Deutsches Historisches MuseumBoheme & Diktatur
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Trotz dieser Aufbruchstimmung wird die Suche nach unzensierten Ausstellungsmöglichkeiten zu einem echten Problem. So weichen die Dresdner Mailartisten auf einen Schuppen in der Tharandter Straße aus, der eigentlich als Wäschetrockenraum dient. Die staatlichen Galerien winken ängstlich ab. Wo sie es nicht tun, verhindern oft Verbote die nach den Mail Art-Regeln notwendige Veröffentlichung der Projekte, wie etwa in der Putbuser Orangerie, im Weimarer Studentenclub oder in der Annaberger Galerie am Markt. Die Liste verhinderter Projekt-Shows ist lang. Selbst der Dresdner Theaterclub, ohnehin nur für Künstler der Semper-Oper und des Staatstheaters ohne weiteres zugänglich, kneift auf beredte Weise. Bereits einen Tag, nachdem Jürgen Gottschalk seine verabredete Ausstellung der “Visuellen Erotik” aufgebaut hat, erhält er die Auflage zum sofortigen Abtransport des nicht gerade pornografisch wirkenden Materials. Als Begründung wird von der Generalintendanz des Dresdner Staatstheaters angeführt, daß sich ausgerechnet der Jugendklub des Theaters wegen der unverhüllten Ausstrahlung des Materials beschwert habe. “Ebenso protestieren heftig der Gaststättenleiter Kollege Neubert und dessen Ehefrau”, heißt es in der Anweisung. “Sie weigern sich, die Arbeit in diesem Raum fortzusetzen.”(10)

Wird Kollege Neubert zum Maßstab, so bleibt der Kunst oft nur noch die Obhut der Kirche. Vor allem die damals von Pfarrer Christoph Wonneberger geführte Weinbergskirch-Gemeinde in der Albert-Hensel-Straße wird Anfang der 80er Jahre zu einem subkulturellen Anlaufpunkt – wie schon einmal in den 70er Jahren, als sein Vorgänger Burckhard für ein anspruchsvolles Programm sorgte. Hier finden abendliche Kurzgottesdienste statt, die durch Lesungen von Katja Lange bis Sascha Anderson zu stadtbekannten Ereignissen werden. Auch für die Mail Art hat Pfarrer Wonneberger ein offenes Christenherz. “Im ersten Gespräch mit dem verantwortlichen Pfarrer wurde ich von seinem liberalen Selbstverständnis überrascht”, erinnert sich Jesch an seine erfolgreiche Suche nach alternativen Ausstellungsmöglichkeiten. Wonnerberger gestattet ihm im Februar 1981, sein pazifistisches Schießscheiben-Projekt in der Kirche auszustellen. “Er sprach von der christlichen Kunstpräsenz in der Kirche. Die Ausstellungseröffnung fiel auf einen der neu eingeführten abendlichen Kurzgottesdienste, welche unter religiös dünn bemänteltem Vorwand, eine Plattform für nichtangepaßte junge DDR-Kunst boten.”(11)

Überhaupt entsteht nicht nur in Dresden eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Pfarrern und Mailartisten. Jeschs erste Ausstellung tourt beispielsweise als kirchliche Wanderexpostion durch vier Städte. Später sorgt eine vom Leipziger Anschlag-Herausgeber Karim Saab mitorganisierte Mail Art-Ausstellung, die unter anderem in der Dresdner Kreuzkirche, in Leipzigs Nikolaikirche und im Magdeburger Dom zu sehen ist, für gehörigen Zündstoff, auch innerhalb der kirchlichen Verwaltung. Die Wanderausstellung wird von 1984 bis 1986 zur öffentlichkeitswirksamsten Mail Art-Präsentation in der DDR. Das Phänomen ‘Mail Art in der Kirche’ ist selbst im Ostblock einmalig. In anderen sozialistischen Ländern werden die Postkunst-Shows im öffentlichen Raum toleriert. In der DDR scheint es dagegen auch von kirchlicher Seite einen Bedarf nach dieser vom Staat nicht beeinflußten, aber dennoch effektiven und demokratischen Form von selbstgestalteter Meinungsäußerung zu geben. So werden Birger Jesch, Jürgen Gottschalk, Joachim Stange und Steffen Giersch regelmäßig zu den Friedensdekaden der Evangelischen Kirche eingeladen. Hier können sie an Ständen Mail Art-Karten verkaufen oder in improvisierten Ausstellungen auf ihre vielfältigen Aktivitäten aufmerksam machen. Die drucktechnisch versierten und mit den staatlichen Auflagen vertrauten Mailarter sind im Gegenzug bei der Gestaltung von Werbemitteln behilflich.

Der Mail Art-Boom ist auch an den Pinnwänden abzulesen, an denen die positive Meinung der Kirchenbesucher über die ‘Fremdnutzung’ des Gotteshauses überwiegt. “Die Überproduktion der Ost Mail Art interpretiere ich aber auch als einen Versuch, Sand in das Getriebe der Post-, Zoll- und Stasi-Behörden zu streuen”(12), diagnostiziert der Psychotherapeut Lutz Wohlrab, gleichzeitig wichtiger Anreger eines unabhängigen Greifswalder Künstler- und Intellektuellenkreises. Von der Westseite wird die aus dem Osten kommende Korrespondenz-Flut nicht immer nur freundlich aufgenommen. Einerseits wittern manche der mit Post überschütteten Mail Art-Vertreter in den ostdeutschen Produkten zu Recht lediglich eine grenzüberschreitende Kontaktanbahnung mit ungewissem Ziel. Auf der anderen Seite bleibt die ästhetische Herausforderung der ostdeutschen Mailart in der Regel gering. “DDR Mail Art brachte nur selten Erfreuliches”, räumt etwa der Schweizer Protagonist Hans Ruedi Fricker kritisch ein. “Wie sollte sie auch? Der Staat beschränkte den Zugang zu Vervielfältigungsmedien wie Buch- und Offsetdruck, Xerox oder Stempel, zensierte und regelte die Verbreitung.”(13)


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