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Jenny Richter

"Wer möchte denn schon wirklich nur zu Hause sitzen"?
Frauen in Stalinstadt / Eisenhüttenstadt zwischen Produktion und Haushalt

 

Und im Krane steht die Anne / fünfzehn Meter hoch, /und gar manche von den Brummern / brummen mürrisch: >Och, /diese Weiber sollen lieber / unsre Hosen flicken! / Diese Weiber soll man / an die Töppe schicken!< /Doch die Anne hoch im Krane / schreit: >Geht aus der Bahn!< / Und sie fährt mit ihrem Eisen besser als ein Mann. / >Alte Männer<, lacht sie munter, /und sie klettert eilig /fünfzehn Meter runter. / >Kerls, seid ihr langweilig!< /Und sie zeigt, wie man die Kette / richtig um die Träger schlägt / und sich sonsten bei der Arbeit / nützlicher bewegt." (1)


Anne im Kran und viele weitere Frauen waren in den ersten Monaten nach der Grundsteinlegung des Werkes und der Stadt auf der "größten Baustelle" des Landes tätig. (2) Weshalb aber kamen Frauen in diese >Goldgräberstadt<, die zunächst nichts weiter versprach als eine Unterbringung in Baracken und schwere Arbeit? Die Lebenslagen der Menschen, die fünf Jahre nach Kriegsende zur Baustelle des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) >strömten<, unterschieden sich. Keinen Unterschied machte es jedoch, ob es männliche oder weibliche Arbeitskräfte waren jede und jeder wurde gebraucht. Ministerielle Dienstanweisungen zur Werbung von Arbeitskräften aus den fünfziger Jahren zeigen den dringenden Bedarf: "Bei der Durchführung der Schwerpunktvorhaben macht sich ein Mangel an Baufach-und Bauhilfskräften nachteilig bemerkbar. Durch entsprechende innerbetriebliche Lenkung der Arbeitskräfte, durch die weitere Einbeziehung von Frauen und der nicht vom Plan der Berufsausbildung erfaßten Jugendlichen wie auch durch die Einschaltung Schwerbeschädigter in den Produktionsprozeß muß es sich ermöglichen lassen, den Hauptteil der noch berufsfremd beschäftigten Baufachkräfte für die Schwerpunktbauvorhaben freizugeben. Wegen der Dringlichkeit dieser Maßnahmen ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Betriebe bei der Entlassung der geworbenen Baufachkräfte auf die Einhaltung der Kündigungsfrist verzichten." (3)


Ohne weibliche Arbeitskräfte und deren stärkere Einbeziehung in die Aufbau- und Produktionsprozesse wäre die Realisierung der volkswirtschaftlichen Ziele in der DDR nicht möglich gewesen. Eine Forderung des III. Parteitages der SED 1950 war deshalb, den Anteil der berufstätigen Frauen in der Arbeitskräftebilanz von 37 auf 42 Prozent zu steigern. (4)


Der ehemalige evangelische Pfarrer von Stalinstadt/Eisenhüttenstadt beschreibt die damalige Situation: "Die Leute kommen aus verschiedenen Gegenden. Einmal wurden sie natürlich angezogen vom Werk. Und ein paar Fachleute wurden hergeholt, und dann hat man Arbeit gesucht, Arbeit gefunden in diesem Werk und auch Wohnungen. Es wurde ja eine Stadt dazu gebaut und verhältnismäßig billige Wohnungen und auch ausreichend Wohnungen. [...] Aber zunächst war das so was Ähnliches wie eine Goldgräberstadt. Man hat gut verdient, war ledig zum guten Teil noch, mußte die Abende irgendwie und die freie Zeit verbringen. Natürlich viel mit Alkohol und viel mit Tumulten, Schlägereien und was es da alles gegeben hat. Wie in so 'ner Goldgräberstadt. Das hat sich dann normalisiert, als die anfingen zu heiraten und als man sich festgesetzt hat in den Wohnungen." (5)


