Carmen Scher

"ZŠiveli!- Auf das Leben!"
Impressionen zur Neugründung in Sarajevo

August '96, Anreise zur ersten Bedarfsanalyse

Die Anreise nach Sarajevo gestaltet sich äußerst schwierig. Der Flughafen bleibt den Militärs vorbehalten, Züge gibt es nicht, der Busverkehr ist noch nicht wieder intakt. Also Ankunft am Flughafen Split, Weiterfahrt mit Fahrer im PKW, quer durch Kroatien, über Mostar/Bosnien nach Sarajevo.
36 Grad im Schatten, überall Soldaten, Panzer, Gewehre, Stacheldraht. Der Fahrer, Muslim, wie sich dann herausstellt, hat Angst, einfach Angst, hält sich übergenau an alles, was andeutungsweise nach Fahrvorschrift aussehen könnte, bittet mich darum, meinen Dienstpass in die Windschutzscheibe zu legen.
Ja, er habe genau hier mitgekämpft vor ein paar Monaten, gegen die, die uns jetzt anhalten und später weiterwinken. Man wüsste nie so genau. Was, will ich wissen, was weiß man nie so genau? Na ja, man wüsste nie so genau.
Während der achtstündigen Fahrt sehe ich nur zerstörte Häuser; Gräber, Soldaten, Stacheldraht; immer wieder Stacheldraht. Ankunft in Sarajevo. Eingestürzte Hochhäuser, überall Sandsäcke, in jedem ›Vorgarten‹ Grabzeichen. Wenige Leute auf dem, was wohl mal eine Straße war. Keine Tiere. Fensterlöcher, kaum ein Dach auf einem Haus, kaum Sträucher, keine Bäume. Trotz der Hitze ist alles grau oder rußig-schwarz.
Unheimlich das Ganze, fremd.
Wir halten vor einem enormen Betonkasten, dessen Obergeschosse ausgebrannt sind; dies ist also das Hotel, das beste, klärt man mich auf. Das erste Bild in Sarajevo: eine Taube, die vor der Hoteltür ununterbrochen im Kreis läuft.
Durch die Hoteltür - Marmorböden, Teppiche, ein Wasserspiel, gedämpfte Musik, Kellner in Livree, Wiener Kaffeehausatmosphäre - bis auf die schwer bewaffneten Soldaten; mir läuft es kalt über den Rücken.

6. Oktober 1999, 22 Uhr, Fußgängerzone Sarajevo-Altstadt:

Wohin man sieht, Licht, Leuchtreklamen, Farben, Geschäfte vom Feinsten, perfekt restaurierte Gründerzeitfassaden und Hunderte junge Menschen, die schwatzend, gestikulierend durch die Straßen ziehen. Bunt alles, wirr, laut, lebendig; Maronen werden gebrannt, jemand ruft eine Zeitung aus, man sitzt im Mantel und trinkt Kaffee, von überallher Musik, bosnische, englische; Autohupen von den Nebenstraßen, die Tram bimmelt. Plötzlich gibt es wieder Hunde; an Leinen, streunende. - Und ich ertappe mich dabei, wie ich über Grünflächen auf Asphalt springe, um nicht auf Minen zu treten.

 

Die ersten 9 Wochen

Im Oktober 1999 arbeiten ca. 450 internationale (Hilfs-)Organisationen in einer Stadt, die etwa 350000 Einwohner zählt, das macht - statistisch gesehen - 777 Einwohner pro Organisation. Das Kapital, welches mit Hilfe besagter Organisationen umgesetzt wird, ist unschätzbar; es dürfte sich um mehrere Milliarden Dollar handeln.

