Ein Interview mit dem Kurator der Ausstellung, Herrn Dr. Rainer Rother

 


Kuator der Ausstellung Dr. Rainer Rother

Museumspädagogik: Welche Überlegungen stehen hinter den drei Leitbegriffen der Ausstellung Erfahrung, Neuordnung und Erinnerung?

Dr. Rother: Das Konzept geht davon aus, dass der Erste Weltkrieg mittlerweile in eine neue Perspektive als der Beginn des „kurzen 20. Jahrhunderts“ gerückt ist, und dass sich deswegen seine Darstellung geändert hat. Er ist nicht mehr völlig hinter dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust verborgen, sondern er ist der Beginn einer Epoche, von der wir sagen, sie sei seit 1989 – oder 1992, was Russland betrifft – beendet. Unsere Überlegung war, seine Folgen ins Zentrum der Ausstellung zu stellen sowie diejenigen Aspekte, die ihn zu einem modernen, teilweise totalen Krieg gemacht haben. Es war das erste Mal, dass ganze Gesellschaften und Ökonomien auf den Krieg ausgerichtet wurden.

So haben wir uns entschlossen, den ersten Teil Erfahrung zu nennen, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine militärhistorische Ausstellung handelt, sondern dass der kulturhistorische Aspekt in den Vordergrund gerückt wird.
Der zweite Punkt Neuordnung behandelt die Folgen des Ersten Weltkrieges. Neuordnung ist ja ein relativ positiv besetzter Begriff und positiv war auch die Absicht derjenigen, die diese Neuordnung unter der Idee der nationalen Selbstbestimmung gestaltet haben. Dass das in der Folge nicht immer funktioniert hat, ist Thema dieses Ausstellungsteils. Für uns ist aber auch entscheidend, dass dieser Erste Weltkrieg Folgen für die Staatenwelt hatte, das betrifft vor allem Osteuropa.
Der letzte Teil Erinnerung versucht das Ereignis mit dem, was in der Erinnerung aus ihm geworden ist, zu verknüpfen. Dabei gibt es nationale Unterschiede nicht nur zwischen Sieger- und Verliererstaaten, sondern auch zwischen West- und Osteuropa. Woran erinnert man sich? Für die westlichen Alliierten ist der 11. November der Tag der Erinnerung. In den Verliererstaaten gibt es andere Tage, an denen der Toten gedacht wird: In Deutschland den Heldengedenktag, seit den 1950er Jahren Volkstrauertag; in Polen, Litauen, Estland und der Türkei den Unabhängigkeitstag. Die Rede vom „Großen Krieg“ ergibt in Osteuropa gar keinen Sinn, weil es für die ‚staatenlosen’ Polen, Litauer, Tschechen und Slowaken immer ein fremder Krieg war. In Italien, Belgien, Frankreich und Großbritannien ist die Chiffre „Großer Krieg“ immer noch geläufig.

Museumspädagogik: Was ist für den Ausstellungsbesucher interessant am Ersten Weltkrieg, warum sollte er sich damit beschäftigen?

Dr. Rother: Der Erste Weltkrieg ist in gewisser Hinsicht ein Epochenbruch, kein Zivilisationsbruch wie der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, aber ein Bruch, der für ganz Europa extrem folgenreich war. Er ist ein Bestandteil der Erklärung, warum es zum Zweiten Weltkrieg kam. Einige der für die deutsche Geschichte besonders verhängnisvollen Folgen des Erstes Weltkrieges sind auch in anderen Staaten zu beobachten: der gewaltsame Umgang mit politischen Gegnern und die Einteilung ganzer Nationen in ein „Freund-Feind-Schema“. Europa ist unfähig, dem eine Friedensordnung entgegenzusetzen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, wie Kriege entstehen und welche Folgen sie haben, denn dieser Krieg war ein unnötiger.
Insofern wollen wir dazu anregen, die deutsche Geschichte vollständiger zu begreifen. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes wäre es eine wünschenswerte Erkenntnis, dass eine Aufteilung der Welt in Gut und Böse keinen Segen hat, auch in Zukunft nicht.

Museumspädagogik: Welches ist Ihr persönliches Lieblingsobjekt in der Ausstellung?

Dr. Rother: Möglicherweise das Triptychon von Johannes Koelz – ein Objekt mit einer ungewöhnlichen Geschichte, dessen wenige erhaltene Fragmente wir nach Berlin bringen konnten. Koelz’ Werk erinnert in der Brutalität der Darstellung dessen, was der Krieg wirklich ist, sehr an Otto Dix.

Museumspädagogik: Eine Frage in Hinblick auf die EU-Osterweiterung. Wird der Erste Weltkrieg jetzt so etwas wie ein europäischer Erinnerungsort werden?

Dr. Rother: Ja, in gewisser Weise könnt man sagen, dass der Beitritt dieser zehn Länder auch eine Art Schlusspunkt hinter den Ersten Weltkrieg ist, denn von ihnen sind fast alle nach 1918 entstanden. Insofern ist der 1. Mai 2004, der Tag der EU-Erweiterung, tatsächlich ein Tag, der formal und völkerrechtlich eine Neuordnung in Europa realisiert. Das ist nicht nur eine Folge des Ersten Weltkrieges, wie wir alle wissen, es hat auch sehr viel mit der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges zu tun, aber für die Erinnerung in diesen Staaten ist das schon ein sehr prägender Moment.

Das Interview führten Julia Hornig und Johanna von Münchhausen, DHM-Museumspädagogik