nach Kujbyschew im Oktober 1941 und in Kujbyschew selbst verloren. Viele »Fenster«, die sich in sowjetischen Museen, Archiven und Bibliotheken befinden, sind bisher noch nicht wissenschaftlich bearbeitet worden. Einige sind nur durch Fotografien aus Alben der Redaktion der »TASS-Fenster« bekannt, die in der Staatlichen Lenin-Bibliothek aufbewahrt werden. Von etwa zehn »Fenstern« existieren noch nicht einmal Fotos, sondern nur Angaben im Redaktionsregister oder in der »Chronik der darstellenden Kunst«, die von der Unions-Bücherkammer herausgegeben wurde. 1965 erschien über die »TASS-Fenster«, die in der Staatlichen Lenin-Bibliothek, der Öffentlichen Saltykow-Stschedrin-Bibliothek und im Zentralen Museum der Streitkräfte der UdSSR aufbewahrt werden, ein Gesamtkatalog. Die größte Sammlung der »TASS-Fenster« wird im Staatlichen Historischen Museum in Moskau aufbewahrt. Sie umfaßt etwa 1000 Originale und Schablonen und ist somit eine wesentliche Grundlage für die Forschung und für die museale Ausstellung zum Thema »Großer Vaterländischer Krieg«. Ihre Themen sind im wesentlichen das heroische Pathos des Befreiungskrieges und der Haß gegen den Faschismus.

 

Viele Plakatkünstler wandten sich in direkten Ansprachen an die Betrachter und forderten diese zur selbstlosen Verteidigung der Heimat auf. In allegorischen Bildern von der »Mutter-Heimat« und der Roten Armee, aber auch mit Karikaturen vom deutschen Faschisten traten sie hervor, um das unvorbereitete Volk in den Verteidigungskampf zu fahren. Neben dem heroisch-realistischen oder satirischen Plakat gab es einige symbolisch-allegorische Bildformen. Der Farbenkontrast zwischen Schwarz und Rot, der schon von den Plakatkünstlern während des Bürgerkrieges genutzt wurde, schuf die gedankliche Grundlage für das Bild vom Kampf des Guten gegen das Böse, vom Befreiungskampf des Sozialismus gegen den faschistischen Imperialismus.

 

Das patriotische Pathos des Großen Vaterländischen Krieges findet seinen adäquaten Ausdruck im schon erwähnten Plakat »Mutter Heimat ruft!« (ABB. 6) von Irakli Toidse. Die besondere Stärke dieses symbolisch-allegorischen Plakates besteht in der Vereinigung eines verallgemeinerten mit einem psychologisch charakterisierten Bild. In der Stärke seiner emotionalen Wirkung kann man es mit dem Plakat »Soldat der Roten Armee, rette uns!« (ABB. 18) von Viktor Korezki vergleichen, das während der Schlacht bei Stalingrad erschien.

 

Im August 1942, als das Schicksal der Stadt und des ganzen Landes noch nicht entschieden war und bis zum Gegenangriff der Roten Armee noch mehr als drei Monate harter Kämpfe blieben, wurde in der Prawda das Plakat von Korezki abgedruckt. Danach wurde es immer wieder auf Flugblättern, Postkarten und Briefumschlägen publiziert. Die Gesamtauflage dieses Plakatmotives betrug mehr als 10 Millionen. Höchste emotionale Glut verlieh der Künstler diesem strengen schwarz-weißen Plakat. Viktor Korezki nutzte bei diesem Plakat die Prinzipien der Fotomontage. So sehen wir hier das Plakat an der Wand eines zerstörten Hauses in Stalingrad, wo es den MGSchützen auf dem Plakat von Nikolai Shukow »Schlag' sie tot« (1942) (ABB. 19) veranlaßt, Rache zu üben.

 

Der Künstler gibt die Verbissenheit des Kampfes und die Härte der Schlacht um Stalingrad wieder. Die Einbeziehung des Plakates des Künstlerkollegen Korezki in das eigene Plakatmotiv war von großer emotionaler Wirkung für das sowjetische Volk.