In den ersten Wochen und Monaten war der Anteil Jugendlicher auf der Baustelle sehr hoch. Unter den rund 1000 Ende 1950 im Werk Beschäftigten gab es etwa 50 Männer und 200 Frauen unter 18 Jahren. Dazu zählten überwiegend Mädchen, die ohne Lehrstelle waren, und junge Frauen, die bis dahin Gelegenheitsarbeiten verrichtet hatten. Knapp zwei Jahre später (1952) arbeiteten auf dem Baugelände 2300 Frauen, davon 1900 im Baubetrieb der Bau-Union Fürstenberg. Auf den Baustellen von Werk und Stadt verrichteten sie in den sogenannten Frauen- und Jugendbrigaden körperlich schwere Tätigkeiten, wie zum Beispiel Ausschachtungsarbeiten. Auch an den Hochöfen arbeiteten in den Anfangsjahren Frauen. Helga H., eine der ersten Frauen auf der Baustelle 1950, qualifizierte sich zur Hochöfnerin: "Also, ich möchte sagen, ich habe nur mit Männern gearbeitet, aber es gab - wenn mal einer ein bißchen anzüglich wurde - also, ich hatte die Kraft, mich zu wehren. [...] Und ich wurde von allen wie ein Kumpel behandelt. Ich habe einmal Mist gebaut, zweimal eigentlich. Einmal erlebt, wie der Hochofen angeblasen wurde, und ich war verantwortlich, nun den Hochofen in Betrieb zu nehmen. Hatte aber vergessen, die Hutklappen oben aufzumachen. Und mit einem Mal gab es einen riesigen Knall, und die flogen von alleine auf. Jeder wußte ja nun sofort, >da hat sie geschlafen<. Aber die haben mich nicht verurteilt, sondern haben gesagt, >Helga, das nächste Mal machste das richtig<." (6)


Das Vordringen in bislang fast gänzlich von Männern besetzte Bereiche brachte eine Reihe neuer Probleme mit sich. Um die Problemlösung zu forcieren und die Einhaltung gesetzlich verankerter Rechte der Frauen zu gewährleisten, wurde 1952 im EKQ ein Frauenausschuß (7) gebildet. Aus den Protokollen dieser Zeit geht hervor, daß Walter Ulbricht bei einer EKO-Visite 1952 den >Stein ins Rollen< gebracht haben muß: "[...] aber es gibt noch viele andere Fragen, die unsere berufstätigen Frauen bewegen, für die jedoch bisher noch niemand mit Nachdruck eingetreten ist. Walter Ulbricht zeigte uns bei seinem Besuch in unserem Werk einen Weg, wie wir auch diese Probleme lösen können. Er sagte: >Bildet einen Frauenausschuß<. So haben die Kolleginnen [...] die Initiative ergriffen und für die heutige erste Sitzung zur Bildung des Frauenausschusses Kolleginnen aus der Produktion geworben. Alles das, was unsere Frauen fordern, ist bereits in dem Gesetz über den Mutter-und-Kinder-Schutz und die Rechte der Frauen uns zugesichert. Es kommt also darauf an, dieses Gesetz bei uns zu verwirklichen. Wenn die Gleichberechtigung der Frau auch in der Produktion in dem Maße vorhanden ist, wie es das Gesetz fordert, dann wird unser Frauenausschuß überflüssig sein." (8)


Zu diesem Zeitpunkt kamen Frauen auf Baustellen vorrangig an solchen Arbeitsstellen zum Einsatz, wo sie männliche Arbeitskräfte ersetzen konnten. Diese >Ersatzfunktion< ermöglichte die Umsetzung männlicher Arbeitskräfte zu den Schwerpunktvorhaben beziehungsweise an Arbeitsplätze mit körperlich schweren Arbeiten. (9)


