Berthold Franke

Die Verachtung der Kulturpolitik

Als common sense einer neuen Generation von Kulturkritikern scheint sich eine Art Verachtung der Kulturpolitik durchgesetzt zu haben. Angesichts leerer Kassen ertönt allenthalben der Aufruf zum Schlachtfest in der öffentlichen Kulturförderung, zum Durchlüften und Großreinemachen
im Sumpf der Subvention und Vetternwirtschaft. Gerne gewählte Beispiele sind die kommunalen Theater, die Filmförderung, in jüngster Zeit auch die auswärtige Kulturpolitik. Wer hier Remedur verlangt, zumeist indem er erst einmal pauschal die "Verwaltung" aufspießt, um dann mit demokratischem Ernst jedem Zuwendungsempfänger die erneute Legitimation seines Tuns abzuverlangen, stellt sich auf die Seite der Kunst, der wahren Kultur, der Kreativen und sonstigen Verdammten der Erde und zielt normalerweise auf die 68er-Generation: das Kultur-Establishment der 90er, seit kurzem auch an der Regierung.

Nun ist diese Generation ihrerseits geprägt vom Kulturkampf. Verbindendes Projekt jenseits aller Wirrnisse der Politik war die Institutionalisierung einer pluralistischen, dezidiert kritischen und modernen Kultur gegen den Muff der Adenauer-Jahre, gegen den Kommisston in der gesellschaftlichen Kommunikation und die Heuchelei des kleinbürgerlichen Bildungskanons. Dieser Kampf ist längst gewonnen, und die Helden von einst streicheln sich zufrieden die Bäuche. Sie selbst haben oft in den Kultur- und Bildungsinstitutionen ihr Auskommen gefunden, gerne belächelt ob der einstigen großen Sprüche, doch wohlversorgt und politisch am Drücker.

"Kultur für alle!" (Hilmar Hoffmann) hieß das schwer zu überbietende Motto der siebziger Jahre. Die Schauplätze des Projekts waren die großen Kommunen, die dem Guten, Wahren, Schönen die Soziokultur beigaben, auch die kommunalen Kinos und die freien Theatergruppen. Die Bundesländer sorgten für A13-Festanstellungen und die Gesamtschule, der Bund baute sein Netz der Goethe-Institute aus, auf dass eifrig die Botschaft vom anderen Deutschland und seiner demokratischen Kultur verbreitet werde. Mit GRIPS und Enzensberger, mit Faßbinder und Mangelsdorff zog man in die Welt, um dort im gezielten Widerspruch zur offiziellen Hochkultur ein besseres Deutschland vorzustellen. Es ging gegen die eigene Geschichte und gegen die allgegenwärtige "Spießer-Ideologie" (so der Titel eines erfolgreichen Buches des Nürnberger Kulturdezernenten Hermann Glaser), vom Kuppeleiparagrafen über den Gesangsverein bis zur reaktionären Klassikerpflege.


Mit einem Schritt Distanz könnte man sagen, dass so, wie einstmals die "emanzipatorische" Kulturpolitik gegen das herrschende System in Stellung gebracht wurde, in den späten Neunzigern die wahre, radikale und nicht auf Subventionsmist gewachsene Kultur gegen die Versteinerungen der Kulturpolitik stehen soll. Die Agitation gilt öffentlicher, zumeist kommunaler Kulturförderung, die zwischen veraltetem Repräsentationsstil (Stadttheater) und alter-naiven Stadtteilprojekten schlingert, wovon vor allem gesetzte Bartträger in bequemen Cordhosen profitieren, die vom Pathos längst geschlagener Schlachten zehren, während die jungen, nervösen Genies auf eigene Kosten an den Bildschirmen und Mischpulten die Kultur der Zukunft entwerfen, von der nur Eingeweihte bisher eine Ahnung haben.

Es geht nicht darum, wer Recht hat in diesem Streit, sondern um ein tieferes Muster, das sich dahinter verbirgt. Zunächst einmal spiegelt sich darin ein Problem der Kulturkritik oder, weniger anspruchsvoll ausgedrückt, des Feuilletons. Denn ohne Zweifel waren die "kritischen" Kulturjournalisten ehedem Angehörige jener altwestdeutschen Koalition, die gemeinsam mit den Künstlern und den Vermittlern, darunter auch dem Goethe-Institut, gegen Kulturspießer aller Art ("Aktion saubere Leinwand") den großen Sieg in den Medien ausfocht.