 

Symbol für die Unmenschlichkeit des Krieges, in dem Ströme von Blut vergossen wurden, wurde das Plakat von Marija Nesterowa mit dem Titel: »Papa, schlag' den Deutschen tot« (ABB. 20) von 1942. Ein Kind, das in der Nacht durch den Faschismus zur Waise wurde, ruft zur Rache auf. »Schlag' tot« ist der erschreckende Ausruf des Kindes. Diese tiefe Erschütterung, die viele Kinder in der Sowjetunion durch diesen Krieg erfuhren, läßt die Verrohung der Gefühle während dieses Krieges erahnen. Das Plakat ist eine Widerspiegelung der Tragödie zwischen dem russischen und deutschen Volk.

 

Für das Plakat der Jahre 1942 und 1943 sind als Themen das Leid des Volkes, der Mord, die Zerstörung, die Vertreibung und die Versklavung typisch. 1943 gewinnen Offensive und Befreiung an motivischem Raum. Eine wichtige Errungenschaft der Plakatkunst dieser Zeit war die Schöpfung des sowjetischen Soldaten als Bildtyp, wie er auf den Plakaten von Viktor Iwanow und Leonid Golowanow auftritt. Den Soldaten auf den Plakaten von Viktor Iwanow erkennen wir schon auf den ersten Blick, er schafft den Typus des Rotarmisten. Der Künstler erreicht dies durch die Wahl charakteristischer Details und Gesten. Der Soldat, der mit dem Kolben seiner Maschinenpistole den deutschsprachigen Wegweiser mit der Aufschrift »Nach Osten« zerschlägt, so auf dem Plakat »Nach Westen« (ABB. 33) von 1943, oder die selbstgedrehte Zigarette und der Tabaksbeutel in den Händen des Soldaten auf dem Plakat »So wird es sein« (1945) (ABB. 49) werden zu Ikonen des Großen Vaterländischen Krieges.

 

Auf dem Plakat »Wir trinken Wasser aus unserem Dnjepr, wir werden auch aus dem Pruth, Neman und dem Bug' trinken. Wir säubern das Sowjetland vom faschistischen Unrat!« (1943) (ABB. 34) (1) benutzt Viktor Iwanow ein alltägliches Sujet: der Soldat schöpft mit dem Helm Wasser aus dem Fluß und trinkt es. In dem Buch »Wie entsteht ein Plakat« von 1963 erinnert sich der Künstler: »Es gab die Meinung, daß eine Figur, die typisch und eine symbolische Verallgemeinerung sein soll, schön und feierlich sein müßte. Ich konnte diesen Weg nicht gehen. Bei aller Ethik und erregender Feierlichkeit muß gleichzeitig die Einfachheit und Alltäglichkeit des Vorganges gewahrt bleiben. lch wollte, daß auf diesem Plakat der Soldat sich selbst und seine Kameraden wiedererkannte, die die grauen Mäntel trugen und die, indem sie den Plakattext lasen, schon im voraus, noch vor dem Befehl des Kommandeurs, ihre Aufgabe erkannten und ihr Ziel sahen.«

 

Die Arbeiten von Leonid Golowanow waren in den Kriegsjahren sehr populär. Im Plakat »Wir gehen bis nach Berlin!« (1944) (ABB. 40) gab der Künstler - ähnlich wie Viktor Iwanow - einer gewöhnlichen, alltäglichen Tätigkeit, dem Richten der Stiefel während des Marsches, eine symbolische Bedeutung: der Sieg sei so nahe, so der Text, daß der Soldat es nicht mehr schaffen wird, seine Stiefel abzutragen! Interessant ist die Entstehungsgeschichte dieses Plakates. Leonid Golowanow fuhr als Mitglied des Grekow-Studios für Militärkünstler oft an die Front und besuchte dabei auch die 25. Garde-Division »Tschapajew«. Dort fertigte der Künstler zahlreiche Zeichnungen und Skizzen von der Truppe an. Hier lernte er den bekannten Scharfschützen Golosow kennen und fertigte einige Skizzen von ihm an. Als man während der Offensiven 1944 dem Künstler vorschlug, ein Plakat zum Thema »Wir gehen bis nach Berlin! « zu gestalten, benutzte er seine Skizzen, die er an der Front von dem jungen Rjazaner Scharfschützen Golosow gemacht hatte. Bald sah man das Plakat mit dem Bild des Soldaten, der mit den Worten »Wir gehen bis nach Berlin!« seine Stiefel richtet, an allen Fronten und im ganzen Land. Und als der Tag des Sieges nahte, kehrte Leonid Golowanow wieder zum Motiv seines Helden zurück: Der gleiche Leutnant Golosow, jetzt aber schon zum Manne gereift, mit Kampfauszeichnungen auf seiner ausgeblichenen Feldbluse und verwegen schief aufgesetztem Käppi. Dieser Soldat hatte den Auftrag der Heimat erfüllt, er war bis zur Hauptstadt des faschistischen Reiches marschiert und hatte an den Reichstag geschrieben: »Angekommen, Berlin, 2. 5. 45«. So entstand das bekannte Plakat »Ruhm der Roten Armee« (ABB. 56) im Jahre 1946. Jedoch, der Held der Sowjetunion, Leutnant Golosow, der Prototyp des siegreichen Soldaten, war schon vorher gefallen, ohne je nach Berlin gekommen zu sein.