Die gesetzlich verankerte Gleichberechtigung der Frauen stieß bei den Männern nicht selten auf Vorurteile. Der Anspruch der Politik war es, Frauen zu qualifizieren und auch in Leitungspositionen einzusetzen. Die Wirklichkeit hieß jedoch, daß Frauen in leitenden Positionen eher eine Seltenheit darstellten: "Die Kollegin [...] wählte sich aus den in den Abteilungen beschäftigten Frauen je nach Belegschaftsstärke 2 bis 3 Kolleginnen aus, die den Betrieb kennen und Vorschläge machen sollen für eine Umbesetzung oder Qualifizierung ihrer Kolleginnen. Da erfahrungsgemäß bei einem Teil der männlichen Kollegen immer noch eine gewisse Voreingenommenheit besteht gegen die Beschäftigung von Frauen auf Arbeitsplätzen, die man bisher stillschweigend als Reservat der Männer angesehen hat, ist mit den Abteilungsleitern, Meistern, Instrukteuren und der BGL [Betriebsgewerkschaftsleitung, d.V.] eingehend darüber zu diskutieren, bis man die Gewißheit hat, daß diese Vorurteile auch restlos beseitigt sind." (10)


Die Umsetzung gesetzlicher Bestimmungen und politischer Absichtserklärungen sollte länger dauern als ihre Proklamation. Die traditionellen Rollenvorstellungen von Frauen und Männern konnten nicht von heute auf morgen gebrochen werden, auch wenn die ersten Ansätze mit dem Vorstoß der Frauen in die Männerdomänen Bauwirtschaft und Roheisenwerk bereits gegeben waren.


Frauen wurden im Arbeitsprozeß als Arbeitskräfte benötigt und wollten arbeiten. Staatlicherseits wurde dieser dringende Bedarf an weiblichen Arbeitskräften nicht geleugnet, im Gegenteil, er wurde permanent propagiert. Auf der subjektiven Ebene war die Berufstätigkeit der Frauen zum Erhalt ihrer Lebensgrundlagen notwendig und im eigenen Lebensentwurf vorhanden.


Die Programme zur Förderung der Frauen sowie die politische Absage an die "Ehe als Versorgungsgemeinschaft" ermöglichten die Umsetzung dieser Vorstellungen. Das Argument der Doppelbelastung der Frau durch Arbeit und Familie spielte in diesem Zeitraum, in dem es um die Absicherung der Lebensgrundlagen ging, keine Rolle.


Die Ambivalenz von Anspruch und Wirklichkeit wird jedoch in der weiteren Entwicklung von Werk und Stadt deutlich. Frauen zählten immer wieder zur >Reservearmee<, die gerufen und aktiviert wurde, wenn das EKO einen neuen Wachstumsschub erlebte. Das war in der Aufbauzeit von 1950 bis 1955 der Fall und setzte sich später bei der Inbetriebnahme der Teilwerke Kaltwalzwerk (1968) sowie Stahlwerk (1984) fort.


Ende der fünfziger Jahre stellten die weiblichen Arbeitskräfte wieder die Ressource dar, auf die zurückgegriffen wurde. Aus zwei Gründen war es zu dieser Zeit schwierig, weibliche Arbeitskräfte zu gewinnen: Erstens hatte ein Großteil der weiblichen Arbeitskräfte Stalinstadts eine Tätigkeit in den in der Region neu entstandenen Industriezentren aufgenommen (Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder, Braunkohleveredelungskombinat "Schwarze Pumpe", die Kraftwerke in Lübbenau und Vetschau, das Chemiefaserwerk in Guben, Erdölverarbeitungswerk in Schwedt), wo vielfach leichtere Arbeitsbedingungen und weniger Schichtarbeit vorhanden waren. Zweitens kann für die Zeit ab Mitte der fünfziger Jahre ein tendenzieller Rückzug der Frauen aus der Erwerbsarbeit konstatiert werden: Die Wohnungen waren errichtet, und viele Frauen blieben zur Kinderbetreuung zu Hause. Die Höhe des Lohns in der Metallbranche ermöglichte es, daß nur ein >Verdiener< tätig sein mußte. Doch diese Rückzugstendenz in Stalinstadt war episodenhaft. Der beständige Arbeitskräftemangel der DDR bewirkte die permanente Integration der Frauen in den Arbeitsprozeß. Diese Entwicklung wurde durch zahlreiche Maßnahmen sowie sozialpolitische Bestimmungen befördert. (11) Die Gleichstellungspolitik in der DDR läßt sich in zwei Phasen unterteilen. Die erste reichte bis Mitte der sechziger Jahre und kann als >Frauenarbeitspolitik< bezeichnet werden. Diese wurde abgelöst durch die Phase der >Familienpolitik<. (12) In der ersten Phase wurde die voll erwerbstätige Frau zum Leitbild. Gesellschaftliche Institutionen übernahmen partiell Familienaufgaben, zum Beispiel Kinderbetreuung, Schulspeisung, Kantinenversorgung.


