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Carmen Scher "Ziveli!-
Auf das Leben!" August '96, Anreise zur ersten Bedarfsanalyse Die Anreise nach Sarajevo gestaltet sich äußerst
schwierig. Der Flughafen bleibt den Militärs vorbehalten, Züge
gibt es nicht, der Busverkehr ist noch nicht wieder intakt. Also Ankunft
am Flughafen Split, Weiterfahrt mit Fahrer im PKW, quer durch Kroatien,
über Mostar/Bosnien nach Sarajevo. 6. Oktober 1999, 22 Uhr, Fußgängerzone Sarajevo-Altstadt: Wohin man sieht, Licht, Leuchtreklamen, Farben,
Geschäfte vom Feinsten, perfekt restaurierte Gründerzeitfassaden
und Hunderte junge Menschen, die schwatzend, gestikulierend durch die
Straßen ziehen. Bunt alles, wirr, laut, lebendig; Maronen werden
gebrannt, jemand ruft eine Zeitung aus, man sitzt im Mantel und trinkt
Kaffee, von überallher Musik, bosnische, englische; Autohupen von
den Nebenstraßen, die Tram bimmelt. Plötzlich gibt es wieder
Hunde; an Leinen, streunende. - Und ich ertappe mich dabei, wie ich über
Grünflächen auf Asphalt springe, um nicht auf Minen zu treten. |
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Die ersten 9 Wochen Im Oktober 1999 arbeiten ca. 450 internationale (Hilfs-)Organisationen
in einer Stadt, die etwa 350000 Einwohner zählt, das macht - statistisch
gesehen - 777 Einwohner pro Organisation. Das Kapital, welches mit Hilfe
besagter Organisationen umgesetzt wird, ist unschätzbar; es dürfte
sich um mehrere Milliarden Dollar handeln. Die 777 statistischen Bürger Sarajevos, die auf
jede Organisation entfallen, haben binnen Tagesfrist das Goethe-Institut
als Institution Nummer 451 entdeckt. In froher - und ach so falscher!
- Hoffnung auf den 451. Teil eines Milliardenkapitals strömte man
zu mir, wo immer man mich findet. Das war denkbar unproblematisch, da
bereits Wochen vor meiner Anreise die Deutsche Botschaft Sarajevo, das
Auswärtige Amt, Teile der Zentralverwaltung München und das
GI-Zagreb, welches Sarajevo bis zu meiner Ankunft betreut hat, in allen
Medien verkündet haben, dass es noch im Jahr 99 ein Goethe-Institut
für Bosnien-Herzegovina geben wird. Eine Neugründung in Zeiten
von Schließungen! Printmedien, Radio- und Fernsehstationen in Deutschland
und in Bosnien-Herzegovina verkündeten die frohe Botschaft, fragten
nach Konzeptionen, Projektvorhaben, Beginn der Sprachkurse, Kooperationsvorhaben,
Buchbeständen, Lehrmittelspenden, Adressverteilern - und ich stehe
da am 6. Oktober mit unausgepackten Koffern, meinem Handy, einem Zeitbuch
unter dem Arm, in das als Guthaben für 99 der Betrag von DM 1000,-
eingetragen ist, und lasse mir den gut gemeinten Tipp eines Kollegen aus
München auf der Zunge zergehen: "Fahren Sie einfach erst 'mal
hin, und machen Sie nicht so viel." Sieben Tage nach meiner Ankunft eröffne ich die
erste Ausstellung, "Goethes Farbenlehre", mit Einführungsrede
eines Professors für Literaturwissenschaft, der Begrüßung
durch den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, mit einem kleinen
Büfett bei Anwesenheit von drei Fernsehgesellschaften und diversen
Ministern. Bei der Gelegenheit stellen sich mir der gesammelte germanistische
Lehrstuhl der Universität Sarajevo (mit schriftlichen Projektvorhaben!)