 

Während das heroische Plakat uns die Empfindungen der Sowjetunion während des Großen Vaterländischen Krieges in den Minuten der höchsten geistigen Anspannung in einem überhöhten Realismus vermittelt, werden die hitleristischen Okkupanten im Plakat wie in einem Zerrspiegel dargestellt, ihr Bild ist deformiert und zeigt die Grausamkeit des Faschismus.

 

Das satirische Plakat des Großen Vaterländischen Krieges ist eine Fortsetzung und Weiterentwicklung der Traditionen der »ROSTA-Fenster«. Besonders deutlich wird diese Kontinuität in den Werken eines Altmeisters der Karikatur, der schon im Bürgerkrieg sehr bekannt geworden war: Viktor Denisow. Zu Beginn des Krieges 1941 wiederholte und interpretierte Denisow die satirischen Typen seiner früheren Werke. Die Wiederholung bekannter künstlerischer Bildformen war charakteristisch für das Plakat bei Kriegsbeginn. »Jeder Hammerschlag ist ein Schlag gegen den Feind« von 1941 ähnelt einem Plakat aus dem Bürgerkrieg mit dem gleichen Text, und das Plakat »Das Gesicht de Hitlerismus« (ABB.11), ebenfalls von 1941, gleicht seinen Karikaturen vom Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre, die den Faschismus entlarven sollten.

 

Durch die Darstellung des deutschen Faschismus als schreckliches, mit dichtem Fell behaartes Fabelwesen wollte Denisow dessen grausames Wesen zeigen. Jedoch war dies zu allgemein und fügte nichts Neues zu den bereits vorhandenen Vorstellungen über den Faschismus hinzu. Das satirische Bild rief bei dem Betrachter keine direkten Assoziationen zu den tragischen Tatsachen und Ereignissen hervor, die im Lande vorgingen.

 

Erst Ende 1941, als der Blitzkrieg Hitlers mit einem völligen Mißerfolg endete, fand der Künstler einen neuen Typus von Feindbildern und schuf eine ganze Galerie von scharfsinnigen, denkwürdigen Plakaten mit Karikaturen von Hitler und seinen Spießgesellen. Viktor Denisows Plakat »Nach Moskau: Hach! Vor Moskau: Ach!« (ABB. 23) wurde am 7. Dezember 1941 in die Druckerei gegeben. An diesem Tag gingen die sowjetischen Truppen vor Moskau zum Gegenangriff über. Für sein Plakat sind die ausdrucksvolle, lakonische Zeichnung, die sorgfältige Auswahl von Einzelheiten und die finstere Farbgestaltung charakteristisch. Die Zweiteilung der Szene gibt den Kontrast zwischen den Wünschen Hitlers vor und nach dem gescheiterten Russland-Feldzug wieder. Unter Trommelschlag schreitet Hitler im linken Teil des Plakates mutig voran. Schon in der satirischen Form der Darstellung der Pläne Hitlers besteht ihre Entlarvung, die im zweiten Teil verstärkt wird. Hier finden wir keine Spur mehr von Selbstsicherheit. Gebeugt, ohne Mütze, reißt Hitler vor Moskau aus. Trotz der kleinen Auflage von nicht mehr als 10 000 Exemplaren wurde diese Karikatur sehr bekannt und zu einem Klassiker des satirischen Plakates.