Die 777 statistischen Bürger Sarajevos, die auf jede Organisation entfallen, haben binnen Tagesfrist das Goethe-Institut als Institution Nummer 451 entdeckt. In froher - und ach so falscher! - Hoffnung auf den 451. Teil eines Milliardenkapitals strömte man zu mir, wo immer man mich findet. Das war denkbar unproblematisch, da bereits Wochen vor meiner Anreise die Deutsche Botschaft Sarajevo, das Auswärtige Amt, Teile der Zentralverwaltung München und das GI-Zagreb, welches Sarajevo bis zu meiner Ankunft betreut hat, in allen Medien verkündet haben, dass es noch im Jahr 99 ein Goethe-Institut für Bosnien-Herzegovina geben wird. Eine Neugründung in Zeiten von Schließungen! Printmedien, Radio- und Fernsehstationen in Deutschland und in Bosnien-Herzegovina verkündeten die frohe Botschaft, fragten nach Konzeptionen, Projektvorhaben, Beginn der Sprachkurse, Kooperationsvorhaben, Buchbeständen, Lehrmittelspenden, Adressverteilern - und ich stehe da am 6. Oktober mit unausgepackten Koffern, meinem Handy, einem Zeitbuch unter dem Arm, in das als Guthaben für 99 der Betrag von DM 1000,- eingetragen ist, und lasse mir den gut gemeinten Tipp eines Kollegen aus München auf der Zunge zergehen: "Fahren Sie einfach erst 'mal hin, und machen Sie nicht so viel."

Sieben Tage nach meiner Ankunft eröffne ich die erste Ausstellung, "Goethes Farbenlehre", mit Einführungsrede eines Professors für Literaturwissenschaft, der Begrüßung durch den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, mit einem kleinen Büfett bei Anwesenheit von drei Fernsehgesellschaften und diversen Ministern. Bei der Gelegenheit stellen sich mir der gesammelte germanistische Lehrstuhl der Universität Sarajevo (mit schriftlichen Projektvorhaben!) vor, der Regisseur Manfred Weber (mit dem ich dann im Februar "Dantons Tod" inszeniere), Dzevad Karahasan (mit dem an diesem Abend ein Rundtisch über Büchner vereinbart wird), diverse bildende Künstler (deren Projektanträge abgeheftet sind) sowie Leiter von unterschiedlichen Institutionen (ebenfalls mit sehr genauen Visionen zur Kooperation mit dem GI).

Zwei Wochen später findet die erste DaF-Schulung bei mir zu Hause statt. Derweil habe ich eine halbe Dolmetscherstelle genehmigt bekommen, was den Aktionsradius der Gründungssituation enorm erweitert. Vier Wochen später finde ich mich als Mitorganisatorin einer Konferenz zum Thema "Reconstructing Cultural Productivity on the Balkan" mit 75 Teilnehmern aus 16 Ländern wieder, die erfreulicherweise in einem Hotel abgehalten wird.
Parallel dazu laufen wochenlange Verhandlungen mit der Leiterin der Stadtbibliothek zur (Wieder-)Aufnahme des maroden Lesesaalbetriebs, die Suche nach einer geeigneten Liegenschaft, zahlreiche Treffen mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik, Militär, Kultur und Bildung, Implementierung des Fernsehsprachkurses "Einblicke", Verhandlungen mit der Zentralverwaltung, (Recherche-) Reisen ins Land, Aufnahme der PV-Recherche durch eine Abordnung, Anträge schreiben, Projekte formulieren, sich um die rechtliche Situation kümmern, Programme für 2000 planen. Alles ganz normal. Nur: all das ohne Büro, ohne Personal, in einem verminten, dreigeteilten, postsozialistischen Nachkriegsland, in dem eher nichts als irgendetwas funktioniert, ohne Internet, ohne Fax, ohne Dienstwagen, mit meinem Golf Baujahr '84 in 1,60 Meter hohem Schnee und mit einem Laptop ohne Drucker.
Gestandene Goethe-Hasen klopfen mir bei meinem ersten ZV-Besuch Weihnachten '99 begeistert auf die Schulter, schütteln mir die Hand, strahlen mich an: "Das ist ja wie früher, wie früher! Das ist Pionierarbeit!" - und mir kommen ernsthafte Zweifel an meiner Kommunikationsfähigkeit.