Eine Forderung des Frauenausschusses war schon zu Beginn der fünfziger Jahre die bessere Vereinbarkeit von Arbeitstätigkeit und Kinderbetreuung. So drang die EKO-Werkdirektion beim Ministerium für Aufbau auf die "Schaffung von Kinderkrippen und Kindertagesstätten. Die Öffnungszeiten [...] sind der Arbeitszeit der Frauen anzupassen. [...] Außer der Kinderkrippe muß auch ein Kindergarten in der Wohnstadt errichtet werden. Viele Frauen der Wohnstadt wären dann sofort bereit, im EKO zu arbeiten. [...] Die Wohnungsämter haben alleinstehenden und kinderreichen arbeitenden Müttern bevorzugt Wohnraum zur Verfügung zu stellen." (13)


In Stalinstadt spiegelt sich dieser Prozeß eindrucksvoll im Ringen der Stadtplaner um die Realisierung ihrer Ideen wider. Für die "sozialistische Stadt" mit ihrer guten Infrastruktur in den einzelnen Wohnkomplexen waren ausreichende Kinderbetreuungseinrichtungen vorgesehen, die jedoch aufgrund des permanenten Kapitalmangels erst nach 1953 planmäßig errichtet wurden. Sukzessive wurde parallel die Kapazität betrieblicher Kinderbetreuungseinrichtungen erhöht, so daß Stalinstadt/Eisenhüttenstadt auch in dieser Hinsicht besser ausgestattet war als andere Städte der DDR. Frauenerwerbstätigkeit wurde zur relativen Selbstverständlichkeit. Im EKO existierte ein ausgebautes System beruflicher Qualifizierungsmöglichkeiten, und betriebliche Frauenförderung wurde im Betriebskollektivvertrag (BKV) festgehalten. Die mehrmals im Jahr in verschiedenen Zusammenhängen (wie Betriebsfestspiele, Frauentag) durchgeführten betrieblichen "Veranstaltungen für die werktätigen Frauen" wurden langfristig vorbereitet und zementierten das ideologisch intendierte Leitbild von >der DDR-Frau< - werktätig, qualifiziert, >Mutti< und >die Familie unter einen Hut bringend<. (14)


Mit der Inbetriebnahme des Kaltwalzwerkes 1968 öffnete sich der männerdominierte Bereich >Metall< nochmals, und Frauen wurden zum Beispiel als Kranfahrerinnen tätig. Dabei ging man bei der Arbeitskräfteplanung - neben dem politisch begründeten >Gleichheitsanspruch< - von technologischen Voraussetzungen aus, die den Einsatz weiblicher Arbeitskräfte ermöglichen sollten. (15) Über einen längeren Zeitraum wurde die von betrieblichen und städtischen Institutionen initiierte Werbekampagne "Hausfrauen in die Produktion" gestartet, mit der ein großer Teil der sogenannten nichtberufstätigen arbeitsfähigen, weiblichen Bevölkerung der Stadt für die Berufstätigkeit im EKO gewonnen werden konnte. (16)