 

Noch jämmerlicher und dem Ende nahe sieht Hitler auf dem Plakat »Die faschistische Rechnung. Ihre Korrektur durch die Rote Armee! « (ABB. 42) von 1944 aus. Aber er ist noch nicht vollständig geschlagen. Ihren Höhepunkt erreicht diese Galerie von Hitlerkarikaturen in dem Plakat »Nirgendwo kann sich dieser Unmensch noch verstecken.. .« (ABB. 50) aus dem Jahr des Sieges. Vom schwarzen Hintergrund hebt sich das Gesicht Hitlers ab, das von panischer Angst vor der herannahenden Katastrophe erfüllt ist. Überzeugend wird die tierische Angst des Führers wiedergegeben, sein Blick ist voll hilfloser Wut. Typisch ist, daß Denisow die Mehrzahl seiner Plakate mit Versen versieht, die er selbst verfaßt hat und die mit den Abbildungen ein einheitliches Ganzes bilden. Nach der entscheidenden Schlacht bei Stalingrad sind von ihm zwei Plakate geschaffen worden, die es verdienen hervorgehoben zu werden. Das eine gibt ein Versprechen im Jahre 1943, das zweite Plakat von 1945 stellt die Erfüllung dar: »Der Besen der Roten Armee wird den Unrat vollständig fortfegen!« (1943) (ABB. 39) und »Der Besen der Roten Armee hat den Unrat vollständig fortgefegt!« (1945) (ABB. 52). Die Dynamik der Komposition akzentuiert den Elan des Soldaten durch seine energische Handbewegung und die diagonale Bewegung seines Gewehrs mit einer Vielzahl von Bajonettklingen, die in einem Bündel zusammengefaßt sind. In der Komposition dieser Plakate ist der Einfluß des volkstümlichen Lubok (2) deutlich spürbar.

 

Unübertreffliche Meister der satirischen Graphik waren die Künstler Kukryniksy. Unter diesem Pseudonym verbarg sich ein Kollektiv von Künstlern, die alle Absolventen der Höheren Künstlerischen und Technischen Werkstätten (VCHUTEMAS-VCHUTEIN) waren und seit 1925 gemeinsam arbeiteten: Michail Kuprijanow, Porfiri Krylow und Nikolai Sokolow. Aus den Anfangssilben ihrer Familien- und Vornamen wurde das Pseudonym gebildet.

 

Am 22. Juni 1941 skizzierten die Kukryniksy ein Plakat, das zum ersten Plakat des Großen Vaterländischen Krieges werden sollte. Am dritten Kriegstag wurde dieses Plakat »Gnadenlos schlagen und vernichten wir den Feind!« (ABB. 8) schon in den Straßen Moskaus geklebt. Das Plakat mit dem Bild Hitlers, der den Nichtangriffsvertrag zwischen der UdSSR und Deutschland zerreißt, fiel sofort auf. Es war der Auftakt zum Großen Vaterländischen Krieg und benannte den Vertragsbruch von seiten Hitlers. Kurz vor der Einnahme Berlins im April 1945 entwarfen die Künstler für die »TASS-Fenster« ein Plakat, das praktisch eine Neubearbeitung dieses ersten Plakates war; es nannte sich »Stoß ins Herz« (ABB. 55). Die Wiederverwendung des Motives nach vier Jahren blutigen Krieges rief einen psychologischen Effekt hervor, mit dem ein emotionaler Schlußpunkt hinter die Chronik der Kriegshandlungen im Großen Vaterländischen Krieg gesetzt wurde.

 

Die satirischen Plakate der Kukryniksy verblüffen durch ihren Einfallsreichtum und die Formenvielfalt, die von den Künstlern beherrscht wurde. Es sind entweder ausführlich erzählende Plakate wie das »Brutalitätszeugnis« (1942) (ABB. 30) und der »Junge Fritz« (1942), oder sie gleichen dem Lubok wie zum Beispiel »Schulden müssen bezahlt werden« (1941) (ABB. 13), oder sind lakonisch wie »Die Zangen in der Zange. . .« (1941) (ABB. 15) und »Zwei Kessel« (ABB.48). In all diesen Arbeiten verwenden sie ihre Lieblingsmethode, die Metapher. Die Verwendung von Metaphern gilt auch für das »TASS Fenster« Nummer 982 »Unter den Schlägen der Roten Armee . . .« (1944) (ABB. 47), das den Zusammenbruch des faschistischen Machtbereichs darstellt. Die Kukryniksy haben während des Krieges auf den verschiedensten Gebieten der satirischen Graphik äußerst erfolgreich gearbeitet. Allein 68 »TASS-Fenster« sind von ihnen. Ihre intelligenten Karikaturen wurden regelmäßig in den Zeitungen und Zeitschriften publiziert.