Zu den originären Paradoxa der westdeutschen Nachkriegs-Kulturgeschichte gehört zweifellos, dass draußen im Namen und Auftrag Deutschlands die deutsche Avantgarde gegen die offizielle Kultur ins Feld führte. Ach, muss das schön gewesen sein, als man mit einer kleinen Provokation von Staeck oder Grass schnell den Geschäftsträger der Auslandsvertretung erregen und sich selbst damit in die Presse bringen konnte ("Rettet die Unabhängigkeit der deutschen Kultur im Ausland!")! Allein das Fehlen einer Figur wie F.J. Strauß, für dessen Wort von den "Ratten und Schmeißfliegen" Künstler aller Sparten ewig dankbar sein müssen, hat den Arbeitsalltag eines durchschnittlichen Kulturmenschen seitdem um einiges erschwert. Strauß' unvergessene Attacke gegen das Goethe-Institut von 1986 empfahl doch tatsächlich gegen den linken Kulturpessimismus in der Außendarstellung das Vorbild im Osten: "Die hellen und festlichen Farbtöne, mit denen die DDR ihr Land im Ausland malt, werden auf Dauer erfolgreicher sein als die düstere Götterdämmerungspalette der Bundesrepublik Deutschland."
Das Leuchten in den Augen älterer Goethe-Institutsleiter beim Erzählen solcher Geschichten spricht Bände. So schön konnte der internationale Kulturdialog sein: beim Partner im Ausland Punkte machen, indem man den eigenen Eliten aufs Haupt schlug. Oder haben vielleicht unsere Freunde im Ausland mehr gesehen, als wir vermuten, nämlich den wiederholten Beleg für die alten deutschen Selbstfindungsnöte einer mit sich selbst zerfallenen Kultur? "Wir haben die Probleme, die wir mit Deutschland haben, exportiert, wir haben unsere Seelen im Ausland spazieren geführt. ... Wie romantische, mit sich selbst hadernde Wandersgesellen sind wir auf Goethes Ticket in aller Herren Länder ausgeschwärmt und haben den Menschen dort unsere edlen Seelen enthüllt", so der Alt-68er Thomas Schmid. Hinter dieser maso-narzisstischen Konstellation aber verbirgt sich, was niemand so beherrscht wie wir Deutschen bzw. was niemanden so beherrscht wie uns, die Fixierung auf das alte "Indianerspiel" (Enzensberger): Geist gegen Macht.

Natürlich war es das. Das Ethos der Gründergeneration des Goethe-Instituts - wie dasjenige des liberalen Nachkriegsfeuilletons - leitete sich ab aus dem Einsatz für "die Kultur" gegen "die Politik". Schauplatz waren manche dem Selbstbild schmeichelnde Scharmützel mit den Auslandsvertretungen und das finale shootout mit dem großen Vorsitzenden. Ironischerweise ist es aber gerade dieses Muster, das ganz offensichtlich auch der neuen Attacke gegen die Kulturpolitik zu Grunde liegt. Im Namen der Kunst gegen die Arroganz der Administratoren. Im Ausland übrigens kennt man das, ja man erkennt uns daran.
Der antiinstitutionalistische, letztlich roman-tische Hintergrund des deutschen Antagonismus von Geist und Macht reflektiert bekanntlicherweise die problematische Geschichte der "verspäteten Nation". In Kulturkreisen mit geglückterer Nationalgeschichte sieht das ganz anders aus. Die umstandslose Ehe von Kultur und Politik z.B. in Frankreich ist sprichwörtlich. Das bloße Stellen der Frage nach der grundsätzlichen Legitimität einer öffentlich finanzierten Kulturpolitik oder des internationalen Kulturaustauschs würde in Paris schlichtes Unverständnis auslösen.

Die deutschen Indianerspiele werden nun aber komplizierter. Es ist nicht mehr ausschließlich die Kultur, die den weißen Cowboyhut trägt - ihr Gegenüber die finsteren Vollstrecker der Macht. Nachdem auf der konservativen Seite der Kalte Krieg und auf der linken der Kulturkampf gewonnen ist, hat die Kulturszene ihr identitätsstiftendes Großprojekt verloren und muss sich in vielen einzelnen Aktionen, Positionen und Entwürfen behaupten. Der generationenlange, die Kulturgeschichte prägende Widerspruch zwischen Kultur und Politik beginnt sich vor dem Hintergrund der 50- bzw. 10-jährigen demokratisch-zivilen Entwicklung Deutschlands aufzulösen. Zu den essentials dieser Entwicklung gehört aber die öffentliche Verantwortung für eine liberale Kultur- und Bildungspolitik.
Der Selbstwiderspruch des Nominalkompositums "Kulturpolitik" ist im Schwinden begriffen, mit ihm glüht die heroische Phase der deutschen Nachkriegskultur aus - und man muss es nicht bedauern. Die "neue Ohnmacht des Feuilletons" (Gustav Seibt) ergibt sich so gesehen auch aus seinem Erfolg. Das Ende der großen Kämpfe bedeutet aber eine unendliche Komplizierung, der Generationenwechsel in den Redaktionen macht es deutlich. Kulturpolitik ohne großes Projekt bedeutet ein Alltagsgeschäft, das mehr Mühe, Kenntnisse und Kompetenz verlangt, zugleich weniger spektakulär ist und dabei den Akteuren den hübschen Gratisgewinn der Drachentöterpose dauerhaft vorenthält. Kulturpolitik, auch auswärtige Kulturpolitik, hat keine Mission mehr, die jenseits der konkreten Arbeit legitimatorisches Unterfutter bietet. Die Pflege einer Tradition ist allemal schwieriger als deren Verleugnung, wie man auch vorzüglich an der Geschichte der deutschen Sprachenpolitik in Europa studieren kann.