So bestand ein Unterschied zur westdeutschen Metallbranche zum Beispiel darin, daß insbesondere im gewerblich-technischen Bereich in der DDR ein weit höherer Frauenanteil vorhanden war (Frauenanteil im EKO 1989: 32 Prozent gegenüber etwa 6 Prozent im Ruhrgebiet). Daraus erwuchsen spezifische Probleme im Prozeß der durch die Wende ausgelösten Deindustrialisierung: Dem gegenwärtigen Anspruch der Frauen, >arbeiten zu wollen<, steht die Wirklichkeit gegenüber, die besagt: >Arbeitsplätze für Frauen werden weiter reduziert<. Der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen stieg in Eisenhüttenstadt, wie in anderen Städten und Regionen der neuen Bundesländer, kontinuierlich (1991 61 Prozent, Ende 1994 über 68 Prozent und Mitte 1995 rund 70 Prozent). Frau sind auch in stärkerem Maß von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Die relative Chancenlosigkeit der Frauen auf dem Arbeitsmarkt steht im Widerspruch zu ihren eigenen Lebensentwürfen, in denen Erwerbstätigkeit eine zentrale Rolle spielt. In einer von der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Eisenhüttenstadt durchgeführten Frauenbefragung (17) kam es bei der Frage: "Wie wichtig ist es Ihnen persönlich, berufstätig zu sein?" zu folgenden Antworten, die kaum Unterschiede zu ähnlich angelegten Befragungen in de neuen Bundesländern aufweisen: Von etwa 400 befragten Frauen schätzten 99 Prozent die Berufstätigkeit als "sehr wichtig" beziehungweise ; "wichtig" ein.


Allein im EKO waren circa 3 300 Frauen vom Arbeitsplatzabbau betroffen. Im Rahmen des Umstrukturierungsprozesses wird sich der derzeit (Mitte 1996) noch hohe Frauenanteil von 26 Prozent im Werk in den nächsten Jahren weiter verringern.
Vorrangig werden Frauen in den Verwaltungsbereichen vom Personalabbau betroffen sein. Vor allem für die Frauen mit gewerblich-technischen Abschlüssen in der Metallindustrie bieten sich wenig alternative Arbeitsplätze. Durch Umschulung und Fortbildung verbesserten sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt kaum. Sie sind am stärksten von betrieblichen und gesellschaftlichen Veränderungen betroffen. Geschlechtsspezifische Nachteile werden somit durch qualifikationsspezifische verstärkt. Lediglich im tertiären Sektor ist eine Beschäftigungszunahme erkennbar, die jedoch das Defizit anderer Branchen nicht ausgleicht.


"Na, Eisenhüttenstadt, ein paar Arbeitsplätze wird's dann schon geben um das Jahr 2000, aber für Frauen kaum, und wir haben ja viele emanzipierte Frauen, die jetzt ganz schön alt dastehen mit ihren Kindern. Früher haben wir gesagt, du kannst alles werden, kannst auf den Kran gehen, kannst dies und das und jenes machen, immer raus. Die Kinder kriegst du so nebenbei groß, und das ist ja die Generation, es bricht ja alles weg. Sie hatten ja immer Arbeit, und alles lief ganz gut." (18) Ähnlich eine EKO-Mitarbeiterin: "Zu DDR-Zeiten und auch hier in der Stadt haben über 90 Prozent der Frauen gearbeitet, die haben vielleicht zu 80 Prozent eine Ausbildung gehabt. Ich habe eine qualifizierte Arbeit gemacht, ich habe diese Anforderungen im Beruf gehabt [...]. Wer möchte denn schon wirklich nur zu Hause sitzen?" (19)


Ein Ergebnis der Unsicherheit und Nichtplanbarkeit des Berufslebens ist das Sinken der Geburtenrate. Im Vergleich zur Zeit vor 1989 sank sie in Eisenhüttenstadt auf 31 Prozent. In der Frauenbefragung Eisenhüttenstadt 1994 wurde diese Diskrepanz deutlich, denn auf die Frage: "Wie sehen Sie aus heutiger Sicht Ihren Kinderwunsch?" gaben fast 20 Prozent der befragten Frauen an, keine Kinder haben zu wollen, und 41 Prozent nur ein Kind. Der >Verzicht< auf Kinder beziehungsweise weitere Kinder wird von dieser Gruppe zum größten Teil mit der Unsicherheit der eigenen Entwicklung, der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung und damit im Zusammenhang stehenden notwendigen sozialen Absicherung begründet. Dieser Rückgang wird sich auf die Altersstruktur der Stadt in den nachfolgenden Jahren noch auswirken.