 

Am 24. Juni 1941 wurde das Plakat »So war es . . . so wird es! « (ABB. 16) von Nikolai Dolgorukow für den Druck freigegeben. Es ist ein Zeugnis dafür, daß schon in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges spontan eine Assoziation mit dem Vaterländischen Krieg von 1812 bestand und eine Analogie zwischen dem Schicksal Hitlers und Napoleons gesucht wurde. Die heroische und ruhmreiche Vergangenheit des russischen Volkes wurde zu einem der populärsten Themen des sowjetischen Plakates im Zweiten Weltkrieg.

 

Tatjana Mawrina, die später zu einer der berühmtesten lllustratorinnen der russischen Volksmärsche werden sollte, schuf im Juli 1941 den Lubok »Halt! Lies den Bericht . . .« (ABB. 17), mit den Versen von Abram Efros. In der typischen erzählenden und beschreibenden Lubok-Manier schuf die Künstlerin eine Komposition aus mehreren Bildern, die von Episoden aus der heroischen Vergangenheit des russischen Volkes berichten: 1. Die Schlacht auf dem Eise des Peipus-Sees (3),   2. Der Sieg über die Heere Mamais (4), 3. Der Vaterländische Krieg 1812, 4. Der Sieg über Wilhelm (5), 5. Der Sieg über Hitler.

 

Die Addition aneinandergereihter Bilder bedeutet eine gewisse Statik in der Gesamterscheinung des Plakates. Die dem Lubok aber eigene Intimität, Wärme und Dekorativität verhindern, daß man an dem Werk dieser talentierten Künstlerin vorbeigehen kann.

 

Unter den hier erstmals gezeigten Plakaten verdient eines, an erster Stelle genannt zu werden. Es ist das »TASS-Fenster« vom 14. Dezember 1941 von Pawel Sokolow-Skalja (ABB. 14). Es entstand in jenen Tagen, als der Feind nach Moskau vordrang und entsprechend prahlerisch die Wehrmachtsführung die Mitteilung machte, das Stadtinnere könne man »mit einem guten Feldstecher betrachten«. Diese Äußerung diente dem Künstler als Grundlage für eine aus drei Bildern bestehende Komposition. Ihre Auflage betrug 150 Exemplare, aber selbst die größten Sammlungen verfügen über kein einziges Schablonenplakat. Das Staatliche Historische Museum besitzt das einzige bisher festgestellte Exemplar dieses »Fensters«. Es ist die Originalvorlage, die der Künstler mit Gouache-Farben für die Schablonenherstellung anfertigte.
Zu den Bildern gehörte ein Text, der auf dem Original fehlt:

Gierig glotzt der Führer
über Panzerhindernisse und Gräben.
Im Feldstecher ist es sehr, sehr,
sehr nahe bis Moskau!

Aber Moskau in seinem Eigensinn
verabschiedet ihn gehörig!

 

Zu den Raritäten gehört das Original des »TASS-Fensters« »Die Zangen in der Zange« (ABB. 15) von 1941, das von den Kukryniksy unter Benutzung von Versen Valentin Katajews gestaltet wurde:

Keine festen Sachen
sind die deutschen Zangen.
Viel schmerzhafter
sind die sowjetischen Zangen.

Mit diesem einprägsamen Bild zeigten die Künstler das Scheitern des Blitzkrieges von Moskau. Dieses »Fenster« wurde immer wieder reproduziert und wurde zu einem Klassiker des satirischen Genres in der Sowjetunion. Mit Beginn des Jahres 1942 werden für die »TASS-Fenster« Karikaturen wie »Es fährt, fährt...« von Boris Semenkow typisch. Im Staatlichen Historischen Museum wird das Original, aus drei Bildern bestehend, aufbewahrt. Auf dem ersten Bild sieht man einen wackeren Krieger wichtigtuerisch auf seinem Panzer sitzen mit einer Wurst in der Hand. Es ist einer von jenen, die, nachdem sie in Wolokolamsk (6) ihren Tee getrunken hatten, zum Mittagessen nach Moskau eilen wollten. Auf der Rückseite des Blattes ist folgender Vers von V. Sachartschenko vermerkt:

Es fährt, fährt, fährt auf dem Panzer,
es fährt ein Wurst-Deutscher.
Da rollten auf der Lichtung
alle vier Räder auseinander.

