Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
Vorwort
Einführung
Abbildungsteil
Regionale Zentren
Dokumentation
Anhang

Aber es waren längst nicht nur die Veranstaltungen in der Ständigen Vertretung, die das Interesse der Boheme weckten. In den Dienstwohnungen von Mitarbeitern der Ständigen Vertretung entwickelte sich ein reger privater deutsch-deutscher Kulturaustausch. Neben den Dienstleistungen, die die Diplomaten übernahmen – vom illegalen Kunsttransport über eine fast exzessive Katalogeinfuhr bis zur Beschaffung von Schreibmaschinen, PC-Druckern und Videoausrüstung – knüpften viele Bohemiens hier Kontakte zu Verlegern, Agenturen und Kunstsammlern. Dies wurede möglich, weil sowohl bei den Empfängen als auch in den Wohnungen der Diplomaten mitunter hochkarätige Gäste anzutreffen waren. Die bundesdeutschen Diplomaten veranstalteten zudem eine Reihen von Festen, die zu regelrechten Treffpunkten der Szene wurden. Winfried Sühlo, von 1983 bis 1988 in der Ständigen Vertretung beschäftigt, organisierte etwa in seiner 200-Quadratmeter-Diplomatenwohnung in der Leipziger Straße 63 jährlich einen Aschermittwoch, zu dem bis zu 180 Gäste kamen. Manfred Ackermann, von 1981 bis 1986 Referatsleiter für Innenpolitik, beschaffte nicht nur 500 Kassetten für die freien Labels der Ostberliner Punkbands Aufruhr zur Liebe und Ornament und Verbrechen, er lud auch zum jährlichen Herbstfest, auf dessen Einladungslisten hochdotierte Defa-Regisseure neben unbotmäßigen Punkmusikern und renitente Prenzlauer-Berg-Literaten neben Protagonisten der literarischen Hochkultur standen. Überhaupt war die paritätische Achtung der in zwei Teile zerfallenen DDR-Kultur oberstes Einladeprinzip bei den Veranstaltungen in der Ständigen Vertretung – ein Umstand, der erheblich zu den engen Kontakten und zum Vertrauensverhältnis zwischen der ‘anderen Kultur’ und dem Haus an der Hannoverschen Straße beitrug. Dabei mußten die Diplomaten, erinnert sich Ackermann, bei den Gästen aus Westberlin oft erst Vorbehalte abbauen. “Die interessierten sich nicht für dieses alternative Kulturleben. Und denen in Bonn war es nun gleich egal, ob da im Prenzlauer Berg irgendwelche Leute Kunst machten.”(62)

Diese für Diplomaten nicht gerade alltäglichen Kontakte in die subkulturellen Biotope hatten für die Boheme noch einen entscheidenden Vorteil: Sie erwiesen sich als latenter Schutz vor willkürlichen Verhaftungen und Repressionen. Gute Kontakte zur Ständigen Vertretung bedeuteten für die Staatssicherheit stets auch gute Kontakte zu westlichen Medien, deren mögliche Berichterstattung oft eine Bremse vor härteren Maßnahmen war.

Seit Ende der 70er Jahre öffnete sich auch die Evangelische Kirche als Podium, Schutzraum und “Konfliktregelungsinstanz”. Der Pfarrer Frieder Burghard begann etwa in der Dresdner Weinbergskirche Lesungen unbequemer Autoren zu organisieren – eine Tradition, die später Christoph Wonneberger mit Mail-Art-Ausstellungen, einer speziellen Lesereihe und Konzerten mit Punkbands fortsetzen konnte. Auch in Karl-Marx-Stadt schuf der Studentenpfarrer Hans-Jochen Vogel ein Podium für das sich ausbildende Netzwerk kulturellen Eigensinns – etwa mit Lesungen von Barbara Köhler, Performances von Klaus Hähner-Springmühl und mit weit beachteten Trampertreffen. Und in der Hallenser Christusgemeinde lud der einstige Stadtjugendpfarrer Siegfried Neher zum Anfang der 80er Jahre zu den ersten republikweiten Punkmusiktreffen ein, die noch mit einem enormen Aufgebot an Staatssicherheit und Volkspolizei verhindert werden sollten, aber durch das mutige Eintreten des Pfarrers schließlich doch, wenn auch in dezimierter Form, stattfinden konnten. “Für mich war der vernehmbare Schrei dieser Generation etwas Urreligiöses”, erinnert sich Pfarrer Siegfried Neher an seine damalige Motivation, “ich habe mein Vorgehen auch versucht, so bei der Kirchenleitung zu begründen. Es war meine Pflicht als Pfarrer, mich um diese Menschen zu kümmern.”(63)

