Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum (DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015

 

Die Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM

 

"Approximation = Annäherung"

"Bekannt aus der Mathematik ist die Lehre von den Approximationen: Einer gewissen Größe kann man sich nur annähern, nie kann man diese deckungsgleich erreichen. Analog verhält es sich mit den Aussagen über den Holocaust." Mit diesen Worten beschrieb Richard Glazar seine Erfahrungen aus Vorträgen und Diskussionen über den Holocaust, in denen er immer wieder aus seinen Erinnerungen über den Tod und das Überleben im Vernichtungslager Treblinka berichtet hatte. Treblinka war nach Auschwitz die größte industriell betriebene Vernichtungsstätte der Nationalsozialisten. Das im besetzten Polen gelegene Lager wurde zwischen Mai und Juli 1942 errichtet. Bis August 1943 wurden hier etwa 900.000 Menschen in den Gaskammern ermordet. Zu den Opfern gehörten vorwiegend Juden, aber auch Sinti und Roma. Treblinka diente ausschließlich der Massenvernichtung. Hier wurden nur diejenigen nicht sofort getötet, die für den Fortgang des Vernichtungsbetriebes notwendig waren. Sie wurden für das Entladen der Waggons, das Sortieren des Eigentums der Ermordeten und die Beseitigung der toten Leiber missbraucht. Auch der Autor Richard Glazar gehörte zu ihnen. In seinem Erinnerungsbericht "Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka." schildert er seinen Weg durch das Martyrium der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.
Deportation und Gewissheit
1940, ein Jahr nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei, wird Richard Glazar von seinen Eltern aus Sorge vor antisemitischen Repressionen in einem abgelegenen Dorf in der Nähe Prags versteckt, wo er bis zu seiner Entdeckung auf dem Hof eines Bauern lebt. Im September 1942 wird der 20jährige zunächst nach Theresienstadt und von dort nach einmonatiger Internierung weiter nach Treblinka verschleppt. Hier entgeht er nach seiner Ankunft eher zufällig der unmittelbaren Tötung; im letzten Moment wird er der Sortierarbeit zugewiesen und muß künftig als sog. "Arbeitsjude" den Mördern dienen. Schnell begreift er - Treblinka ist kein Arbeitslager, sondern reine Vernichtungsstätte. Sein Überleben ist auf das Engste mit dem Ablauf der Massentötung verknüpft. Zwischen August und Dezember 1942 erreichen die meisten Transporte das Todeslager. Mit den Deportierten kommen auch Kleidung, Lebensmittel, Schmuck und andere Habseligkeiten, die in den Baracken sortiert und nach Geld und Gold durchsucht werden. Für die "Arbeitsjuden" bedeuten die Häftlingstransporte eine kurzzeitige Linderung ihrer Situation. Sie können während der Sortierarbeit ihren Hunger stillen und sich mit Kleidung versorgen. Das Eintreffen der Deportationszüge ist unauflöslich mit ihrer eigenen Existenz verbunden. Ohne die Transporte drohen ihnen Hunger und Mangelerscheinungen, die bei vielen zu Krankheit und Tod führen. Was für die "Arbeitsjuden" überlebensnotwendig ist, dient dem Wachpersonal und den Aufsehern als Bereicherungsquelle. Sie bemächtigen sich eines Teils des Geldes und der Wertsachen der Toten und treiben mit umliegenden Bauern Handel. Anfang des Jahres 1943 gehen die Transporte drastisch zurück, im März bleiben sie zunächst ganz aus. Für Richard Glazar und seine Mithäftlinge bedeuten die leeren Lagerhäuser, die dadurch erzwungene Untätigkeit eine besondere Gefährdung. "Sie können sich nicht vorstellen, was wir fühlten, als nichts mehr da war. Verstehen Sie, diese Sachen waren unsere Existenzberechtigung. Wenn es keine Sachen mehr zu verwalten gab, warum sollten sie uns am Leben lassen?" reflektiert Richard Glazar in einem Gespräch nach 1945 mit der britischen Publizistin Gitta Sereny, die 1974 ihre Gesprächsaufzeichnungen mit dem Lagerkommandanten Franz Stangl und einigen der überlebenden Opfer in deutscher Übersetzung veröffentlicht.
Aufstand und Flucht
