Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Neben diesen beiden Möglichkeiten nutzte die Boheme seit Mitte der 80er Jahre auch gesellschaftliche Grauzonen zur ökonomischen Autarkie. Sie entwickelte privatwirtschaftliche Produktionsformen, die von den staatlichen Instanzen weitgehend geduldet wurden. Vor allem stellte man modische Mangelwaren her – bisweilen in regelrechter Manufakturarbeit –, die später mit enormen Gewinnspannen auf dem Schwarzmarkt, per Zeitungsannoncen oder durch Flüsterpropaganda sowie auf dem in dieser Zeit enstehenden ‘individuellen ambulanten Handel’ risikolos vertrieben wurden. Die Punkband Feeling B bastelte aus Straß-Steinen und Dental-Draht ganze Schmuckkollektionen, im Atelier des Cottbuser Malers und Performers Hans Scheuerecker entstanden neben der künstlerischen Arbeit auch bemalte Baumwollkleider in Hunderter-Auflage, und der Leipziger Aktionskünstler Klaus Rudolf lebte vom Verkauf selbstgebastelter Stoff-Frösche. Die Designerin Sabine von Oettingen, Mitgründerin der ersten freien Modegruppe chic, charmant und dauerhaft, vernähte allen nur greifbaren Baumwollstoff zu simplen Kleider- und Blusenschnitten, die wegen des ostdeutschen Massengeschmacks noch eigenhändig in die Modefarben lila und bordeauxrot eingefärbt werden mußten. Billig-T-Shirts aus den Wühltischen von Westberliner Warenhaus-Schlußverkäufen, die Freunde und Visabesitzer in großen Stückzahlen einführten, wurden mittels Siebdruck-Schablone oder Applikationen aufgewertet und fanden reißend Absatz.

In der kulturellen und modischen Reizarmut der späten DDR wurden solche Ergänzungsangebote zur tristen Versorgungslage von den staatlichen Organen akzeptiert, vor allem, weil die Nachfrage das verfügbare Angebot in den Geschäften bei weitem überstieg. Die “neue Unübersichtlichkeit” und ökonomische Unabhängigkeit der Großstadt-Boheme verlieh den Abnabelungstendenzen eine neue Dynamik. Während sich im langen DDR-Sterben staatlicherseits Lethargie und Agonie breitmachten, entstanden in den subkulturellen Boheme-Quartieren regelrechte Produktionseinheiten, in denen die alten Singer-Nähmaschinen aus Omas Nachlaß nochmals zur Höchstform aufliefen. Mit der aufkommenden Ledermode stiegen die Gewinnspannen derart, daß Angelika Kroker, Mitbegründerin des Modetheaters Allerleirauh das Wort Finanzproblem nicht einmal mehr zu buchstabieren wußte. “Über Geld haben wir uns keine Gedanken gemacht, wir hatten es.”(41)

Auch der Handel mit Szene-Kleidung boomte: Der Filmkünstler und Bohemien Robert Conrad verkaufte billig erworbene Emailschilder, gebrauchte “Thälmann”-Lederjacken und begehrte Uniformteile der sowjetischen Besatzer. Eine russische Panzerfahrer-Wattejacke, für eine Flasche Billig-Schnaps am Kasernentor eingetauscht, brachte bereits 200 bis 300 Mark auf den Märkten ein, für kultige Lederjacken mußten die Kunden bis zu 1.500 Mark berappen. Das eingenommene Geld wurde allerdings nicht nur für den aufwendiger werdenden Lebensstil ausgegeben, sondern auch in künstlerischen Großproduktionen angelegt, von denen die bizarren Modeperformances von Allerleirauh oder die mit großem Kosteneinsatz vom bereits freiberuflich arbeitenden Subkultur-Manager Adam Adamski produzierte Multimedia-Show der Gruppe New Affaire wohl die größten waren. “Der Anteil der Sponsoren betrug lächerliche fünf Prozent bei einem Investitonsvolumen von knapp 400.000 Mark”, erinnert sich Adam Adamski. “Das ist natürlich zu keiner Zeit wieder eingespielt worden. Es ist überhaupt traumhaft, daß einige Sachen von den Einnahmen bezahlt werden konnten.”(42)

Diese privaten Angebote wurden in den letzten DDR-Jahren sogar von der FDJ genutzt, die für ihre liberale und hilflose Endzeitstrategie in den jahrelang von Kreativität und Mobilität entwöhnten staatlichen Mechanismen keine Partner für ihre Projekte mehr fand. Wenn Buttons, Aufkleber oder Manager-Knowhow für die von der FDJ veranstalteten Konzerte gebraucht wurden, fand sich dafür kein staatlicher Anbieter, sondern die Jugendfunktionäre im Blauhemd gingen mangels Alternativen auf die bohemischen Jungunternehmer zu, welche auf mitunter kleinkriminellen Wegen die Sachen aus Polen oder per Bartergeschäften aus der Bundesrepublik besorgten. Der neue Propaganda-Kurs von SED und FDJ, vor allem auf die junge Generation gerichtet, weichte die poststalinistische Kulturpolitik vollends auf. Im Rundfunk liefen die Hits einst verpönter Bands, der FDJ-Zentralrat lud internationale Größen aus dem Showgeschäft wie Bruce Springsteen, Bob Dylan oder Joe Cocker zu Mega-Konzerten ein und selbst der einst so lininentreue Oktoberklub garnierte sein Programm zum letzten Festival des politischen Liedes mit Heiner-Müller-Zitaten, die ihm früher nicht über die Lippen gekommen wären. Eine aus den realsozialistischen Fugen geratene Welt, in der es sich als subkultureller Spaß-Guerillero, so meint zumindest Aljoscha Rompe, Bandleader der Punkgruppe Feeling B, “wie im Paradies leben ließ.”(43)


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