Szenen

Januar bis April 2000 verlaufen erwartungsgemäß im gleichen Chaos: Stummfilmworkshop am letzten Januarwochenende; draußen minus 28 Grad, Glatteis, die Straßen werden nicht geräumt, weil die Arbeiter seit Monaten kein Geld erhalten haben. Das von der Musikakademie gelieferte Klavier zur Live-Begleitung entpuppt sich trotz verzweifelter Bemühungen des Stimmers als Ruine, die Heizung des Kinosaals ist defekt, meine Referentin zum Einführungsvortrag aus Berlin hat sich das Bein gebrochen, und den übersetzten Zwischentiteln der Filme fehlen sämtliche Sonderzeichen; dies alles 18 Stunden vor Beginn des Programms.
Mein Dolmetscher und der Pianist schleppen dann in der Nacht nach der erfolglosen Suche nach einem Ersatzklavier den privaten Syntheziser des Pianisten zu Fuß quer durch die Stadt ins Kinozentrum, da bei dem Glatteis kein Leihwagen aufzutreiben ist; die Leiterin des Kinozentrums setzt - ebenfalls in der Nacht - die Sonderzeichen per Hand ein; der gerade gefundene Ersatzreferent aus Berlin ruft mich an, um mir mitzuteilen, dass er zwar schon im Flugzeug über Sarajevo kreiste, jetzt aber wieder in Berlin sei, da der Pilot wegen Nebels nicht landen durfte, und er seinen Vortrag dann doch nicht halten könne. Und ich finde mich in besagter Nacht wieder, wie ich einen Vortrag ausarbeite zum Thema "Viragiertechniken des frühen deutschen Stummfilms". Noch Wochen später rufen Leute an, die sich für den Workshop und die Filmvorführungen bedanken. "So etwas haben wir hier noch nie bekommen", der Standardsatz.
Über die unbedeutenden Schwierigkeiten, die sich mit dem Abschluss eines Mietvertrages für ein Gründungsbüro auftun können, soll an dieser Stelle beredtes Stillschweigen bewahrt werden. Bundesdeutsche Vorschriften, Schlagwörter wie ›Dienst nach Vorschrift‹, der Begriff ›Vertrag‹ - fremde Lebenswelten, sehr fremd.

Banalitäten wie Grundrisszeichnungen werden zur Herausforderung: "Grundriss? Gibt es nicht mehr, ist im Krieg verbrannt." Meist kriechen mein Dolmetscher und ich mit Maßband und aus Deutschland mitgebrachtem Millimeterpapier zum Befremden der Hauseigentümer auf allen Vieren durch potenzielle Räumlichkeiten und zeichnen sie selber. "Ja, das war früher auch hier so. - Aber jetzt? Wir brauchen das nicht." Spricht's, zieht die Jacke aus und misst mit.
IfA-Ausstellung "Kunstfotografie". In privat geliehenen Autos transportieren wir - eine halbe Dolmetscherstelle, eine halbe Verwaltungsstelle, eine halbe Sekretariatsstelle inzwischen - vier tonnenschwere Container vom Zoll zur Galerie.

65 gerahmte Exponate, die gehängt werden müssen. Ein sturzbetrunkener ›künstlerischer Mitarbeiter‹ versichert schwankend, er habe alles im Griff. Der Leiter der Galerie zieht sich dezent zurück. Meine Versuche, die Bildergruppen zu erläutern, enden damit, dass mein Team und ich selber beginnen, die Exponate zu hängen. Nach dem ersten Raum ist die Seide verbraucht. Hämmern und ein penetranter Alkoholgeruch dringen aus dem Nebenraum. "Seide brauchen wir nicht, wir haben doch Nägel!" - In sehr ruhigem Ton sage ich meinem Dolmetscher, er möge dem Leiter mitteilen, dass diese Ausstellung entfällt. 24 Stunden später sind die Nägel gezogen, die Wände frisch gestrichen, die Fotografien hängen exakt so, wie sie hängen sollen.
Die Eröffnungsveranstaltung ist so voll, dass Interessierte draußen vor der Tür bleiben müssen. Leute aller Altersstufen und Berufsgruppen stehen in Gruppen vor den Exponaten und diskutieren. Keiner fragt nach ›ethnischer Zugehörigkeit‹; ein Künstler aus Mostar-West kommt auf mich zu, stellt mir seinen Kollegen aus Mostar-Ost mit den Worten vor, sie haben sich seit fünf Jahren hier zum ersten Mal wiedergesehen. In Mostar geht das ja nicht, aber jetzt könne man doch zusammen mal ...

Kultur- und Spracharbeit zwischen Traum und Trauma

Bosnien-Herzegovina, eine Schnittmenge aus Orient und Okzident. Ein besetztes Nachkriegsland im Wiederaufbau mitten in Europa. Das europäische Land mit den meisten Pro-Kopf-Ministern.
Die Flüchtlingsrückkehr hält ebenso an wie die Suche nach Vermissten und Massengräbern. Ca. 25.000 Soldaten aus über 30 Ländern gehören zum Alltagsszenario wie die zerstörten Häuser. Kriegsverbrecher werden gesucht, gefunden, nicht gefunden. Minen werden geräumt, Minenfelder markiert, nicht geräumt, Minenaufklärung wird betrieben. Nach wenigen Wochen sieht man das nicht mehr; man trägt es in sich. So ähnlich stelle ich mir Deutschland 1950 vor. Zum ersten Mal verstehe ich den Schock der ›Gruppe 47‹, als Alfred Döblin in französischer Uniform zur Türe hereinkam und die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Täter und Opfer, verschwammen.