Im Frühjahr 1943 beginnen die Täter auf Befehl Himmlers mit der Vernichtung der Spuren ihres Verbrechens. Sie lassen Tausende toter Menschen aus den Massengräbern ausgraben und auf Rosten aus Eisenbahnschienen verbrennen. Ein "ewig andauernd süßlich-ekliger Geruch der Verbrennungen" überzieht die Todesstätte. Zu dieser Zeit bildet sich innerhalb des Lagers eine Widerstandsgruppe, die sich Zugang zu Waffen verschafft und einen Aufstand vorbereitet. Nach vielen Rückschlägen gelingt am 2. August 1943 eine Häftlingsrevolte, die Richard Glazar und weiteren Häftlingen einen Ausbruch ermöglicht. Ein großer Teil der Flüchtigen wird jedoch in der Umgebung des Lagers aufgegriffen und getötet. Dem Autor sowie seinem Freund und Mithäftling Karel Unger glückt jedoch die Flucht. Beide schlagen sich durch Polen in die Tschechoslowakei. Dort gelingt ihnen unter falscher Identität als tschechische Fremdarbeiter die Flucht nach Deutschland. Hier überleben sie in der Heinrich Lanz AG, einer Mannheimer Firma, die zu der Zeit für die deutsche Rüstung tätig ist, die letzten zwei Kriegsjahre.
Nachkriegsjahre
Richard Glazar kehrt nach der Befreiung durch US-Amerikaner nach Prag zurück und nimmt dort ein Studium auf, das er mit einem Diplom als Wirtschaftsingenieur abschließt. Doch auch jetzt kommt er nicht zur Ruhe. Unter dem Stalinismus wird er als "politisch unzuverlässiges Element" erneut verfolgt und zur Arbeit in einem Hüttenwerk verpflichtet. Nach der Niederschlagung des "Prager Frühlings" flüchtet er mit seiner Familie in die Schweiz. 1963 und 1971 sagt er als einer von nur 54 der Überlebenden des Aufstandes in den Düsseldorfer Prozessen gegen die Täter und ihre Helfer aus. In seinen letzten Lebensjahren kommt er zahlreichen Einladungen nach. Er hält Vorträge an Hochschulen und Kulturinstitutionen. Richard Glazar spricht von einer "schicksalhaften, sehr traurigen Sonderstellung", die ihm als Überlebenden von Treblinka vorbehalten sei. Am 20. Dezember 1997 stirbt der Zeuge und Chronist von Treblinka. Wenige Monate nach dem Tod seiner Frau nimmt er sich das Leben.
Epilog
Richard Glazars Erinnerungsbericht "Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka" ist ein bewegendes Zeugnis für die Leiden der unzähligen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Seine Schilderungen vermitteln dem Leser ein beklemmendes Bild von dem Überlebenskampf des Einzelnen inmitten der Barbarei des Lagers, wo oft nur ein winziges Detail über Leben oder Tod entschied. Auch gestatten sie einen Eindruck von der Bedeutung menschlicher Größe und Solidarität, die in Treblinka oft der Niedertracht entgegenwirkte und den Widerstand formierte, der dem Autor und einigen wenigen das Überleben ermöglichte. Ferner zeugen die Aufzeichnungen von der psychischen Marter der Funktionshäftlinge, die tagtäglich den Henkern dienen mußten, um ihr nacktes Überleben zu sichern. Richard Glazar selbst verstand sein Buch als Vermächtnis, als Tribut für die Opfer. Seinen Erinnerungen kommt besondere Bedeutung zu, da sie bereits kurz nach seiner Befreiung niedergeschrieben wurden. Leider wurde dem zunächst nicht Rechnung getragen; Jahrzehnte fand sich kein Verleger für das in tschechischer Sprache verfasste Manuskript. Erst 1992 wurde eine Übersetzung in der Reihe "Lebensbilder. Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse" veröffentlicht und fand so Eingang in den deutschen Buchhandel. 1994 erfolgte die Herausgabe der tschechischen Originalfassung über einen Prager Verlag. Dem Autor Richard Glazar und den Herausgebern ist dafür zu danken.
In dieser Zeit, in der Friedhofsschändungen wieder zu Alltagserscheinungen werden und antisemitische und ausländerfeindliche Parolen an Öffentlichkeit gewinnen, stellen die Schilderungen der Überlebenden einen erschütternden Mahnruf zu Humanität und Zivilcourage dar.

Glazar, Richard, Die Falle mit dem grünen Zaun. Überleben in Treblinka, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1992, EUR 8,45

Weiterführend:
Sereny, Gitta, Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, Piper Verlag, München 1995, EUR 14,90

Ursula Marks


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