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Yoko Tawada Unterwegs
in neue kulturelle Räume. Meine erste Berührung mit dem amerikanischen Kontinent
verdanke ich dem Goethe-Institut. 1995 wurde ich nach New York eingeladen.
Das Goethe-Haus in New York organisierte zusammen mit dem Nuyorican Poets
Café verschiedene Lesungen. Meine Bekannten in Japan fanden es damals befremdlich,
dass ich an einem deutschen Institut in Amerika las, das amerikanische
Publikum dagegen wunderte sich nicht darüber, dass eine deutschsprachige
Autorin japanisch aussah. Es waren lebendige Veranstaltungen mit bunt gemischten
Zuhörern. Ein Teil der Zuhörerschaft reagierte auf Gedichte
wie auf die Lieder bei einem Salsa-Konzert. Andere saßen still und
seriös wie in einem Gottesdienst. Keiner von ihnen schien von den
andersartigen Verhaltensweisen gestört zu sein. Ein Jahr später wurde ich mit drei Dichterinnen
aus Deutschland zusammen nach Chicago eingeladen. Unser Thema lautete
"Lyrik und Identität". Während die deutsche Seite
dieses Thema nicht ethnisch verstand, stellte die amerikanische Seite
eine perfekte Palette der sozialen Identitäten zusammen: Die amerikanische
Truppe bestand aus einer Afro-Amerikanerin, einer chinesischen Amerikanerin,
einer Indianerin und einer angelsächsischen Lesbe. Diese Vielfalt
machte unsere Diskussionen interessant. Als ich von dieser wunderbaren Reise wieder nach Hamburg
zurückkam, rief mich ein deutscher Rundfunkredakteur an und fragte,
ob ich an einer Veranstaltung zum Thema "Literatur der Ausländer"
teilnehmen wollte. Meine gute Laune, die ich aus Amerika mitgebracht hatte,
stürzte ab. 1999 verbrachte ich vier Monate in Boston beim
MIT als writer in residence. Mein Blick auf die Vielfalt der
amerikanischen Kulturen wurde in dieser Zeit differenzierter und etwas
kritischer. Ich dachte sogar manchmal, dass es vielleicht doch besser
wäre, in Deutschland als Ausländerin zu gelten, als in Amerika
zu einer Minderheit zu gehören. Denn im Konzept der ethnischen Gruppierungen
wird oft vergessen, dass jede Kultur eine Mischung zwischen einem Fremden
und einem andersartig Fremden ist. Ich freute mich deshalb besonders darüber,
dass ich im MIT sowie am Goethe-Institut in Boston als deutschsprachige
Autorin auftreten durfte. |
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Ich war schon 22 Jahre alt, als ich nach Deutschland
kam. Ich hatte zwar Deutsch und andere Fremdsprachen in der Schule gelernt,
aber nicht wie Nabokov, sondern wie eine durchschnittliche Japanerin.
Das heißt, die deutsche Sprache hat für mich nie aufgehört,
fremd zu sein, und gerade diese Fremdheit habe ich thematisiert, um dahin
zu kommen, die Fremdheit der Muttersprache und die der Sprache überhaupt
als einen Ausgangspunkt für die Poesie zu entdecken. Einmal sagte mir eine Frau aus Chicago, dass ich bei
Lesungen an Goethe-Instituten aufpassen müsse, weil im Publikum manchmal
konservative deutschstämmige Menschen säßen, die dort
ausschließlich die deutschen Künstler sehen wollten
und keinen "Migrantenkram". In Wirklichkeit habe ich bis jetzt
kein unangenehmes Publikum bei Lesungen erlebt. Die Vorstellung der reinen Nationalliteratur war mir
schon aus der japanischen Geschichte bekannt. Die Literatur wurde auch
in vielen anderen Ländern als Instrument zur Identitätsbildung
der Nation benutzt. Die Literatur ist aber an und für sich etwas
Hybrides. Die Geschichte der deutschen Literatur ist nicht schlechter
als gutes Beispiel dafür geeignet als die Geschichte der Literatur
anderer Länder. Als ich unlängst den Begriff der "Leitkultur"
hörte, musste ich an das Indianer-Museum in Connecticut denken. Am
Eingang hing ein großes schönes Foto eines Indianerstamms.
Viele der darauf Abgebildeten waren blond, andere sahen eher afrikanisch,
indisch oder ostasiatisch aus; mit einem Wort: Man fand alle möglichen
Gesichter in dieser Gruppe, die man als "tribe" bezeichnet.
Mir wurde klar, dass ein lndianerstamm heutzutage auch keine Illusion
von ethnischer Reinheit braucht. Ich kann gar nicht all die schönen Erfahrungen aufzählen,
die ich an verschiedenen Goethe-Instituten gemacht habe. Einige Institute,
wie zum Beispiel in Tampere oder in Vancouver, existieren heute nicht
mehr. In Finnland und Schweden fühlte ich mich mit den Zuhörern einer Menschengruppe zugehörig - jener Gruppe von Menschen, die an der deutschen Sprache literarische Freude empfinden. Dieses Gefühl war in Prag und in Sofia noch stärker. Nach der Lesung in Sofia fragte mich ein Student, wo ich mich zu Hause fühle. Ich antwortete spontan: überall, wo ich die
Faszination für Literatur mit anderen Leuten teilen kann.
Der Artikel ist in der Festschrift zur gleichnamigen Ausstellung erschienen: im
Kronprinzenpalais erschienen im C.H.
Beck Verlag |