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            Humboldt-Universität zu Berlin 
              Institut für Geschichtswissenschaften  
              Neueste Geschichte  
              Dr. des. Kiran Klaus 
              Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum 
              (DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik) 
              Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015 
              
            Die 
              Vernichtung der europäischen Juden 
              als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM 
              
              
              FRAUEN IN KONZENTRATIONSLAGER  
            
            "Immer hat Gustine von diesem Gott gesprochen, 
              am Ende habe ich es nicht mehr hören können. Dieses ewige: 
              `Gott lässt seine Geschöpfte nicht im Stich. Gott weiß, 
              was er tut. Gott kann nicht zulassen, dass das Unrecht siegt´ 
              - und nebenan raucht das Krematorium, und uns fallen Ascheflocken 
              auf den Kopf!" 
             LIANA MILLU 
              Liana Millu wurde 1914 in Pisa, Toskana, geboren. Sie absolvierte 
              eine pädagogische Ausbildung an einem "istituto magistrale". 
              1943 arbeitete sie für eine Gruppe der italienischen "resistenza". 
              Millu war Häftling im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau, als 
              sie Anfang dreissig war. Sie hat das Buch 1946 geschrieben, gleich 
              nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz. Es erschien aber auf Italienisch 
              erst 1948 und wurde 1997 ins Deutsche übersetzt. Sie hat dann 
              als Journalistin und Lehrerin gearbeitet und Vorträge gehalten. 
              Seit mehr als 50 Jahren lebt sie in Genua. 
               
