Manfred Gerlach
 
 

Vorsitzender der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD)
Stellv. Oberbürgermeister in Leipzig
Amt. Staatsoberhaupt der DDR (Dezember 1989-März 1990)

 
     
   
Mündige Bürgerinnen und Bürger. Diese bewegende Willenskundgebung ist auf Vorschlag Berliner Künstler zustande gekommen. Lassen Sie mich deshalb zunächst unmißverständlich sagen: Das Ansehen unserer Republik in der Welt gründet sich wesentlich auf die schöpferischen Leistungen ihrer Künstler. Deshalb auch haben die Künstler, die heute mit vielen anderen Bürgern dieses Landes hier versammelt sind, das Recht, für ihr Schaffen gute, vernünftige, zuträgliche Bedingungen zu fordern. Bedingungen also, die sie nicht behindern , sondern ihnen im Gegenteil alles abfordern, alles, das sie nur zu geben in der Lage sind. Kein Talent darf uns verlorengehen, schon gar nicht über die Grenze. Kein Talent darf brachliegen oder verkümmern. Wir brauchen jedes Bild und jedes Stück, jede Note und jeden Film, jeden architektonischen Einfall und jeden klugen Spaß, wir brauchen alle Künstler, auf welchem Gebiet sie auch arbeiten.
Ich bin Vorsitzender einer Partei und will mir nicht anmaßen, hier über die Entwicklung der Künste als Fachmann etwas sagen zu können. Aber für die beispielhafte politische Haltung der Künstler in den letzten Tagen und Wochen will ich hier aufrichtig Dank sagen. Sie haben wach, sensibel, betroffen und mit revolutionärer Ungeduld, tapfer und unbeirrt auf eine Krise der gesellschaftlichen Entwicklung in unserem Lande aufmerksam gemacht. Sie gehörten mit zu den ersten, die die Wende forderten. Wir, die LDPD, haben die Tür zur Erneuerungspolitik aufgestoßen, deshalb habe ich gern das Angebot angenommen, hier zu sprechen, auch um zu zeigen, daß es keine Phrase ist, auf die Unverzichtbarkeit der Künste in unserem Alltag hinzuweisen. Dieser Tag, diese Willenskundgebung ist ein schöner, ein ermutigender Beweis dafür. Lassen Sie mich nun aber auch als Vorsitzender der LDPD noch einige Gedanken äußern. Wie unserem Lande von seinem geistigen Potential nichts verlorengehen darf, so genausowenig von seinem reichen politischen Spektrum. Es muß jeder Gedanke daran überwunden werden, daß die Wahrheit nur im Besitz einer Gruppe, einer Partei, einiger Funktionäre ist! Deshalb muß endlich auch die Volkskammer in aller Offenheit zur Lage im Lande Stellung nehmen.

Wir Liberaldemokraten halten Block und Nationale Front dann für aktionsfähig, wenn darin die Ideen, die Gedanken, die Vorschläge des ganzen Volkes vereinigt sind. Das Unsere wollen und werden wir dazu beitragen, daß kein Gedanke und keine Idee, daß vor allem keine Bereitschaft zum konkreten Tun mehr verlorengehen. Wir wollen Alternativen zur Debatte stellen. Wir bestehen auf Meinungsstreit, auf Einrede und Widerspruch. Wir wollen aus der Geschichte und den Erfahrungen unserer Partei den liberalen demokratischen Geist kräftig lebendig machen. Das heißt, Offenheit und völlige Gleichberechtigung in der Beschäftigung mit allen gesellschaftlichen Fragen. Das heißt, Suche um die beste Lösung auch im heftigen Streit und in Anerkennung der Würde des Partners, mit dem der Streit geführt wird. Wir müssen richtige, für alle annehmbare und durchschaubare Entscheidungen treffen, dafür ist keine Anstrengung zu hoch. Denn um Entscheidungen geht es, - jetzt den Rücktritt der Regierung, - auch um solche Entscheidungen, die unzerstörbare Sicherungen einbauen für die Fortführung der Umgestaltung, - die DDR - Perestroika Die Debatte um der Debatte willen kann uns allein nicht weiterbringen. Schon im Lernprozeß darüber, wie, wie oft und wo möglichst viele Menschen miteinander reden, muß der Weg in die Zukunft abgesteckt werden. Vorschläge meiner Partei dafür liegen auf dem Tisch und sind veröffentlicht. Wunder kann die Wende nicht bringen. Für Wunder ist keiner von uns zuständig, dafür aber für Arbeit, für harte Arbeit, deren Ergebnisse vielleicht, nein sicher, erst in Jahren sichtbar, spürbar werden können. Wir müssen jetzt in unserem Lande verwirklichen, was seit zweihundert Jahren auf der Tagesordnung der Menschheit steht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.