Die Kirchenleitung stützte nicht nur in Nehers Fall die Arbeit mit den nach Orientierung suchenden Jugendlichen, wenngleich sie diese Tätigkeit am liebsten unter den Titel “sozialdiakonische Arbeit” subsumierte. Dabei blieben Konflikte zwischen Superintendenten und Pfarrern, Gemeindemitgliedern und den meist nicht kirchlich gebundenen Besuchern der zahlreichen kulturellen Veranstaltungen nicht aus, zumal alkoholisierte Pogotänzer nicht immer die nötige Achtung vor dem kirchlichen Inventar aufbrachten. So kam die Arbeit der Pfarrer oft einem diplomatisches Vabanquespiel zwischen den teilweise widerstrebenden Interessen gleich, zumal die Staatssicherheit diese Konflikte mithilfe eingesetzter Inoffizieller Mitarbeiter noch schürte. Dennoch gelang es in einigen Fällen, die Veranstaltungen überregional zu kommunizieren. Am bekanntesten waren dabei sicher die von Pfarrer Rainer Eppelmann organisierten Bluesmessen. Zunächst in der Ostberliner Samariterkirche, später aus Platzmangel in der Erlöserkirche zelebrierte der heutige CDU-Politiker von 1979 bis 1986 seine legendären, mit Musikbeiträgen und Sketchen durchsetzten Gottesdienste, die meist eine Länge von anderthalb bis zwei Stunden hatten. Dabei begann es, erinnert sich Rainer Eppelmann, ganz unspektakulär: “Ein Musiker, der Blues spielte, und ein Mitarbeiter und meine Wenigkeit, die wir Texte aus dem Neuen und dem Alten Testament dazu vorgelesen haben – in einer übertragenen Form, die was mit Liebe und mit dem Zusammenleben der Menschen zu tun hatte; vor 300 bis 400 Jugendlichen etwa. Das war am 1. Juni 1979 in der Samariterkriche in Berlin.”(64)

Kurze Zeit später drängten nach Angaben Rainer Eppelmanns allerdings bereits 8.000 und 10.000 Menschen zu den legendären Veranstaltungen in das Gotteshaus. Die Blues-Fans, meist ohne kirchliche Bindung, kamen aus der ganzen DDR angereist, und es bedurfte eines enormen organisatorischen Aufwandes, um den Massenauflauf in den vorgezeichneten Bahnen zu halten und den ‘staatlichen Organen’ durch Eskalationen oder unvorhergesehene Stärfälle keine Handhabe zum Eingreifen zu bieten. Die Veranstaltungen wurden ab 1980 von einem Vorbereitungskreis getragen, dem Kirchenangestellte und Aktivisten der Bluesmessen angehörten. Zusätzlich vermittelte eine Kontaktgruppe zwischen den Interessenlagen: “Sie sollte den Fluß von Detailinformationen über geplante Vorhaben bis auf Bischofsebene garantieren und ein schnelles Vetorecht sichern”, schreibt der Musikwissenschaftler Michael Rauhut. “Diese Konstruktion hatte sich angesichts der politischen Explosivität, die den Dingen innewohnte, als unentbehrlich erwiesen. Um den totalen Crash mit dem Staat auszuschließen, nahm die Kirchenspitze jedes einzelne Programm einer Bluesmesse unter die Lupe.”(65)

Der Grund für den spektakulären Charakter der Vernastaltungen lag nicht nur an den prinzipiell ohne Gage auftretenden Musiker und Bands – zu den Bluesmessen spielten etwa Stefan Diestelmann, Regine Dobberschütz, Stephan Krawczyk sowie Mitglieder bekannter Bluesbands von der Jonathan Blues Band bis zu Monokel. Auch die vorgegeben Themenschwerpunkte, bei denen sonst tabuisierte Probleme wie Ausreise, Umweltschutz oder Wehrdientsverweigerung in offener Art und Weise angesprochen wurden, zogen massenhaft Publikum an. Die Staatssicherheit regagierte auf ihre Weise: “Das vor Ort reichlich präsente MfS fotografierte und filmte zu diesem Zwecke das Publikum, kontrollierte Ausweise und erfaßte Personalien, verfolgte aus der Republik angereiste Gäste. Nicht minder umtriebig war man im Kirchenraum selbst zugange. Stasi-Büttel schnitten jedes Wort über versteckte Tonbandanlagen mit und versuchten, Unruhe zu stiften – wozu man beispielsweise IM’s aus der Punk-Szene vergatterte. Kein Mittel war zu plump. Einmal wurden sogar Stinkbomben eingesetzt.”(66)

Obwohl die Kirchenleitung zunehmend Einfluß auf den Charakter der Bluesmessen ausübte, wurde die streitbare Veranstaltung nicht abgesetzt. Als sich ab Frühjahr 1982 auch andere Kirchen in der DDR für jene ausgegrenzte Jugendkultur öffneten, ließ das Interesse merklich nach. Vor allem die neu aufkommenden Punkbands fanden nun ein Podium, und dies zu einem Zeitpunkt, als die Ordner der staatlichen Jugendklubs ihnen noch die Tür wiesen. “Wie für Maler, Lyriker, Theatergruppen und Liedermacher”, berichtet Christoph Tannert, “so bot der Freiraum Kirche auch Musikern von Hardcore bis Nine-Pound-Hammer-Punk Asyl und gute Akustik für Beifallsstürme.”(67)


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