Kein Partner aus dem bosnisch-herzegovinischen Kultur- oder Sprachbereich, kein Mitarbeiter, keine Mitarbeiterin, kein Mensch aus diesem Land, in dessen Familie es keine Toten gegeben hätte. Was das bedeutet, beginne ich erst etwa acht Monate nach meiner Ankunft wirklich zu verstehen. Die Menschen sind traumatisiert. Der Heilungsprozess wird noch lange dauern, umso länger, als dieses Land von der Außenwelt vorrangig mit ›Krieg‹ assoziiert wird.
Szene in Halifax, Kanada, Fortbildung Fernsehfachkonferenz Mai 2000, 1000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 50 Ländern. Ein bosnisch-herzegovinischer Regisseur zeigt wie alle anderen seinen Dokumentarfilm: 19 Minuten Dorfalltag,

50 Kilometer von Sarajevo entfernt in den Bergen. Die Diskussion im Anschluss an den Film berührt mit keinem Wort die Dokumentation. Es geht nur um eines: Was hat das Dorf mit dem Krieg zu tun gehabt? Wie hat sich der Krieg ausgewirkt auf ...? Hat es Tote im Dorf ...? Verlief die Frontlinie nicht ...? Der Regisseur hatte als Künstler keine Chance.
Man läuft de facto über Tote, das Trauma sitzt tief. Aber man arbeitet mit Menschen, die von einem ganz normalen Alltag träumen und nicht nur Überlebende, sondern Regisseure, Schriftsteller, Bibliothekare sind. Jugendliche, die mir erzählen, dass ihnen völlig egal ist, ob das Gegenüber serbisch, muslimisch, katholisch ist, Hauptsache, DJ Hell ist gut; wer zusammen tanzt, redet auch miteinander; sie wollen einfach so sein dürfen wie andere Jugendliche in Europa sind. Deutschlehrer, die schrecklich gerne einfach ein Deutschbuch in der Hand hätten, um zu unterrichten, egal, woher das kommt.
Wie oft ich in den letzten 14 Monaten gedacht habe, dass es mir reicht, dass doch alle zusehen sollen, wie sie mit sich und ihrem Land zurechtkommen, dass sie ihre eigenen Verhältnisse klären sollen, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es diese Anzahl plus 1 war, wie oft ich gewusst habe, warum hier, gerade hier und nirgendwo anders, ein Goethe-Institut entstehen soll: weil mir die Partner vor Ort signalisiert haben, dass qualitativ hochwertige, themengebundene Kultur- und Spracharbeit eine Plattform darstellt, auf der man sich unter neuen Vorzeichen treffen kann, auf der man sich äußern kann, ohne sich entblößen zu müssen, von der ausgehend der Blick nach vorne gerichtet werden kann.

Wenn mir der Dekan der Schauspielakademie, gleichzeitig der ›Robespierre‹ aus Manfred Webers Inszenierung "Dantons Tod", derjenige, der jahrelang unter Beschuss täglich eine Vorstellung gegeben hat, wenn dieser Dekan mir sagt, mit der vom Goethe-Institut ermöglichten 3 Stunden 18 Minuten langen Inszenierung mit anschließendem Liftmonolog Heiner Müllers will er seinen bosnisch-herzegovinischen Leuten etwas sagen; diese Inszenierung habe ihm den Glauben an Theater zurückgegeben; wenn er mit dem gesamten Ensemble zwei Monate ohne Gage, unter abenteuerlichen Umständen probt - dann erübrigt sich alles Fragen nach dem Sinn von internationaler Kulturarbeit. Und wenn es gelingt, Verleger aus Zagreb, Belgrad, Sarajevo und Banja Luka (Hauptstadt der Republika Srbska) zu einer Konferenz und Fortbildung an einen Tisch zu bringen, diese sich auf gemeinsame Publikationen und ein erstes gemeinsames (Übersetzungs-)Projekt einigen, dann ist Kulturarbeit direkte Stabilisierungspolitik.