Auf dem nächsten Bild sieht man den explodierenden deutschen Panzer, der Text hierzu lautet:

Wir hatten dem kräftigen Faschisten
ein Geschenk vorbereitet.
Da gab es nur eine Antwort:
Granaten!
Niemand blieb übrig!

Die letzte Szene, bei der ein Rotarmist seine Socken auf der Mündung des Kanonenrohres des deutschen Panzers trocknet, ist betextet mit:

Und auf dem Panzer hängten wir
zum Trocknen unsere Fußlappen auf!

Originell ist das »TASS-Fenster« Nr. 339 mit dem Titel »Zähnefletschend vor Moskau heulten bissige Wölfe« (1942) (ABB. 31), auf dem sich der Künstler V. Trofimow über die Niederlage der Faschisten vor Moskau lustig macht. Die faschistischen Heere kesselten wie Wolfsrudel die Hauptstadt ein. Da stand der sowjetische Soldat auf, hob die Hand und verjagte die geschlagenen Wölfe von den Mauern Moskaus. Das Historische Museum bewahrt das Original auf - das einzige Exemplar, das bisher aufgefunden wurde und hier nun erstmalig ausgestellt wird.

 

Die Ausstellung zeigt nicht zufälligerweise in der Mehrzahl satirische »Fenster«, obwohl ihrer Zahl nach das Verhältnis zwischen satirischen und heroischen Blättern etwa gleich ist. Die heroischen Plakate haben jedoch meist einen deklamatorischen Charakter und sind vom künstlerischen Standpunkt weniger interessant. Gerade im satirischen Genre zeigen sich die Stärken der »TASS-Fenster«.

 

Dennoch, eines der überzeugenden heroischen »Fenster« hat den Titel »Wir werden das Nowgoroder Land vom Feind befreien!« (1944) (ABB. 45) von Pawel Sokolow-Skalja. Das Plakat benutzt ein Epigraph von Alexander Newski: »Wer mit dem Schwert zu uns kommt, wird durch das Schwert umkommen.« Der Künstler aktualisiert den Typ des altrussischen Kriegers im roten Mantel. Er bewirkt damit bei dem Betrachter Assoziationen zur heroischen Vergangenheit. Der Autor ist durch seine Vielseitigkeit bekannt geworden. Von ihm stammen mehr als 300 »Fenster« sehr unterschiedlichen Genres, als Karikatur, als Lubok, als heroisches Plakat usw.

 

Die offizielle Propaganda, die die patriotischen Gefühle des Volkes ausnutzte, begann zielstrebig die Helden der russischen Geschichte für sich zu reklamieren. In einer Rede, die Stalin auf einer Festsitzung des Moskauer Stadtsowjets, der Partei- und gesellschaftlichen Organisationen der Stadt Moskau am 6. November 1941 gehalten hatte, erklärte er: »Man beruft sich auf Napoleon, und versichert, Hitler handle wie Napoleon und er gleiche Napoleon in allem. Erstens aber sollte man das Schicksal Napoleons nicht vergessen. Und zweitens gleicht Hitler Napoleon nicht mehr als ein Kater dem Löwen. . .« (7). Dieser Ausspruch Stalins diente als Sujet für eine ganze Reihe von Karikaturen in Zeitungen und Zeitschriften, auf Plakaten und »TASS-Fenstern«.

 

Unter den satirischen Blättern, die als Reaktion auf diesen Ausspruch erschienen, befindet sich auch das ausgestellte Plakat eines unbekannten Autors »Löwe und Kater« (1941) (ABB. 12). Um das lllusionistische der Absichten Hitlers, wie Napoleon in den Kreml einzuziehen, zu entlarven, bedient sich der Künstler der kontrastierenden Gegenüberstellung. Allerdings gelang es ihm nicht, einen eindeutigen Typus zu schaffen, da das Plakat illustrativ und zu kleinteilig ist.

