Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Auch wenn man den Einfluß und die Breitenwirkung dieser meist auf originalgrafischem Wege in Kleinst- bis Kleinauflagen von 15 bis 50 Exemplaren erscheinenden Editionen nicht überschätzen sollte, so spielte die Eröffnung des Samisdats in der DDR dennoch eine wichtige Rolle; zumal diese Selbstverlage von einer Produktion von mehreren hundert Künstlerbüchern, Grafik-Lyrik-Editionen und Mappenwerken flankiert wurden, in denen auch Texte zensurfrei vorgestellt werden konnten.

Erstmals waren nun Möglichkeiten geschaffen, nicht nur Schubladenproduktionen ungeliebter Poeten zu veröffentlichen, sondern es bot sich die Chance, einen internen Verständigungsprozeß zu initiieren und zu begleiten. Im Schaden erschienen beispielsweise von 1984 bis 1987 eine ganze Anzahl programmatischer Texte, von denen die später auch in Buchform edierte Interview-Serie “Was soll Kunst?” als ein wesentlicher Beitrag zur ästhetischen und lebensweltlichen Standortbestimmung rezipiert wurde. Die ersten Versuche eines internen kritischen Austausches sind aus heutiger Sicht aber auch insofern interessant, als der mitunter überaus vorsichtige Ton die Angst vor Mißverständnissen, persönlichen Differenzen und die Hochachtung vor dem gedruckten Wort deutlich machen. Überhaupt fällt auf, daß die literarische Boheme diese Möglichkeit eines Meinungsforums mit erheblichem Zeitverzug aufgriff. Neben programmatischen Beiträgen und theoretischen Texten findet sich eine differenzierte Kunstkritik erst spät – etwa in der ab 1988 erscheinenden Zeitschrift Liane, in der auch Theaterkritiken und publizistische Wortgefechte zu finden sind. Vorher dominiert in den kritischen Texten der selbstverlegten Editionen ein bisweilen larmoyanter Ton, deren Verfasser ihre Einwände anstatt im klarstellenden Statement lieber in gebundener Briefform veröffentlichen. So antwortet der Dichter Jan Faktor auf eine Replik von Rainer Schedlinski in der Ariadnefabrik in signifikanter Weise: “Über jeden, den ich inzwischen kenne, wird in seiner Abwesenheit irgendwann hergezogen. (...) Außerdem ist R. sehr unvorsichtig gewesen – es wäre kein Problem, seinen (schon stilistisch ziemlich billigen) Text auseinanderzunehmen.”(51)

Die Zeitschriften, Galerien und Lesereihen waren die wichtigsten Träger der zu Beginn der 80er Jahre installierten Infrastruktur. Ergänzt wurden sie durch Veranstaltungen der vor allem ab Mitte der 80er Jahre boomenden Schmalfilmszene und von den Produktionen freier Theatergruppen wie Zinnober, Medea und später dem B.A.K.T. Zudem fanden eine Reihe von Festivals statt, von denen hier stellvertretend nur die Intermedia 1985 in Coswig genannt sein soll, wo neben Punkbands, Super-8-Filmen, Performances und Lesungen auch die typische Faltrollo-Malerei dokumentiert wurde. Überhaupt war für die künstlerische DDR-Boheme das Zusammenwirken unterschiedlichster Kunstarten typisch. Dichter gestalteten mit Malern, Grafikern und Fotografen gemeinsam die Untergrundzeitschriften und Künstlerbücher, von denen die von Sascha Anderson edierte Reihe Poesie-all-bum eine der eindrucksvollsten Zeugnisse bleibt. Daneben kam es zu einer Vielzahl genreübergreifender Projekte, von anfänglichen Jazz-Lyrik-Programmen bis zu aufwendig produzierten Multi-Media-Spektakeln, in derem Umfeld mobile und mit anderen Kunstformen kompatible Genre, wie etwa das Puppenspiel, der Free Jazz, etliche Pantomimen-Projekte oder die bis zum Ende der DDR fast unvermeidliche Tradition des moralisierenden Liedermachers eine künstlerische Blüte erlebten. In den 80er Jahren dominierten zusätzlich aktionale Kunstformen, für die sich erst kurz vor Maueraufbruch die Räume einer offiziellen Galerie öffneten. Auch wenn die offensichtlichen Performance-Anleihen aus dem Arsenal der Wiener Aktionisten oder die fast manischen Versuche der Neubelebung dadaistischen Vorkriegs-Geistes aus heutiger Sicht wie Kopien der Originale wirken, war die Neubelebung damals durchaus ein konfrontatives und produktives Schockprogramm. Aus kunsthistorischer Sicht, merkt etwa Eugen Blume anläßlich einer Besprechung der zahlreichen Pleinair-Aktionen an, blieben diese Versuche jedoch “importierte Kunstformen, die keinerlei geistige Voraussetzungen in der DDR-Gesellschaft hatten, und die sich, trotz der kunsthistorischen Versuche, eine gewisse Entwicklungslinie aufzuzeigen, nirgends anlehnen konnten.”(52)

Die wohl dynamischste Größe neben der Literaur in der Subkultur der 80er Jahre waren die sich bildenden Rock- und Punkbands, welche nicht nur in Ateliers, in Kirchenräumen und später auch in FDJ-Jugendklubs spielten, sondern in Abrißhäusern auch eigene Auftrittsmöglichkeiten schufen, für die etwa der “Leichenkeller” in Berlin-Rummelsburg symptomatisch war. Gruppen der ersten Stunde wie die Berliner Band Rosa Extra, Wutanfall in Leipzig, Schleimkeim aus Erfurt oder auch die Dresdner Künstlerpunkband Pite Wurzel aus Zwitschermaschine tangierten durchaus intellektuelle Boheme-Kreise und führten ab 1980 einen Boom an, der später auch zur Gründung von zirka 15 inoffiziellen Kasettenlabels führte, deren Produktionen mitunter als Beigabe zu den Untergrundzeitschriften vertrieben wurden. “Ehe Behörden und FDJ auf die neue Form des Protests und der Unduldsamkeit reagieren konnten”, berichtet Christoph Tannert, selbst Sänger bei wechselnden Formationen, “hatte sich in Windeseile ein Netzwerk des Aktivismus gegen bestehende Geschmackskonventionen etabliert. Die in ihm Lebenden markierten ihren Aktionsraum mit Graffitis (bis zur ersten Verhaftungswelle um 1983 und der Verbannung von Auto-Reparaturlack-Spray aus den Regalen der Warenhäuser), schworen sich auf eine einheitliche Kleiderordnung ein und übernahmen Symbole und Rituale der internationalen Szene. Was Punk oder New Wave oder Neue Deutsche Welle waren, wußte niemand so recht, was progressiv hätte sein können, auch nicht.”(53)


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