Markus Wolf
 
 
Generaloberst a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR, Schriftsteller
ab 1952 Aufbau der Hauptverwaltung Aufklärung, dem Auslandsnachrichtendienst der DDR
1986 aus dem aktivem Dienst ausgeschieden
 
         
 

Nicht ohne zu zögern, nutze ich die Möglichkeit, an dieses Mikrofon zu treten. Aus mehreren Gründen. Es war nicht meine Partei, die Sozialistische Einheitspartei, die mit der Macht der Medien zu dieser Demonstration aufgerufen hatte, es war die fast leise Stimme Berliner Künstler mit der Forderung nach Freiheit des Worts und der Versammlung. Trotz zunehmend mahnender Stimmen in unseren eigenen Reihen konnten wir nicht verhindern, daß unsere Führung bis zum 7. Oktober in einer Scheinwelt lebte und selbst dann noch versagte, als die Menschen anfingen, mit den Füßen abzustimmen. Das war bitter für uns Kommunisten. Der Fackelzug am 6. Oktober und die Militärparade am Morgen des 7. wirken heute schon wie ein Abschied von einer längst vergangenen Zeit. Und doch liegt diese Zeit erst vier Wochen zurück. Wir dürfen ihre Rückkehr nie wieder zulassen. Am 7. Oktober gab uns die Anwesenheit Michail Gorbatschows neuen Mut, und am Abend kam es zu blutigen Zwischenfällen. Seitdem hat sich unser Volk auf den Straßen und Plätzen die Freiheit des Worts selbst geholt. Aber nun darf sich der Dialog nicht mehr in Worten erschöpfen. Von der in der nächsten Woche angesetzten Tagung des Zentralkomitees der SED werden nun eindeutige und mit Substanz erfüllte Aussagen erwartet. Auch ein Bekennen zur Verantwortung und zu den Ursachen des Geschehenen mit entsprechenden personellen Konsequenzen. Um die eigentliche, noch nicht begonnene Wende und Erneuerung in meiner eigenen Partei eine klare Orientierung zu geben, sollte das Zentralkomitee entsprechend Artikel 47 des Status der Partei unverzüglich eine Parteikonferenz einberufen. Hunderttausende Kommunisten, die ehrlich und aktiv gearbeitet haben, erwarten einen klaren Kurs. Viele haben schon um Lösungen gekämpft, haben auch weitreichende konzeptionelle Vorschläge für grundlegende Reformen eines erneuerten Sozialismus gemacht. Diese Vorschläge gehören jetzt in den Dialog und an die Öffentlichkeit. Damit wird noch deutlicher werden, daß es in dieser meiner Partei nicht an engagierten und couragierten Menschen auf allen Arbeitsebenen und Feldern mangelt, nicht an klaren und konzeptionell kompetenten Köpfen fehlt. Nicht durch Pochen auf festgeschriebene Artikel, nur so, durch Überzeugung und harte, sehr harte Arbeit kann diese Partei ihre Rolle in der neuen Etappe unserer gesellschaftlichen Entwicklung spielen.