Joachim Tschirner
 

Dokumentarfilmregisseur, DEFA-Dokfilm Berlin

   
 

Am Montag dieser Woche durfte uns allen einer der Mächtigen des Fernsehens der DDR in seiner letzten Sendung drohen, daß er seine Tätigkeit auf andere Weise unbeirrt fortsetzen wird. Er habe nichts zu bereuen. Welch ein aufschlußreiches Resümee. Mir scheint, viele im Lande, die politische Verantwortung trugen, fühlen, daß sie noch immer nichts zu bereuen haben.

Das beunruhigt mich, das beunruhigt mich auch angesichts der allerjüngsten Bilder, die wir vielleicht schon zu vergessen hofften aus den Botschaften in Prag, Budapest und aus den Lagern der Bundesrepublik. Heute nacht bin ich mit meinem Kollegen Lew Hohmann von Dreharbeiten aus dem bayerischen Passau zurückgekehrt. Was mein Kollege schon vor mehr als einem Jahr mit Nachdruck und damals leider mit wenig Chancen vorgeschlagen hatte, einen tiefgründig analysierenden Film zur Ausreiseproblematik, konnte nun endlich beginnen. Wir drehten tagelang im Erstaufnahmelager in Grafenau. Mehr als 12000 ehemalige DDR-Bürger wurden bisher allein in diesem Lager vom Bundesgrenzschutz betreut.

Das tiefe Mißtrauen der Flüchtlinge uns gegenüber, als Vertreter der Medien, hängt mit ihren jahrzehntelangen Erfahrungen, mit dem Mißbrauch der Medien in diesem Lande zusammen. Die Tage im bayrischen Lager Grafenau waren bedrückend. Es war bedrückend anzusehen, wie noch heute rund um die Uhr Menschen verschiedener Generationen - und es sind nicht mehr nur die Jungen, die da kommen - wie hochschwangere Frauen, Familien mit Kleinkindern, Bauarbeiter, Krankenschwestern, Lehrerinnen, Lehrlinge, wie Mütter mit ihren erwachsenen Kindern in diesem Lager eintrafen. Sie hatten sich vor der Wende entschlossen, zu gehen, und sie sind nach der verkündeten Wende entschlossen gegangen. Ich frage die Vorsitzenden der staatlichen Komitees für Fernsehen und für Rundfunk: Hattet ihr mit alledem nichts zu tun? Habt Ihr mit alledem nichts zu tun, frage ich leitende Kader der Abteilung Agitation im Zentralkomitee, Chefredakteure, Kommentatoren und Leitartikler, vor allem die vom Zentralorgan der Partei, der ich seit 22 Jahren angehöre und deren Mitglied ich eigentlich bleiben will. jeder in diesem Lande erinnert sich an die sogenannten Leserzuschriften im Neuen Deutschland. Da muß ich fragen: Wieviel besorgte offene Briefe habt Ihr eigentlich in den vergangenen Jahrzehnten nicht veröffentlicht und damit gegen das Statut meiner Partei verstoßen? Ich glaube nicht daran, daß eine wirkliche Wende möglich ist, solange die noch in den Chefetagen der Sendeanstalten und Redaktionen sitzen, die lediglich ihre Sessel um 180 Grad gedreht haben.

Mit ihnen wird auch ein neues Mediengesetz wirkungslos bleiben.

Es darf nicht das Bild bestehen, daß es außer Joachim Herrmann keinen medienpolitisch Verantwortlichen, sondern nur Opfer gab. Nein, das ist hier kein Tribunal gegen Verantwortliche, die immer noch ausharren. Das hier ist eine Demonstration gegen das Vergessen. Es gibt in diesen Tagen mit Recht besorgte Stimmen, die vor Schuldzuweisung warnen und von notwendiger Chance reden. Es gibt aber auch die neuen Reformer, die sich jetzt hinstellen und vom Glashaus schwätzen, in dem schließlich jeder säße. Denen muß man sagen, daß hier nicht das Volk im Glashaus saß. Es gab Millionen, natürlich auch Mitglieder der SED, die die Fehlentwicklung in unserem Lande sahen und darüber sprachen. Nur. Sie hatten keine Öffentlichkeit und deshalb mußte man ihnen auch nicht zuhören. Auch nicht die Führung ihrer Partei.

Ich plädiere für die Analyse von Vergangenem, und ich plädiere damit auch für die persönliche politische Konsequenz aus dem eigenen Versagen, endlich auch im Bereich der Medien. Deshalb werde ich auch weiterhin für Demonstrationen gegen das Vergessen sein. Das Vergessen beginnt schon heute dort, beginnt wieder dort, wo das Wunschdenken um sich greift, das meint, die Wende hätten das Zentralkomitee und das Politbüro der SED herbeigeführt. Führungsanspruch - das wiederhole ich hier auch als Mitglied der SED - wird sich in der Zukunft nur noch realisieren, wenn er durch den Mehrheitswillen des Volkes, durch zeitgemäße Gesellschaftskonzeption und vor allem im Sozialismus durch politische Moral legitimiert wird. Und zur politischen Moral fallen mir Bilder zu einem noch nicht gedrehten Dokumentarfilm ein. Geöffnete Türen in Wandlitz und eine Führung, die nach mehr als zwanzig Jahren ihren Hochsicherheitstrakt verläßt und nach Berlin, sozusagen in den Schoß der Familie zurückkehrt.

   
 
DHM
4. November 1989
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