Wenn anlässlich der Buchausstellung auf der Frankfurter Buchmesse "Ohne Angst verschieden sein - Religion und Glaube in einer pluralen Welt" erstmalig Deutschlehrer, Studenten und Schüler aus dem katholischen Mostar-West ins muslimische Sarajevo kommen - und praktisch ›Feindesland‹ betreten -, weil es um die Bücher, die Sache geht, dann ist Kultur- und Informationsarbeit die erste vertrauensbildende Maßnahme auf dem Weg zu einer pluralistischen und toleranten Gesellschaft.

Also bleibt man doch. Man versteht das Misstrauen der Einheimischen, die wirklich spezielle Situation. Man hört zu, verhandelt, geht, kommt zurück. Man wächst ein, wird ein Teil der Infrastruktur vor Ort. Man begreift die Empfindlichkeiten, lernt, dass das Etikett ›partnerschaftlich-dialogisches Prinzip‹ hier nicht heißen kann: Wer mit dem Goethe-Institut arbeiten möchte, komme in die Hauptstadt. Um sich politisch und menschlich korrekt zu verhalten, muss man beide Entitäten, die serbische und die föderale, sowie alle drei jeweils muslimisch, katholisch oder orthodox dominierten Regionen berücksichtigen. Dieses Land- das sind drei Länder in einem und das heißt: vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, parallel Angebote für zentrale Veranstaltungen aufbauen.

Derweil, wir schreiben April 2000, gibt es ein Büro; frisch renovierte 60 qm. Im Mai werden ein Schrank, eine Aktenablage, ein Arbeitstisch mit Rundansatz und vier Stühle geliefert. Zwar gibt es dazu keine Montageanleitung, und die Kupplung, die theoretisch Tisch mit Rundansatz verbinden sollte, fehlt auch, aber immerhin. Meine eineinhalb Ortskräfte und ich, wir freuen uns und borgen vom Direktor weitere zwei Tische. Mein privates Fax wandert ins Büro, mein Ersatztelefon auch, ebenso mein Drucker. So hält Luxus Einzug.

Einen Monat später treffen die Kupplung, zwei Computer, zwei Drucker, ein richtiges Faxgerät (mit Einzelblatteinzug!), ein Kopierer und der Tresor sowie das heiß ersehnte Büromaterial ein. Im August erhalten wir weitere zwei Arbeitsplätze, einen weiteren Schrank. Im September verfügen wir über einen Dienstwagen. Am Tag der Eröffnung, am 17. November, werden neun Regale und ein Garderobenständer für das Gründungsbüro
am Zoll gemeldet.
Im Mai bekommt Sarajevo eine ganze Stelle Dienstliches Hauspersonal (DHP), Fahrer, Hausmeister, Security, Mädchen für alles; im August eine weitere Ein-Fünftel-Stelle Reinigungskraft.
Es gründet sich.

Gründungsvorbereitungen

Ein Programm wird zusammengestellt. Nicht nur Reden, da hört kaum jemand hin. Wenn die Adresse, die Telefonnummern, die E-Mail-Anschrift des neuen Gründungsbüros nun verkündet werden sollen, dann muss es auch in einem adäquaten Rahmen geschehen; darauf haben die Partner auch lange genug gewartet.
Im Vorfeld reist Heinz-Josef Kaspar durch das Land, liest Goethe-Gedichte, die die Biografie unseres Namensgebers spiegeln, macht auf die nahende Eröffnung in Sarajevo aufmerksam. Das erste Wortprogramm im katholischen West-Mostar und im orthodoxen Banja Luka; dort begleitet von der Plakatausstellung "Goethes Farbenlehre" und der Ankündigung der baldigen Eröffnung eines zweiten Lesesaals. Parallel zu den Eröffnungsvorbereitungen und dem laufenden Tagesgeschäft kreiert das Büro, das inzwischen aus der Verwaltungskraft Amila Z., dem Dienstlichen Hauspersonal SumedinP., der Praktikantin Nina Kapaun, der PV-Abordnung Udo Steves und mir besteht, eine Broschüre zum Gründungsbüro in Form eines Zauberwürfels, dessen blaue Kreise sich immer wieder schließen, wie auch immer man die Seiten klappt.