 

Am nächsten Tag, dem 7. November 1941, kehrte Stalin bei seiner Rede auf dem Roten Platz wiederum zur ruhmreichen Vergangenheit Russlands zurück, indem er ausrief: »Möge Euch in diesem Krieg das heldenmütige Vorbild Eurer großen Vorfahren beseelen - Alexander Newski (8), Dmitri Donskoi (9), Kusma Minin (10), Dmitri Posharsk (11), Alexander Suworow  (12), Michail Kutusow (13)! « (14). Diese Worte fanden vielfältigen Widerhall in den Plakaten. Die Künstler Viktor Iwanow und Olga Burowa stellten zwischen dem Dezember 1941 und dem April 1942 eine Serie von sechs Plakaten her, auf denen jeweils der aufgeführte »große Vorfahre« zusammen mit einem Stalinzitat zu finden ist. In der Ausstellung befindet sich aus dieser Serie ein Plakat mit den Worten des Dmitri Donskoj: »Besser ein ehrenvoller Tod, als ein Leben in Schande.«

 

Während des Großen Vaterländischen Krieges setzte auch der Altmeister der sowjetischen Plakatkunst Dmitri Moor (Orlov) sein Werk fort. Er leitete damals eine Brigade an der Staatlichen Kunsthochschule in Moskau, die ebenfalls an Plakaten arbeitete. In der Ausstellung finden wir von Moor das Plakat »Die Bestie ist verwundet: Schlagen wir die Bestie endgültig tot!« (1943). Es ist bekannt, daß Mooran derErarbeitung der »TASS-Fenster« teilgenommen hat, seine Mitautorenschaft für eines der »Fenster« ist nachgewiesen. Wahrscheinlich wurden auch drei weitere der ausgestellten Arbeiten in den Werkstätten der »TASS-Fenster« hergestellt, bei denen Schablonen und Papiermache Verwendung fanden. Nur eines der Blätter ist mit »Moor« gezeichnet. Stilistisch und künstlerisch ist eine Autorenschaft Moors für alle drei Arbeiten sehr wahrscheinlich. Abgebildet sind auf den Plakaten Karikaturen von Hitler, Goebbels und das verallgemeinerte Bild des gewöhnlichen Faschisten. Diese Originale sind geeignet, unsere Vorstellungen über die Plakate der Kriegszeit und ihre technischen und künstlerischen Möglichkeiten zu erweitern, da wir sie zum erstenmal der Öffentlichkeit zeigen.

 

Wir haben ihrem Genre und ihrer Form nach unterschiedliche Arbeiten von Künstlern der Kriegszeit Revue passieren lassen - vom Lubok zum satirischen Plakat bis zum symbolischen, heroischen Plakat und den monumentalen »TASS-Fenstern«. Hat es sich gelohnt, in diesen Spiegel zu schauen und was können wir als Völker daraus lernen? Das Bild des Feindes ist in erschreckender Weise deformiert, das des eigenen Helden geschönt. Diese konstruierte Welt, oder genauer ihr Modell, stützte sich auf das gesellschaftliche Bewußtsein der kämpfenden Völker. Das Plakat ist eine bissige Waffe, die von beiden Seiten eingesetzt wurde. Es gestattet uns, den Wirkungsmechanismus des ideologischen Apparates zu verfolgen, der darauf gerichtet war, die Völker gegeneinander zu hetzen. Es ist schwer, Menschen zu töten, aber wenn vor uns nicht Menschen, sondern Gorillas, Hyänen, Spinnen, Ratten, Kannibalen, Aasgeier und Scheusale stehen, dann ist die moralische Entscheidung vorweggenommen, der Mord hört auf, ein Verbrechen zu sein und verwandelt sich in eine Heldentat. Das Plakat half wie andere Mittel der Massenpropaganda auch -, die moralische Barriere zu überwinden, und nicht zufälligerweise hat das Plakat in Deutschland und in der UdSSR eine so bedeutende Rolle gespielt. Allerdings gab es in der Ausgangssituation beider Seiten einen wesentlichen Unterschied: Während der Faschismus das Plakat für seine Aggression nutzte, kämpfte das sowjetische Volk für seine nationale Unabhängigkeit. Für uns wurde dieser Krieg zum Großen Vaterländischen Krieg. Wenn man sich den Mechanismus und die Funktion des Plakates als ideologische Waffe vergegenwärtigt, muß man die objektiv progressive Rolle des sowjetischen Plakates im Kampf für die Befreiung vom faschistischen Joch anerkennen.