Ansonsten: Kultur, auch internationaler Kulturdialog, findet statt. Ein internationaler Kunstmarkt, der ethnisch-kulturelle Pluralismus in den Metropolen, der immer erfolgreichere kommerzielle Sektor mit Events und Festivals, die Globalisierung der Worte und Bilder in TV und Internet sind Alltag. Kultur bedeutet Differenz - innerhalb und zwischen den national oder regional definierten großen Kulturräumen, und Kulturpolitik heißt die Schaffung und Bewahrung von Institutionen und Öffentlichkeiten, die Raum geben für all das, was der kommerzielle Sektor nicht schafft und durch die allgegenwärtige Kulturindustrie bedroht wird. Und das verlangt Geld (wenn auch nicht besonders viel!). "Das schlichte Lamento, für Bildung oder Kultur müsse doch Geld da sein, macht inzwischen aggressiv" (Klaus Hartung). An diesem Satz stimmt, dass schlichtes Lamento auf die Dauer aggressiv machen kann. Dass für Kultur und Bildung Geld da sein muss, ist eine Binsenweisheit.

Wenn forsche Redakteure, auch wenn sie sich expressis verbis noch nicht so ganz trauen, die umstandslose Abschaffung der öffentlichen Kulturförderung erwägen, geschieht das zumeist im Sinne eines überfälligen Abbaus institutioneller Fettlebe. Der neoliberale Zeitgeist kommt ins Spiel: Wie bei der "Sozialneid"-Metapher eingeübt, wird die Beweislast einfach umgedreht. So als ob es um die gegenüber kommenden Generationen unverantwortbare Verschwendung von Ressourcen gehe, wird die Kulturpolitik insgesamt für überflüssig erklärt - und zwar im Namen der Kultur. Generationen von Wirtschaftskapitänen, denen beim Goethe-Institut einfach die ganze Richtung nicht paßte ("... nicht umsatzfördernd für die chemische Industrie ..."), konnten nur davon träumen, was die selbst ernannten Verfechter der Kunst heute vorschlagen: Die Kultur sei ein Sanierungsfall etc. - der Jargon der Renten- und Standortdebatte liefert das Vokabular. Könnte es sein, dass sich hier zwischen Kulturkritik und Neoliberalismus eine neue, kraftvolle Allianz anbahnt? Jedenfalls riecht das Ganze nach "Deutscher Ideologie", nach Endkampf und großem Aufräumen, dazu der seit der konservativen Revolution bekannte sound vom "Was fällt, soll man noch stoßen!"

Dagegen steht die auf den ersten Blick schwächlich wirkende Rede davon, dass Kulturpolitik, wenn sie vernünftig betrieben wird, nicht Subvention, sondern Investition bedeutet. Die Renditen einer generationenlangen Arbeit der Goethe-Institute sind beträchtlich. Auch von den Errungenschaften des Kulturkampfes der 68er
(bei allen Peinlichkeiten) zehren wir bis heute, was zumindest denen noch klar vor Augen steht, die ihre Kindheit in den 60er Jahren erlebt haben. Wer die öffentliche Verantwortung für Kultur in der notorischen Mischung aus Erregung und Zynismus abschaffen will, muss sich legitimieren. Kultur ist nicht erst im Zeitalter der Globalisierung "Höherer Jux" (Thomas Mann) geworden und eben darum gerade kein Fall für gelangweilte Sanierer, ihrerseits übrigens nicht selten aus gut gepolsterten Positionen des Betriebes rufend.

Der Artikel ist in der Festschrift zur gleichnamigen Ausstellung erschienen:

Murnau Manila Minsk
50 Jahre Goethe-Institut
Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums
und des
Goethe-Instituts Inter Nations e.V.
vom 5. Juli bis 25. September 2001

im Kronprinzenpalais
Unter den Linden 3
10117 Berlin-Mitte

erschienen im C.H. Beck Verlag
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter verkauf@dhm.de bestellt werden.
Preise: DM 25,- für Ausstellungsbesucher und DM 39,- im Buchhandel. ISBN 3 406 47542 6.