Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Diese unausdifferenzierte und zwangshomogenisierte Innenwelt der Boheme war sicher eine ihrer hauptsächlichen Beschränkungen. Dennoch brechen schon zu DDR-Zeiten politische Unterschiede auf, die sich auch in den künstlerischen Produkten der Boheme beschreiben lassen. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit dem vorgefundenen Ideologie-Material. Während sich ein beträchtlicher Teil unangepaßter Künstler in Texten, Bildern und Aktionen jegliche Bezüge zu den sozialistischen Realien verbietet und eher ein ideologie- und zweckfreies Ideal imaginiert, arbeitet sich ein anderer Teil geradezu auffällig am Metaphorik-Arsenal des Honecker-Staates ab. Bis in die Mitte der 80er Jahre ist etwa das Neue Deutschland, das in Millionenauflage erscheinende Zentralorgan der SED, ein prädestinierter Kunstgegenstand, der als Malgrund, Collagenmaterial, Lampionpapier, Theaterrequisite oder Performance-Verhüllung herhalten muß. Ganz ähnlich werden Millimeterpapier, Schnittmusterbögen aus der Frauenzeitschrift Pramo, Urkunden mit DDR-Stempeln, Behördenpost und abgelehnte Reiseanträge ins ‘nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet’ als doppelbödiger Untergrund für Grafik, Zeichnungen, Lyrik und Siebdrucke genutzt. Alte Kassa-Bücher mit ihren verweiskräftigen ‘Soll & Haben’-Spalten werden bevorzugt als Tagebücher verwendet, und der Dresdner Künstler Veit Hoffmann übermalt die DDR-bekannte Publikation “Vom Sinn unseres Lebens” sogar Seite für Seite mit seinen gegenläufigen Zeichen-Kommentaren. Diese Aufzählung, die sich mühelos erweitern ließe, verdeutlicht die Bindung an die Prägeformen des Staates und zugleich den bisweilen überstrapazierten Versuch einer individuellen Attacke gegen die semiotische Übermacht. In diesen Kunstäußerungen ist die DDR immer vordergründig anwesend – ein aus heutiger Sicht eher fragwürdiger ästhetischer Anreiz, der damals allerdings als ein therapeutischer Selbstbefreiungsversuch aus dem staatlich vorgebenen Sozialisationsmuster galt.

Ab Mitte der 80er Jahre wurde dieser kraft- und phantasieraubende Dauerclinch mit dem gesellschaftlichen Antipoden durch ein Konzept affirmativer Ironie erweitert. Der Ideologie-Müll avancierte nun eher zum provokativen Spielmaterial als zum ‘ernsthaften’ Kunstmittel – ein ästhetischer Kurswechsel, der nicht zuletzt auf einem veränderten politischen Selbstverständnis beruhte. “Die Vorhaltung des Mankos zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR-Gesellschaft war nicht mehr interessant”, konstatiert Claus Löser, Herausgeber der Untergrundzeitschrift A Drei in Karl-Marx-Stadt und einer der Aktivisten der unabhängigen Schmalfilmszene. “Angesichts der Banalität der vorgefundenen Situation wollte man nicht auch noch die Imagination damit belasten. Vielmehr galt es, dem Geschehen eine eigene, wenn auch virtuelle Realität entgegenzusetzen. (...) Politisch eindeutige Äußerungen in der unabhängigen Kunstszene der 80er waren Ausnahmeerscheinungen, die tendenziell nicht recht ernst genommen wurden. Dennoch waren die mehrheitlich apolitischen Texte, Bilder, Filme usw. de facto durch ihre bloße Existenz politisch widerständig, schufen sie sich doch Räume, die in der Topographie der DDR-Kulturpolitik eindeutig nicht vorgesehen waren.”(38)

