Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum (DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015

 

Die Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM

 

Dem Unfassbaren Ausdruck geben
- Schreiben, Sprechen und Bauen als Erinnerung
an den nationalsozialistischen Völkermord -

Allein die Suche nach einem angemessen Begriff, einem Namen für das Leid, das den Juden Europas in der Verfolgung durch die Nationalsozialisten angetan wurde, hat sechzig Jahre nach den Taten noch keinen Abschluss gefunden. Der Weg von der juristisch-nüchternen Be-zeichnung "Völkermord", über die "Katastrophe", die "Shoa", bis hin zum "Holocaust", dem "Brandopfer", dokumentiert zugleich Sichtweisen, Erklärungen, verschiedene Möglichkeiten, sich dem Grauen zu nähern. Je mehr sich unser Wissen über Opfer, Täter und Geschehnisse verbreitert, desto größer wird auch das Bedürfnis nach Zugangsformen, mit denen wir uns den vielfältigen, verwirrenden und erschreckenden Vorgängen nähern, sie vielleicht ansatzweise verstehen können. Gibt es eine Weise, auf die das am besten gelingt ?
Das naheliegende Bedürfnis nach Authenzität, nach den Stimmen der Opfer, die den eigenen Leidensweg schildern, verweist vielleicht zuerst auf die Memoirenliteratur. Die oft unange-messen abstrakte Perspektive der "großen Politik", der Pläne der Machthaber oder des Welt-krieges wird hier gebündelt in ihren Auswirkungen auf den Einzelnen, auf das bestimmbare Schicksal, das durch den Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten mitgerissen wurde. Aus ganz unterschiedlichen Lebenswegen sind uns solche Erinnerungen überliefert, viele enden in den Ghettos und Konzentrationslagern. Der Vernichtung entkommen ringen die Zeugen in ihrem Schreiben oft mit dem Gefühl der Schuld gegenüber den Ermordeten. Die Einzelheiten im Alltag der Opfer führen den Leser in einen erdrückenden Mikrokosmos des Leids und we-cken in der Regel seine Erschütterung und seine Abscheu, vielleicht auch seine Wut. Die Art der Darstellung ist nicht verwiesen auf das Wissen um die großen Zusammenhänge, sondern trägt sich durch ihre Nähe zum Geschehen selbst. Insbesondere dieser direkte, anschauliche Zugang macht den Augenzeugenbericht oder die fiktionale Erlebniserzählung zu einem ge-eigneten ersten Einstieg für Kinder und Jugendliche in dieses schwierige Thema. Noch un-mittelbarer erreichen uns diese Schilderungen, wenn sie nicht nur niedergeschrieben, sondern festgehalten wurden in Ton und Bild. Sammlungen von Überlebendeninterviews, etwa als Studienprogramm auf CD, füllen die Lücke, die eine lange und intensive Beschäftigung mit den Tätern bisher gelassen hatte.
Trotzdem - bleibt dieser Zugang vielleicht nicht auch in einer Weise unwirklich und unvoll-ständig, indem er dem Leser oder Betrachter genauso erscheint wie den schildernden Opfern selbst, eben als "Katastrophe", die unvermittelt und unpersönlich über sie hereingebrochen war ? Der Wunsch nach Vollständigkeit und Vielseitigkeit in der Schilderung des Geschehe-nen muss nicht nur Ausdruck fachwissenschaftlicher Langatmigkeit sein, die sich um das Problem der Vermittlung nicht kümmert. Leid und Elend treffen den Einzelnen immer in un-beschreiblicher Grausamkeit, egal ob er sie als Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns oder anderer mörderischer Verfolgung erlebt. Kann aus dem Leid der Juden Europas eine Lehre gezogen werden, wenn man es v.a. als Schicksal Einzelner begreift und sich dann kopf-schüttelnd abwendet ? Auf das besondere Schicksal der jüdischen Opfer als Gruppe, mit der ihr eigenen Vorgeschichte und Identität verweisen uns z.B. die authentischen Orte und Denkmäler ihres Lebens vor der Verfolgung, ebenso wie die Stätten des Leidens und der sich ankündigenden Vernichtung selbst. In der Regel sind die vormaligen Zentren jüdischen Le-bens heute verwaist und unkenntlich, auf sie muss aufmerksam gemacht werden, um sie in ihrer vormaligen Bedeutung zu erkennen. Nur wenige Orte sprechen für sich, die meisten er-schließen sich erst in der Verbindung mit der nachträglichen Dokumentation ihrer Geschichte. Gerade dort aber, wo die Leiden der Opfer mit den Verbrechen der Täter räumlich zusammen-fallen, zeigen sich die Vorgänge der Vernichtung in ihrer ganzen Monstrosität, sei es an den Bahnhöfen der Deportationen oder auf dem Gelände der Konzentrationslager. Diese Stätten bedürfen deshalb oft einer Architektur des Erinnerns, in Gestalt der wiederhergestellten Bauten, der Gedenktafeln oder der Mahnmale. Je mehr die Orte aber der ergänzenden Gestal-tung bedürfen, desto mehr werden sie auch interpretiert, in einen Zusammenhang gestellt, wird ihre eigene Geschichte in die Gesamtgeschichte der Vernichtung verlängert. Der Wunsch nach Überblick steht auch hier in einem Spannungsverhältnis zur beschränkten aber immer auch besonderen und lebendigen Geschichte des historischen Ortes, die genutzt und erhalten werden will.
In diesem Sinne bleiben die vielfältigen Wege des Zugangs zum Geschehenen immer nur Möglichkeiten und Näherungen, mit ihren je eigenen Vorzügen und Einschränkungen. Sie ergänzen sich und erweisen sich unterschiedlich geeignet für die verschiedenen Interessen und Fragestellungen, die wir an sie herantragen. Eine informierte Auswahl zu treffen, um für das notwendige Gedenken an den nationalsozialistischen Völkermord viele mögliche, beden-kenswerte und fruchtbare Ansätze nutzen zu können, dazu will diese Auswahl von Texten eine Hilfestellung sein.

 


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