"Morgenstund hat Gold im Mund", "Müßiggang ist aller Laster Anfang", "Ehrlich währt am längsten": keine Tugend, für die es nicht das passende Sprichwort gäbe. Nahezu unverrückbar scheinen in diesen Sprachdenkmälern die überzeugungen des deutschen Bürgersinns festgeschrieben zu sein. Sie an veränderte gesellschaftliche Bedingungen anzupassen, ist ein Prozeß der in beiden deutschen Teilstaaten stattgefunden hat. Die Entwicklung der Bundesrepublik zu einer modernen Industriegesellschaft brachte es mit sich, daß sich die Lebensverhältnisse veränderten. Unterschiede von Stadt und Land wurden ausgeglichen, gesellschaftliche Hierarchien nivelliert. |  | Ein "neues" Verständnis von Wertvorstellungen artikulierte sich in Bezeichnungen Fairness oder Zivilcourage. Sie fanden im allgemeinen Bewußtsein der gesellschaftlich positiven Verhaltensweisen ihren Platz. Andere als "Typisch deutsch" geltende Eigenschaften oder "Tugenden" wie Gehorsam und Disziplin wurden hingegen als "Sekundärtugenden", die der Gefahr einer Instrumentalisierung unterliegen, diskutiert. Gleichzeitig allerdings haben die gemeinsamen Werte ihre Verbindlichkeit eingebüßt. Mehr als zuvor ist heute jeder selbst dafür verantwortlich, die Tugenden, Normen und Werte zu begründen, an denen er sein Handeln ausrichtet.
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