Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Dennoch setzt im Mai 1971 die Gründung der Künstlergruppe Lücke programmatisch neue Akzente. Die Lücke, ihr Name ist selbstbewußter und gleichzeitig ironisch verkürzter Bezug auf die berühmte Dresdner Künstlergruppe Brücke, ist die erste und auf lange Zeit einzige unabhängige Künstlergruppe der DDR. Gegründet wird sie von Harald Gallasch, Steffen Kuhnert (Terk), Wolfgang Opitz und Ralf Winkler (A.R. Penck). Die Künstler sind allesamt Autodidakten. Ihre Gruppengründung verstehen sie als Alternative zum offiziellen Kunstbetrieb und zu den in Dresden stark verwurzelten konservativen Maltraditionen an der Kunsthochschule. In der kollektiven Kunstausübung entstehen eine Vielzahl von Gemeinschaftsbildern und künstlerischen Schmalfilmen. Ihre Ausstellungen in einem Hinterhof-Seitenflügel in der Hechtstraße 25 stehen auch für andere Künstler offen. Die erste Ausstellung trägt den verweiskräftigen Titel “Erste Integration junger Zeitgenossen”. In einem von A.R. Penck verfaßten Manifest aus dem Gründungsjahr wird die Intention der Gruppe deutlich, die sich nach Schikanen und zeitversetzten Armee-Einberufungen 1976 selbst auflöst. “Wenn wir uns darüber einigen, daß wir neben dem traditionellen Wertmaßstab Geld einen neuen Wertmaßstab setzen, so wird diese Maßstabsfindung uns instand setzen, unseren eigenen Raum zu behaupten.”(6)

Die Suche nach dem selbstbestimmten Raum wird für die beiden letzten DDR-Jahrzehnte auch in Dresden zum dominierenden Lebensstoff. Vor allem in den beiden Dresdner Stadtteil-Biotopen Loschwitz und Neustadt entsteht eine weitverzweigte Infrastruktur. Im Verfall des Gründerzeitviertels Äußere Neustadt formiert sich Ende der 70er etwa ein Freundeskreis, der mit inoffiziellen Zeitschriften- und Buchprojekten sowie mit der Künstlerband Pite Wurzel aus Zwitschermaschine(7) auf sich aufmerksam macht. Dazu gehören neben dem überall präsenten Organisator Sascha Anderson auch die in der Neustadt wohnenden Maler Cornelia Schleime, Ralf Kerbach und Michael Hengst. Verstärkt durch andere Projekte, von der inoffiziellen Wohnunsgalerie von Sören “Egon” Naumann in der Förstereistraße bis zu den Aktivitäten um die Mail-Art-Gruppe von Birger Jesch (8), spielt der verfallende Stadtbezirk als Raumbeschaffungsareal und Aktionsort vor allem in den 80er Jahren eine tragende Rolle. Hier wird die Untergrundzeitschrift ‘und’ seit 1982 vom Jazzmusiker Lothar Fiedler herausgegeben. Die originalgrafische Zeitschrift, die zunächst in einer 15er Auflage erscheint, ist neben der Berliner Entwerter/Oder überhaupt die erste nennenswerte Edition im Land. Später setzt der Performance-Künstler Micha Brendel das Zeitschriftenprojekt unter dem Titel ‘usw’ fort.

Zu einer übergreifenden Zusammenarbeit kommt es nicht. Versuche wie das bei Dresden 1985 in einem Klubhaus in Coswig organisierte Festival Intermedia bleiben seltene Ausnahmen. “Das Extreme ist ja in Dresden diese Gruppenbildung, die es gab”, begründet Cornelia Schleime die Selbstbezogenheit der einzelnen Aktivitäten. “Das geht ja bis zur Runde von Parapsychologen, die irgendwo sitzt und Gläserrücken macht. Aber unter diesen Gruppen bestand keinerlei Konkurrenz. Man akzeptierte sich gegenseitig. Wir waren eben die jüngste Gruppe, und das andere waren die älteren Gruppierungen.”(9)

In Loschwitz wurzelt dagegen noch eine andere Boheme-Tradition. Der frankophil geprägte Traum eines anderen Lebens artikuliert sich dort bereits seit Mitte der 60er Jahren in zahlreichen Festen und ausschweifenden Kunst-Aktionen. Wichtige Anreger werden der Freundeskreis von Matthias Griebel (10), der vor allem um das Künstlerlokal Körnergarten wirksam wird, sowie das Leonhardi-Museum auf der Grundstraße. Dort finden 1979 und 1982 bemerkenswerte Ausstellungen statt, die eine Schließung des weit beachteten Museums nach sich ziehen. Im gravierenden Exodus in den Westen, der ab Mitte der 80er Jahre die Loschwitzer Szene merklich lichtet, verliert sich die Vitalität der hier möglichen alternativen Lebensentwürfe. “Das Geheimnis Dresdens liegt im Schönen: die Umgebung, die Stadt”, resümiert der Dichter Manfred Wiemer, “aber das ist das Lähmende. Eine subcultura wächst zwangsläufig – als Unkraut durch barockes Sandgestein.”(11)


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