Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Durch die vielfältigen Kontakte Sascha Andersons, der in dieser Zeit merklich häufiger zu den Gästen im offenen Hause zählt, wird der Teilnahmekreis der beteiligten Dichter größer. Neben dem literarischen Urgestein Adolf Endler lesen nun auch Bert Papenfuß-Gorek, Eberhard Häfner, Stefan Döring, Uwe Hübner, Thomas Roesler und Sascha Anderson selbst. Zum Teil leben sie noch nicht am Prenzlauer Berg und kommen extra zur Lesung aus den DDR-Provinzen angereist. Im behaglich-eklektizistischen Küchenambiente, zwischen gerahmter Künstlergrafik, gepolstertem Kannapee und mit Keramik vollgestellten Wandregalen, gibt eine neue Dichtergeneration von 1979 bis 1982 ihr Debüt. Auch vor den akzeptierten Autoritäten wie Franz Fühmann, Heiner Müller und Christa Wolf, die oft als Gäste erscheinen und mitunter ihre Wagen aus Vorsicht wegen der in Zivil patrouillierenden Staatssicherheit ein paar Straßen weiter parken.

Genutzt hat das nichts: Das literarische Küchenkabinett wird trotzdem observiert. Gegen Ekkehard Maaß liegt seit 1977 der Operative Vorgang “Keller” an. Zu einem Verbot kommt es allerdings nicht, auch wenn im Hausflur Ausweiskontrollen an der Tagesordnung sind und zu den Veranstaltungen demonstrativ demonstrativ die Türen eines Polizeiwagens knallen. Dem mitunter wilden Leben in der Erdgeschoßwohnung tut die offene Beschattung indes keinen Abbruch: “Wenn ich von meinen kleinen Auftritten in der Kirche nach Hause kam, hatte ich oft weite Wege”, berichtet Sänger Maaß. “Einmal kam ich nach Hause und merkte, hier schlafen überall welche. Und ich wußte gar nicht, wo ich schlafen sollte. Ich war hundekaputt und total durchgefroren. Auf dem Küchensofa schlief eine Dame. Ich war so müde, daß ich mich neben sie gelegt habe. Bis ich ihr über den Kopf strich und merkte, es ist eine Punkerin. Solche Abenteuer gab es. Es war eine richtige Boheme, mit Liebe, Rotwein und heftigen Kunstdebatten, auch wenn es vielleicht verhaltener als in den 20er Jahren war.”(6)

Ein Jahr nach dem ersten Besuch Sascha Andersons ist alles anders im Hause Maaß: Die so harmonisch scheinende Ehe ist zerrüttet, und das Schlüsselloch der Verbindungstür zwischen Keramikwerkstatt und Vorderhauswohnung zugegipst; später wird die ehemalige Pforte sogar vermauert. Die rigide Trennung hat Gründe: Wilfriede Maaß und Sascha Anderson werden ein Paar, leben aber weiter Wand an Wand mit dem verlassenen Ehemann. Die Tochter lebt bei Wilfriede, der Sohn zieht zu Ekkehard. Aus der einstmals ruhigen Keramikwerkstatt wird mit Andersons Einzug ein mitunter maßlos frequentierter Szene-Treffpunkt und zugleich sein stolzes Hauptquartier, in dem der strippenziehende Protagonist den zahlreich anreisenden Westjournalisten bald schon gefällige Audienzen gibt. “Die Keramikwerkstatt”, weiß der Fotograf Thomas Florschuetz, “war ein einziges Postamt.”(7)

Hier werden die bei den Empfängen und Ausstellungen in der Ständigen Vertretung angebahnten Ost-West-Kunstgeschäfte abgewickelt. Hier zückt Zampano Anderson auch schon mal ein Bündel Scheine und zahlt seinen Künstlerpartnern ihre Anteile an den Westverkäufen am liebsten in Ostmark aus. Hier werden westdeutsche Sammler vorstellig, die über Fernsehbeiträge auf den künstlerischen Geschmack gekommen sind. In den ersten Jahren setzt der umtriebige Dichter seine bereits in Dresden begonnene Produktion der “Poesiealben” fort, später folgen andere Künstlerbücher. Der Vertrieb ist im ständigen Kommen und Gehen kein großes Problem. Bleibt ein Rest, wird man ihn beim nächsten Diplomatenempfang garntiert los, zumal sich bereits Privatsammler und Museen für die gelunge Edition interessieren. Außerdem tagen in der Werkstatt die Macher der Untergrundzeitschrift Schaden, und im weiträumigen Hof des Mietshauses dreht Schmalfilmer Gino Hahnemann seinen Hölderlin-Film – mit Wilfriede Maaß, dem befreundeten Kunstsammler-Ehepaar Dieter und Susanne Kahl sowie Sascha Anderson in der Hauptrolle, deren Übernahme im Nachhinein vielleicht die bezeichnendste Aktivität des zwiespältigen Charakters bleibt. Eine kreative Atmosphäre, fern ab all jener westlichen Verwertungshektik, die Jean-Louis Leprêtre, Kulturattaché der Französischen Botschaft in Berlin und damals gelegentlich Gast in der subkulturellen Kommunikations-Werkstatt, an historische Parallelen erinnert: “Das erinnerte mich damals stark an die 60er Jahre in Amerika. Ich kam einmal an einem ganz normalen Nachmittag zu Wilfried Maaß in die Werkstatt, da waren vielleicht 20 Leute. Man trank, rauchte und sprach über Kunst – nebenan waren einige Frauen, die an Keramik arbeiteten. Es machte fast den Eindruck einer Kommune.”(8)

Für Wilfriede Maaß, ruhiger Gegenpol und gute Seele des Unternehmens, ist die bisweilen fast ins mäzenatische abgleitende Gästebeherbung mitunter auch strapaziös. Ihr Telefon wird zur allseits genutzten Kommunikationszentrale, auf deren Kosten die Keramikerin nicht selten alleine sitzenbleibt. Überhaupt trägt sie die kostenintensive und turbulente Ursupation mit stoischer Heiterkeit. Nur wenn sie wegen des permanentem Party-Chaos und der ewigen Zigarettenstummel in den Farbtöpfen am nächsten Morgen nicht wie gewohnt weiterarbeiten kann, bewölkt sich die Stirn der integren Keramikerin. “Jahrelang ist die Werkstatt von Wilfried Maaß nicht nur eine Töpferei, sondern auch so etwas wie ein psycho-sozialer Gestaltungsraum gewesen”, analysiert der Kunsthistoriker Christoph Tannert, ebenfalls häufiger Gast im wirtlichen Haus, “ohne ihren Eifer und den von ihr kreierten Freiraum für Ideen, Methoden und die Kunst ihrer Freundinnen und Freunde hätte es einen spezifischen Teil ostdeutscher Strategie des Ausnahmefalls nicht gegeben.”(9)


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