Frauen sehen nach wie vor das Ideal darin, ganzheitliche Lebensentwürfe, das heißt die Verbindung von Arbeit, Familie, Kultur und so weiter, für sich und die Familie entwickeln zu können. Die seit 1989/90 bestehenden Strukturen behindern die Entwicklung und Realisierung derartiger Lebensentwürfe jedoch massiv.

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    Anmerkungen

1

Aus der Kantate "Eisenhüttenkombinat Ost", 1952, Text: Hans Marchwitza, Musik: Ottmar Gerster.

2 Vgl. hier und im folgenden Richter, Jenny/Förster, Heike/ Lakemann, Ulrich: Stalinstadt - Eisenhüttenstadt. Von der Utopie zur Gegenwart, Marburg 1997.
3 Unternehmensarchiv EKO Stahl (UA EKO), Akte 256, S. 51.
4 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des III. Parteitages der SED, Bd. 1, Berlin 1951, S. 381f.
5 Interview der Verfasserin mit dem Pfarrer i. R. Heinz Bräuer, Eisenhüttenstadt, 1995.
6
Redebeitrag Helga H., Geschichtswerkstatt Eisenhüttenstadt, 18. 4. 1994.
7
Das Politbüro der SED hatte am 8.. 1. 1952 den Beschluß über die "Bildung von Frauenausschüssen" gefaßt. UA EKO, Akte 1779, S. 82. Bis 1965 arbeiteten diese Frauenausschüsse als eigenständige Gremien, danach wurden sie in die Betriebs
gewerkschaftsleitungen integriert.
8
Ebd., Akte 614, S. 238.
9
Ebd., Akte 747, S. 118b.
10
Ebd., S. 9.
11
Vgl. Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995, S. 99f.
12
Vgl. Böckmann-Schewe, Lisa/Kulke, Christine/Röhrig, Anne:"Es war immer so, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen Familie und Beruf war das eigentlich Entscheidende." Kontinuitäten und Veränderungen im Leben von Frauen in den neuen
Bundesländern, in: Berliner Journal für Soziologie 2 (1995), s. 207- 222.
13
UA EKO, Akte 256, S. 106.
14
Vgl. Merkel, Ina: Leitbilder und Lebensweisen von Frauen in der DDR, in: Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen/Zwahr, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 359-382.
15
UA EKO, Akte 842, 5.16-17.
16
Ebd., Akte 1558, S. 2f.
17
Im Jahr 1993 wurden in Elsenhüttenstadt von der Gleichstellungsbauftragten der Stadt etwa 900 Frauen (bei einem Rücklauf von n = 394 = 43,8 Prozent) zu ihrer beruflichen Entwicklung und Leistungsbereitschaft, zu kulturellen Wünschen und Bedürfnissen, zu Partnerschaft, zu Problemen, die ihre Stadt betreffen, und zu ihrer Person befragt. Zum Zeitpunkt der Befragung waren von den Frauen, die sich beteiligten, circa 80 Prozent berufstätig, die restlichen 20 Prozent befanden sich in Umschulung, Vorruhestand und so weiter. Die Broschüre mit den gesamten Ergebnissen der Befragung kann über die Stadtverwaltung Eisenhüttenstadt bezogen werden.
18
Interview der Verfasserin mit einer Mitarbeiterin des Obdachlosenhilfevereins e.V., 1995.
19
Interview der Verfasserin 1995. .
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