Mußten sich ihre Vorgänger noch an der Sklaven-Sprache der Diktatur abarbeiten, um zu einer angstfreien und unverbrauchten Kommunikation zu finden, war für die letzte in der DDR zur Artikulation gelangende Boheme-Generation der Kampf mit den Vätern kein allzu großes Thema mehr. Diesen Staat akzeptierten sie nur noch als Kulisse eines unzeitgemäßen und schäbigen Theaterspiels. In seinem Fundus hingen allerdings genügend verbrauchte Charaktermasken, die sich für symbolische Aktionen bestens eigneten. Man mußte nun nicht mehr auf der Bühne das ND zerfetzen, um zu zeigen, wie schlecht man es mit dem Staat der senilen Über-Väter meint, sondern es genügte, den wankenden Sozialismus mit seinen eigenen Ansprüchen zu konfrontieren.

So nannte sich eine Weimarer Punkband nicht nur ironisch nach einem in der DDR lange Zeit im Schulunterricht behandelten Buch des sowjetischen Schriftstellers Arkadi Gajdar “Timur und sein Trupp”, sondern sie spielte im Pogo-Takt auch die alten Pionierlieder, deren naive Strophen sich in der Endzeit-Agonie wie ein spöttischer Abgesang anhörten. Es blieb kein Einzelfall: Die Ostberliner Punkband Der Demokratische Konsum rekultivierte die Rot-Front-Gesten früher Kommunisten-Tage, und der in einem mecklenburgischen Gehöft in Rosenwinkel lebende Schmalfilmer Mario Achsnik vertrieb selbstgedruckte Reprintpostkarten russischer Agitationsmotive. Ein Teil der Szene trug bevorzugt Uniformen der ‘ruhmreichen’ Sowjetarmee, die in der vom SED-Politbüro verordneten Perestroika-Abstinenz der DDR mehr provozierten als das nur für Insider verständliche Rotwelsch der Prenzlauer-Berg-Literaten.

Das bedeutete eine Auflösung alter Feind-Freund-Schemata, die in der Zeit nach der Biermann-Ausbürgerung noch undenkbar gewesen wäre. Markierte die Ausweisung Wolf Biermanns die Wende zu einer neuen und härteren Kulturpolitik, so hatte sie neben der eingangs beschriebenen politischen Standort-Verunsicherung auch Sanktionen zur Folge, mit denen die SED-Kulturpolitik und die Staatssicherheit auf den unerwarteten Protest gegen den Rausschmiß des unbequemen Barden reagierten. Fortan versuchten die zuständigen Organe jede Entwicklung vorbeugend einzudämmen, die ihnen auch nur ansatzweise in den Verdacht geriet, sich später zur einer ähnlich dimensionierten Affäre auswachsen zu können. Von den für die Boheme erheblichen Folgen wird noch eingehender die Rede sein, dehnte doch die Staatssicherheit ihre Strategie nun in forcierter Form auch auf den künstlerischen Untergrund aus. Eine erste Maßnahme war die Klassifizierung der Biermann-Sympathisanten. “Eine ‘Liste A’ versammelte all jene, die sich mit ihrer Unterschrift ‘vom Gegner’ politisch ‘mißbrauchen ließen’ und die sich, obwohl sie sich mit der Ausbürgerung Biermanns nicht einverstanden erklärten, dem Staat gegenüber loyal verhielten oder ihre Unterschrift zurückgezogen hatten. Wer an seinem Protest festhielt, landete auf der ‘Liste B’. (...) Diese DDR-weite Erfassung und Bearbeitung hatte einschneidende Folgen für das künstlerische Leben. Sie führte zum völligen personellen Umbau der Kulturinstitutionen und bis 1979 zu einer anhaltenden Welle von Ausschlüssen aus den Künstlerverbänden. Sie hatte auch zur Folge, daß junge Autoren, deren literarisches Debüt in die Mitte der siebziger Jahre fiel, nur noch veröffentlicht wurden, wenn sie nicht auf eine dieser Listen vermerkt waren.”(39)


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