Die Buchausstellung auf der Frankfurter Buchmesse ist mit 1200 Exponaten unterwegs; die Westfälischen Saxofoniker, 11 Saxofonisten und ein Paukist, bestellt; die Kinderbuchillustratorin Christiane Pieper unter Vertrag. Ca. 1100 Deutschlehrer, -dozenten, -studenten und -schüler aus dem gesamten Land werden organisatorisch in das PV-Programm integriert, das wir mit der Buchausstellung verbunden haben. Die Organisation der Verlegerkonferenz nimmt Formen an. Das Büfett ist abgesprochen, die Nationalgalerie, in der das Spektakel stattfinden wird, bestuhlt, Simultandolmetscheranlage sowie Technik gefunden. Die 150 Einladungen hat Nina per Fax verschickt - eine Arbeit von zwei Wochen in einem Land, in dem es keine automatischen Faxgeräte gibt.

17. November 2000, 17 Uhr

Es ist brechend voll. Alle sind gekommen, die Künstler, die Partner, die Politiker, die Militärs, die Dozenten; sogar die Vertreter der Religionsgemeinschaften. Der Patriarch bleibt zwar nur kurz - aber er war da. Allein für diese Anerkennung haben sich die Mühen gelohnt. Ich haste von einer Begrüßung zum nächsten Interview und wieder zurück; komme erst zur Ruhe, als der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Herr Peters, seine Rede beginnt. Eigentlich höre ich kaum etwas. Ich schaue in die Runde, wohin ich sehe, strahlen mich Menschen an, nicken mir zu. Hinter mir sitzt das Gründungsteam - und wir sind stolz auf uns wie die Schneekönige. In den vergangenen zehn Monaten haben wir 53 Kulturveranstaltungen durchgeführt, drei Tonnen Lehrmaterial im ganzen Land verteilt, 24 PV-Seminare veranstaltet, ein Büro aufgebaut, das Goethe-Institut als Partner im Land bekannt gemacht.

In meinem Kopf fliegen Szenen der letzten Tage, Monate: Der Paukist, ein Nigerianer, hatte vergessen, ein Visum zu beantragen; mit viel Redekunst und guten Beziehungen ist es Sumedin gelungen, ihn ins Land zu bekommen. Die Broschüre, vor drei Stunden aus dem Druck gekommen, haben wir nur deshalb in der Hand, weil Amila eine Nacht damit verbracht hat, eine Druckerei ausfindig zu machen, die dieses komplizierte Format drucken kann. Ich sehe Herrn Steves und Nina in nächtlichen Sitzungen Pläne entwerfen, wie die 1100 DaF-Interessierten in den nächsten Tagen logistisch in Sarajevo versorgt werden können. Ich bin wieder im SFOR-Lazarett Rajlovac wie drei Tage zuvor, liege neben dem Hubschrauberlandeplatz und höre mich über Handy gegen den Krach ein Telefoninterview mit der Deutschen Welle geben. Ein Bild jagt das andere, es hört nicht auf.
Morgen werden wir einen ›Tag der offenen Tür‹ im Gründungsbüro veranstalten, für alle, die heute nicht geladen waren. Es wird weitergehen. Herr Braess, stellvertretender Generalsekretär des Goethe-Instituts, spricht mir mit dem Goethe-Zitat am Schluss seiner Rede aus der Seele: "Lass', o lass mich nicht ermatten./Nein, es sind nicht leere Träume./Jetzt nur Stangen diese Bäume/geben einst noch Frucht und Schatten."
Wir sind da. Bosnien-Herzegovina hat ein Gründungsbüro. Die Gläser klirren, und einstimmig erklingt das Echo auf meinen Trinkspruch: "ZŠiveli!- Auf das Leben!"

Der Artikel ist in der Festschrift zur gleichnamigen Ausstellung erschienen:

Murnau Manila Minsk
50 Jahre Goethe-Institut
Eine Ausstellung des
Deutschen Historischen Museums
und des
Goethe-Instituts Inter Nations e.V.
vom 5. Juli bis 25. September 2001

im Kronprinzenpalais
Unter den Linden 3
10117 Berlin-Mitte

erschienen im C.H. Beck Verlag
Der Katalog ist über den Museumsladen des Deutschen Historischen Museums zu beziehen und kann per email unter verkauf@dhm.de bestellt werden.
Preise: DM 25,- für Ausstellungsbesucher und DM 39,- im Buchhandel. ISBN 3 406 47542 6.