Marianne Birthler
 
 
Schauspielerin
 
   
 

Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor. Diese Hoffnung, die seit ein paar Wochen endlich in der DDR wächst, sollte, bevor sie so groß wurde wie heute, am Abend des 7. Oktober und in den Tagen und Nächten danach niedergeknüppelt werden. Ich arbeite in der Berliner Kontakt-Telefon-Gruppe mit. Wir haben über zweihundert Berichte gelesen, in denen davon die Rede ist, wie Menschen gejagt, geschlagen, gedemütigt und verurteilt wurden. Alle, die diese Berichte kennen, haben begriffen, hier handelte es sich nicht um Übergriffe einzelner, nicht nur um kleine Büttel, die künstlich in Streß versetzt wurden, drauflos knüppelten und grinsend Menschen befahlen, sich auszuziehen und Kniebeugen zu machen. Nein, das Unrecht ist auf auf Befehl geschehen. Es ist geplant, vorbereitet und befohlen worden. Es geschah auf einen Schlag, auf den Straßen, in Rummelsburg, in Blankenburg, in den Garagen und auf den Höfen der Polizeireviere, in den Kasernen der Bereitschaftspolizei, in Berlin ebenso wie in anderen Städten der DDR. Wer sich von den Polizisten solidarisch verhielt, mußte dies heimlich tun. Wer sich weigerte, mußte mit Strafe rechnen.

Bis heute ist nicht beantwortet: Wer hat die Befehle gegeben, wer hatte die politische Verantwortung, wer hat befohlen, daß Polizisten aufgehetzt wurden und Angst vor der Bevölkerung hatten. Wer hat ihnen gesagt, daß man sie auf dem Alexanderplatz aufhängen würde. Der vom Berliner Magistrat gestern Vormittag auf öffentlichen Druck hin eingesetzte Untersuchungsausschuß befriedigt noch nicht, weder in Hinblick auf seine Zusammensetzung noch auf seine Zielsetzung. Offenbar wurde in einer eiligen Aktion versucht, der Entstehung einer wirklich unabhängigen Untersuchungskommission zuvorzukommen, die gestern nachmittag gebildet wurde.
Dieser unabhängige Untersuchungsausschuß , zu dem beauftragte Vertreter von Künstlerverbänden, demokratischen Initiativen, der Kirche sowie Ärzte, Anwälte und Psychologen angehören, ist bereit, mit dem Untersuchungsausschuß des Magistrats zusammenzuarbeiten, wenn gewährleistet ist, daß dort auch die Fragen der politischen Verantwortung geklärt werden und daß dort niemand mitarbeitet, der in die Gesetzesverletzungen verstrickt ist. Diese Forderungen ergeben sich aus der Verantwortung jenen gegenüber, die uns ihre Berichte gegeben haben, weil sie durch ihr Erleben das Vertrauen in staatliche Instanzen verloren haben. Was auch immer sich in diesen Tagen verändert, an einem Punkt sind wir noch nicht sehr viel weiter gekommen. Wie schaffen wir die politischen Strukturen, die ein für allemal verhindern, daß so etwas noch einmal geschieht. Ich zitiere einen Diensthabenden in Rummelsburg, als eine Frau ihre Rechte einklagen wollte:" Die Verfassung der DDR interessiert mich nicht, Rechte habt ihr hier unten nicht, und die Gesetze mache ich." 48 Stunden hatte er Recht und noch ist nicht sicher, daß er nie wieder eine Chance bekommt. Es ist gut, für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, eine besser funktionierende Wirtschaft und ein neues Bildungssystem zu kämpfen. All das ist bitter notwendig, aber ...

All das ist bitter notwendig, aber wir sollten bei alledem nicht vernachlässigen, daß diese Rechte gesichert werden müssen, daß heißt, wir müssen über die Fragen der Macht nachdenken und darüber, wie Macht kontrolliert werden kann. Christoph Hein hat kürzlich die Frage gestellt, was Menschen veranlaßt hat, so zu handeln. Er fand eine schlimme Antwort: Weil sie dachten, wir würden weiter schweigen. Es hat nicht funktioniert. Wir haben nicht geschwiegen. Der gewaltige Unterdrückungsversuch hat eine für die DDR einmalige Welle von Mut und Solidarität bewirkt. Zu alledem, zum Leiden und zur Solidarität der letzten Wochen, gibt es zahllose Geschichten, wie Menschen verändert wurden. Wir werden uns morgen und in der nächsten Zeit nicht ausruhen können. Noch sind Menschen unschuldig in Haft, für die wir uns einsetzen werden. Wer im Zusammenhang mit dem 7. Oktober bestraft wurde, wurde zwar amnestiert, aber, eine Amnestie ist ein Gnadenakt und keine Gerechtigkeit. Wir fordern Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. Überhaupt gibt es viel zu tun. Abrüstungsprogramme für Wasserwerfer und ähnliche Geräte müssen entwickelt und durchgesetzt werden. In dem Betrieben krempeln Werktätige ihre Gewerkschaften um oder gründen lieber gleich neue. Studenten organisieren sich. Die Oppositionsgruppen kämpfen mit Papiermangel und anderen technischen Tücken. Lehrer tun sich zusammen, um etwas zu verändern und so weiter und so weiter. Wer etwas tun will, hat viel Auswahl.

 

 
 

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