vor, der Regisseur Manfred Weber (mit dem ich dann im Februar "Dantons
Tod" inszeniere), Dzevad Karahasan (mit dem an diesem Abend ein Rundtisch
über Büchner vereinbart wird), diverse bildende Künstler
(deren Projektanträge abgeheftet sind) sowie Leiter von unterschiedlichen
Institutionen (ebenfalls mit sehr genauen Visionen zur Kooperation mit
dem GI). Zwei Wochen später findet die erste DaF-Schulung
bei mir zu Hause statt. Derweil habe ich eine halbe Dolmetscherstelle
genehmigt bekommen, was den Aktionsradius der Gründungssituation
enorm erweitert. Vier Wochen später finde ich mich als Mitorganisatorin
einer Konferenz zum Thema "Reconstructing Cultural Productivity on
the Balkan" mit 75 Teilnehmern aus 16 Ländern wieder, die erfreulicherweise
in einem Hotel abgehalten wird. Szenen Januar bis April 2000 verlaufen erwartungsgemäß
im gleichen Chaos: Stummfilmworkshop am letzten Januarwochenende; draußen
minus 28 Grad, Glatteis, die Straßen werden nicht geräumt,
weil die Arbeiter seit Monaten kein Geld erhalten haben. Das von der Musikakademie
gelieferte Klavier zur Live-Begleitung entpuppt sich trotz verzweifelter
Bemühungen des Stimmers als Ruine, die Heizung des Kinosaals ist
defekt, meine Referentin zum Einführungsvortrag aus Berlin hat sich
das Bein gebrochen, und den übersetzten Zwischentiteln der Filme
fehlen sämtliche Sonderzeichen; dies alles 18 Stunden vor Beginn
des Programms. Banalitäten wie Grundrisszeichnungen werden zur
Herausforderung: "Grundriss? Gibt es nicht mehr, ist im Krieg verbrannt."
Meist kriechen mein Dolmetscher und ich mit Maßband und aus Deutschland
mitgebrachtem Millimeterpapier zum Befremden der Hauseigentümer auf
allen Vieren durch potenzielle Räumlichkeiten und zeichnen sie selber.
"Ja, das war früher auch hier so. - Aber jetzt? Wir brauchen
das nicht." Spricht's, zieht die Jacke aus und misst mit. 65 gerahmte Exponate, die gehängt werden müssen.
Ein sturzbetrunkener künstlerischer Mitarbeiter versichert
schwankend, er habe alles im Griff. Der Leiter der Galerie zieht sich
dezent zurück. Meine Versuche, die Bildergruppen zu erläutern,
enden damit, dass mein Team und ich selber beginnen, die Exponate zu hängen.
Nach dem ersten Raum ist die Seide verbraucht. Hämmern und ein penetranter
Alkoholgeruch dringen aus dem Nebenraum. "Seide brauchen wir nicht,
wir haben doch Nägel!" - In sehr ruhigem Ton sage ich meinem
Dolmetscher, er möge dem Leiter mitteilen, dass diese Ausstellung
entfällt. 24 Stunden später sind die Nägel gezogen, die
Wände frisch gestrichen, die Fotografien hängen exakt so, wie
sie hängen sollen. Kultur- und Spracharbeit zwischen Traum und Trauma Bosnien-Herzegovina, eine Schnittmenge aus Orient und
Okzident. Ein besetztes Nachkriegsland im Wiederaufbau mitten in Europa.
Das europäische Land mit den meisten Pro-Kopf-Ministern. Kein Partner aus dem bosnisch-herzegovinischen Kultur-
oder Sprachbereich, kein Mitarbeiter, keine Mitarbeiterin, kein Mensch
aus diesem Land, in dessen Familie es keine Toten gegeben hätte.
Was das bedeutet, beginne ich erst etwa acht Monate nach meiner Ankunft
wirklich zu verstehen. Die Menschen sind traumatisiert. Der Heilungsprozess
wird noch lange dauern, umso länger, als dieses Land von der Außenwelt
vorrangig mit Krieg assoziiert wird. 50 Kilometer von Sarajevo entfernt in den Bergen. Die
Diskussion im Anschluss an den Film berührt mit keinem Wort die Dokumentation.