 

Die große Tragödie unseres Volkes hat allen Plakaten ihren Stempel aufgedrückt, und die Wahrhaftigkeit der Gefühle fand ihre adäquate Widerspiegelung in den besten Plakaten. Sie berichten mehr über den Krieg als allgemeine Worte über den Heroismus, da die Plakate uns eine Möglichkeit bieten, die Emotionen nachzuempfinden, denen unsere Väter und Mütter vor einem halben Jahrhundert ausgesetzt waren. Die emotionale Spannung, die von Plakaten wie »Mutter-Heimat ruft« von Irakli Toidse (1941) und »Soldat der Roten Armee, rette uns!« von Viktor Korezki (1942) ausgeht, ist so nachhaltig, daß sie uns auch heute nicht gleichgültig läßt.

 

Die Völker unseres Landes, die dem Faschismus die Niederlage brachten und sich damit von der drohenden nationalen Versklavung befreiten, blieben unter dem Joch des eigenen totalitären Systems. Dieses eignete sich den Ruhm des Siegers an. Stalin und die Partei hatten das Land zum Sieg geführt. Der Personenkult um Stalin nahm nach dem Krieg unerträgliche Formen an, das Nachkriegsplakat gibt leuchtende Beispiele für Liebes- und Ergebenheitsbeweise gegenüber dem Großen Führer. Aber das ist bereits eine neue Seite unserer Geschichte. Die des Großen Vaterländischen Krieges endete hier, an den Mauern des eroberten Reichstages, wo auf dem Plakat von Alexej Kokorekin »So wird es mit der faschistischen Bestie kommen« (ABB. 54) die faschistische Bestie ihren Geist aufgab.

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Fußnoten

1. Die Flüsse Pruth, Neman (Memel) und Bug bildeten damals die Westgrenze der              UdSSR.

2. Russischer Volksbilderbogen, vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis Ende des 1 9. Jahrhunderts.

3. Die Schlacht auf dem Eis des Peipus-Sees am 5. April 1242 war ein entscheidender Sieg der Nowgoroder unter Alexander Newski über die Ritter des Livländischen Ordens.

4. Am 8. September 1380 Sieg eines russischen Heeres über die Tataren unter Mamai in der Schlacht auf dem Kulikower Feld (250 km südlich von Moskau).

5. Gemeint ist der 1. Weltkrieg.

6.  Wolokolamsk, Stadt 129 km nordwestlich von Moskau. 1941 ein Angriffs schwerpunkt der Wehrmacht.

7.  J. Stalin: Uber den Großen Vaterländischen Krieg der Sowietunion, Berlin (Ost) 1952, S.33.

8.  Alexander Newski, geb. um 1220, gest.1263, Fürst von Nowgorod, seit 1252 Großfürst von WladimirSusdal. Siegte 1240 über die Schweden, 1242 über ein deutsches Heer. Heiliger der russisch-orthodoxen Kirche. 1942 Stiftung eines sowjetischen Militärordens, der seinen Namen trägt.

9.  Dmitri Donskoi, geb.1350, gest.1389. Großfürst von Wladimir und Moskau. Sieger über die Tataren auf dem Kulikower Feld (1380). Heiliger der russisch-orthodoxen Kirche.1942 Stiftung eines sowjetischen Militärordens, der seinen Namen trägt.

10. Kusma Minin, gest.1616. Volksheld. Organisator der Befreiungsbewegung gegen Schweden und Polen.

11.  Dmitri Posharski, geb. 1578, gest.1642. Fürst. Militärischer Führer des Volksaufgebotes gegen die Polen 1612.

12.  Michail Suworow, geb. 1729, gest.1800. Kämpfte erfolgreich gegen Polen, Türkei, Frankreich, 1799 Oberbefehishaber des russischen Heeres, 1942 Stiftung eines sowjetischen Militärordens, der seinen Namen trägt.

13.  Alexander Kutusow, geb. 1745,gest.1813.1812 Oberbefehishaber gegen das Heer Napoleons.1942 Stiftung eines sowjetischen Militärordens, der seinen Namen trägt.

14.  J. Stalin, a.a.O. S.42.