              ITALIENISCHE JUDEN UND DER HOLOCAUST IN ITALIEN 
              Liana Millu wurde 1944 nach Birkenau deportiert, weil sie Jüdin 
              war. In Italien gab es damals rund 40 000 italienische Juden und 
              ihre Identität war nicht mehr stark ausgeprägt: Die italienischen 
              Juden waren als solche nicht immer erkennbar und sie sprachen kein 
              Yiddisch. Primo Levi hat gesagt, dass dieses Merkmal vielen von 
              ihnen in den Todeslagern das Leben gekostet habe, denn sie konnten 
              nicht kommunizieren und wurden von den polnischen, russischen und 
              ungarischen Juden als Verdächtige betrachtet und ausgegrenzt. 
              Die Juden in Italien waren ziemlich gut akzeptiert und integriert. 
              Ihre Lebensumstände entschwerten sich jedoch seit 1938, als 
              am 6. Oktober der Grosse Faschistische Rat den Rassengesetzen zustimmte 
              und Juden zu Menschen zweiter Klasse degradierte. Die Deportationen 
              begannen im Jahre 1943. Offiziell war in Italien nichts von den 
              Konzentrationslagern bekannt, die das Ziel der Züge Richtung 
              Deutschland waren. Über die ausweichenden und euphemistischen 
              Antworten, dass Juden die innere Sicherheit gefährdeten und 
              zur Arbeit gebraucht würden, gingen die Auskünfte von 
              deutscher Seite an Bekannte der Deportierten nicht hinaus. Wenn 
              skeptische Italiener fragten, ob Alte, Kranke und Kleinkinder die 
              Achse bedrohten oder Zwangsarbeit leisten sollten, wurde von den 
              deutschen und italienischen Beamten das Thema gewechselt. Aber, 
              je mehr die Italiener erfuhren, desto weniger wagten sie davon zu 
              sprechen, denn sie konnten an die Monströsitäten des Massenmordes 
              kaum glauben. Erst die Memoiren der Überlebenden ermöglichten 
              eine Ahnung von der unbeschreiblichen Grausamkeit der nationalsozialistischen 
              Verbrechen. Die Zeugnisse mussten zunächst den Unglauben der 
              breiten Bevölkerung überwinden und die Aufmerksamkeit 
              auf ein so unmenschliches Ereignis wie den Holocaust lenken. 
            DIE HANDLUNG 
              "Der Rauch über Birkenau" gehört zu den eindrucksvollsten 
              Zeugnissen eines Konzentrationslagers für Frauen. Das Leben 
              für Frauen in Konzentrationslagern war laut Millu viel schwerer 
              als das von Männern: Sie hatten nämlich geringere körperliche 
              Widerstandkraft bei der sehr schweren Arbeit. Zu Abtreibungen gezwungen 
              und von Männern erniedrigt, verloren sie ihre Weiblichheit 
              und ihr Dasein. Die Autorin gibt durch sechs Erzählungen sechs 
              persönliche weibliche Erlebnisse wieder: Lili, die durch eine 
              gleichgültige Handbewegung zum Tod verurteilt wird, weil ihre 
              Kapo in ihr eine Liebesrivalin sieht; Maria, die ihre Schwangerschaft 
              verschweigt, als sie ins Lager kommt. Sie bandagiert ihren Bauch 
              jeden Morgen, um ihren Zustand zu verbergen, und sie erträgt 
              die schwere Arbeit und die ständigen Schläge, denn sie 
              will, dass ihr Kind zur Welt kommt. Es wird geboren, aber ein Vernichtungslager 
              kann nichts anders sein als eine Welt von Tod, deswegen verbluten 
              Mutter und Kind in der schmutzigen und stinkenden Baracke. Die anderen 
              Frauen dürfen nicht beim Appell fehlen und können keine 
              Hilfe leisten. 
              Bruna trifft ihren dreizehnjährigen Sohn in einem angrenzenden 
              Lager, sie umarmen einander durch den Hochspannungsdraht und werden 
              getötet. Zunächst wird die Geschichte von Zina dargestellt, 
              die stirbt, nachdem sie einem Mann bei der Flucht geholfen hat, 
              nur weil dieser ihrem Mann Grigori ähnelt, der von den Nazis 
              getötet wurde. 
              Schließlich erzählt Millu vom dem Schicksal zweier Schwestern, 
              die getrennt werden: die eine entschließt sich für das 
              Bordell und die andere lehnt es ab. Die letzte Geschichte handelt 
              von einer verliebten Frau, die innerlich zerrissen ist. Sie muss 
              sich entscheiden, entweder ihrem Mann treu zu bleiben und zu verhungern 
              oder sich entehren zu lassen, dafür aber zu überleben? 
            STIL DES BUCHES UND POSITION DER AUTORIN 
              Die Hauptpersonen der Erzählungen sind Millus Leidgenossinnen 
              und Kameradinnen aus dem Vernichtungslager. Deshalb steht die Autorin 
              fast nie im Vordergrund. Sie hat ein waches Bewusstsein, das die 
              Ereignisse und ihre Nuancen registriert, um diese mit einer zurückhaltenden 
              Sprache wiederzugeben. Unter den Verzweiflungen des Lagers kann 
              sie auch die Träume und das leichte Lächeln der Frauen 
              erkennen. "Der Krieg wird bald vorbei sein und wir alle frei 
              sein": Wie oft wird dieser Satz von den Häftlingen wiederholt, 
              wenn sie abends von der Arbeit geschafft den Lärm der alliierten 
              Flugzeuge hören. Dann belebt etwas Fröhliches ihre ausgemergelten 
              Körper und Gesichter, aber ein Blick durch das kleine Fenster 
              ist genug, um alles zu erlöschen: Die riesigen Flammen aus 
              den Schornsteinen der Krematorien verbrennen zusammen mit vielen 
              Bekannten auch ihre Täuschungen. Über allen Hoffnungen 
              ist immer der Rauch von Birkenau. 
              Die Autorin kann das Unausprechliche mit einer essentiellen Sprache 
              wiedergeben, so dass manchmal hinter einer minutiösen Beschreibung 
              einer plötzlichen Veränderung eines Gesichtsausdrucks 
              etwas Schauriges steckt. Dieses Sagen durch das Nicht-Sagen, diese 
              dünne Grenze zwischen Erzählen und Schweigen laden den/die 
              LeserIn zur ernsthaften Betrachtung ein und machen das Buch sehr 
              emotional. 
             Die Autorin spricht über Frauen und ihre Gefühle 
              - das Gefühl der Mütterlichheit, der Zuneigung für 
              den Geliebten, den Sohn, den Ehemann oder die Schwester. Trotzdem 
              appelliert das Buch an die Emotionen eines jeden Lesers, denn Millu 
              lässt uns daran denken, was das Böse in Menschen gebären 
              kann. Unsere Pflicht ist es, nicht zu vergessen. Das Vergessen würde 
              bedeuten, nicht nur diese Millionen Menschen noch einmal zu töten, 
              sondern auch die Voraussetzungen des Holocaust nicht zu begreifen. 
              Dabei kommen mir die Worte eines berühmten italienischen Liedes 
              in den Sinn: "Ich bin gestorben, als ich ein Kind war/ ich 
              bin mit hundert Anderen gestorben/ durch einen Schornstein gegangen/ 
              und jetzt bin ich im Wind". 
             Claudia Gozzini 
            MILLU, Liana, Der Rauch über Birkenau, München: 
              Kunstmann, 1997. 
            STEINBERG, Jona, Italiener und Juden. Der italienische 
              Widerstand gegen den Holocaust, Göttingen: Steidl Verlag, 1994. 
            
            
             
             
            
             
                
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