Es geht nur um eines: Was hat das Dorf mit dem Krieg zu tun gehabt? Wie
hat sich der Krieg ausgewirkt auf ...? Hat es Tote im Dorf ...? Verlief
die Frontlinie nicht ...? Der Regisseur hatte als Künstler keine
Chance. Wenn mir der Dekan der Schauspielakademie, gleichzeitig
der Robespierre aus Manfred Webers Inszenierung "Dantons
Tod", derjenige, der jahrelang unter Beschuss täglich eine Vorstellung
gegeben hat, wenn dieser Dekan mir sagt, mit der vom Goethe-Institut ermöglichten
3 Stunden 18 Minuten langen Inszenierung mit anschließendem Liftmonolog
Heiner Müllers will er seinen bosnisch-herzegovinischen Leuten etwas
sagen; diese Inszenierung habe ihm den Glauben an Theater zurückgegeben;
wenn er mit dem gesamten Ensemble zwei Monate ohne Gage, unter abenteuerlichen
Umständen probt - dann erübrigt sich alles Fragen nach dem Sinn
von internationaler Kulturarbeit. Und wenn es gelingt, Verleger aus Zagreb,
Belgrad, Sarajevo und Banja Luka (Hauptstadt der Republika Srbska) zu
einer Konferenz und Fortbildung an einen Tisch zu bringen, diese sich
auf gemeinsame Publikationen und ein erstes gemeinsames (Übersetzungs-)Projekt
einigen, dann ist Kulturarbeit direkte Stabilisierungspolitik. Wenn anlässlich der Buchausstellung auf der Frankfurter
Buchmesse "Ohne Angst verschieden sein - Religion und Glaube in einer
pluralen Welt" erstmalig Deutschlehrer, Studenten und Schüler
aus dem katholischen Mostar-West ins muslimische Sarajevo kommen - und
praktisch Feindesland betreten -, weil es um die Bücher,
die Sache geht, dann ist Kultur- und Informationsarbeit die erste vertrauensbildende
Maßnahme auf dem Weg zu einer pluralistischen und toleranten Gesellschaft. Also bleibt man doch. Man versteht das Misstrauen der
Einheimischen, die wirklich spezielle Situation. Man hört zu, verhandelt,
geht, kommt zurück. Man wächst ein, wird ein Teil der Infrastruktur
vor Ort. Man begreift die Empfindlichkeiten, lernt, dass das Etikett partnerschaftlich-dialogisches
Prinzip hier nicht heißen kann: Wer mit dem Goethe-Institut
arbeiten möchte, komme in die Hauptstadt. Um sich politisch und menschlich
korrekt zu verhalten, muss man beide Entitäten, die serbische und
die föderale, sowie alle drei jeweils muslimisch, katholisch oder
orthodox dominierten Regionen berücksichtigen. Dieses Land- das sind
drei Länder in einem und das heißt: vertrauensbildende Maßnahmen
durchführen, parallel Angebote für zentrale Veranstaltungen
aufbauen. Derweil, wir schreiben April 2000, gibt es ein Büro;
frisch renovierte 60 qm. Im Mai werden ein Schrank, eine Aktenablage,
ein Arbeitstisch mit Rundansatz und vier Stühle geliefert. Zwar gibt
es dazu keine Montageanleitung, und die Kupplung, die theoretisch Tisch
mit Rundansatz verbinden sollte, fehlt auch, aber immerhin. Meine eineinhalb
Ortskräfte und ich, wir freuen uns und borgen vom Direktor weitere
zwei Tische. Mein privates Fax wandert ins Büro, mein Ersatztelefon
auch, ebenso mein Drucker. So hält Luxus Einzug. Einen Monat später treffen die Kupplung, zwei Computer,
zwei Drucker, ein richtiges Faxgerät (mit Einzelblatteinzug!), ein
Kopierer und der Tresor sowie das heiß ersehnte Büromaterial
ein. Im August erhalten wir weitere zwei Arbeitsplätze, einen weiteren
Schrank. Im September verfügen wir über einen Dienstwagen. Am
Tag der Eröffnung, am 17. November, werden neun Regale und ein Garderobenständer
für das Gründungsbüro Gründungsvorbereitungen Ein Programm wird zusammengestellt. Nicht nur Reden,
da hört kaum jemand hin. Wenn die Adresse, die Telefonnummern, die
E-Mail-Anschrift des neuen Gründungsbüros nun verkündet
werden sollen, dann muss es auch in einem adäquaten Rahmen geschehen;
darauf haben die Partner auch lange genug gewartet. Die Buchausstellung auf der Frankfurter Buchmesse ist mit 1200 Exponaten unterwegs; die Westfälischen Saxofoniker, 11 Saxofonisten und ein Paukist, bestellt; die Kinderbuchillustratorin Christiane Pieper unter Vertrag. Ca. 1100 Deutschlehrer, -dozenten, -studenten und -schüler aus dem gesamten Land werden organisatorisch in das PV-Programm integriert, das wir mit der Buchausstellung verbunden haben. Die Organisation der Verlegerkonferenz nimmt Formen an. Das Büfett ist abgesprochen, die Nationalgalerie, in der das Spektakel stattfinden wird, bestuhlt, Simultandolmetscheranlage sowie Technik gefunden. Die 150 Einladungen hat Nina per Fax verschickt - eine Arbeit von zwei Wochen in einem Land, in dem es keine automatischen Faxgeräte gibt. 17. November 2000, 17 Uhr Es ist brechend voll. Alle sind gekommen, die Künstler,
die Partner, die Politiker, die Militärs, die Dozenten; sogar die
Vertreter der Religionsgemeinschaften. Der Patriarch bleibt zwar nur kurz
- aber er war da. Allein für diese Anerkennung haben sich die Mühen
gelohnt. Ich haste von einer Begrüßung zum nächsten Interview
und wieder zurück; komme erst zur Ruhe, als der Botschafter der Bundesrepublik
Deutschland, Herr Peters, seine Rede beginnt. Eigentlich höre ich
kaum etwas. Ich schaue in die Runde, wohin ich sehe, strahlen mich Menschen
an, nicken mir zu. Hinter mir sitzt das Gründungsteam - und wir sind
stolz auf uns wie die Schneekönige. In den vergangenen zehn Monaten
haben wir 53 Kulturveranstaltungen durchgeführt, drei Tonnen Lehrmaterial
im ganzen Land verteilt, 24 PV-Seminare veranstaltet, ein Büro aufgebaut,
das Goethe-Institut als Partner im Land bekannt gemacht. In meinem Kopf fliegen Szenen der letzten Tage,
Monate: Der Paukist, ein Nigerianer, hatte vergessen, ein Visum zu beantragen;
mit viel Redekunst und guten Beziehungen ist es Sumedin gelungen, ihn
ins Land zu bekommen. Die Broschüre, vor drei Stunden aus dem Druck
gekommen, haben wir nur deshalb in der Hand, weil Amila eine Nacht damit
verbracht hat, eine Druckerei ausfindig zu machen, die dieses komplizierte
Format drucken kann. Ich sehe Herrn Steves und Nina in nächtlichen
Sitzungen Pläne entwerfen, wie die 1100 DaF-Interessierten in den
nächsten Tagen logistisch in Sarajevo versorgt werden können.
Ich bin wieder im SFOR-Lazarett Rajlovac wie drei Tage zuvor, liege neben
dem Hubschrauberlandeplatz und höre mich über Handy gegen den
Krach ein Telefoninterview mit der Deutschen Welle geben. Ein Bild jagt
das andere, es hört nicht auf. Der Artikel ist in der Festschrift zur gleichnamigen Ausstellung erschienen: im
Kronprinzenpalais erschienen im C.H.
Beck Verlag
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