Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum (DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015

 

Die Vernichtung der europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM

 

Protokoll für die 4. Sitzung vom 7. November 2001

Nachdem sich die dritte Sitzung der Übung mit der Rekonstruktion der Ereignisse der Wannsee-Konferenz und einer ersten Annäherung an ihre Bedeutung für die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden beschäftigt hat, behandeln Sitzungen vier und fünf neuere geschichtswissenschaftliche Debatten zu diesem Thema. Lektüregrundlage der vierten Sitzung ist der Aufsatz "Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden" von Christian Gerlach (erstmals publiziert 1997). Der Text stellt eine gewichtige Neuinterpretation der Wannsee-Konferenz und der Stellung Hitlers in dem Entscheidungsprozeß zum Genozid dar. Er wurde zunächst von der Studentin Urte Knigge referiert und anschließend diskutiert.

Gerlachs These lautet, daß die Wannsee-Konferenz "eine Voraussetzung dafür war, nicht allein die ,Ostjuden', sondern auch die deutschen und westeuropäischen Juden zu ermorden" (S. 87). Laut Gerlach traf Hitler eine Grundsatzentscheidung (Gerlach spricht ausdrücklich nicht von einem direkten Befehl o.ä. an nachgeordnete Stellen) zum umfassenden Genozid in den Tagen vor dem 12. Dezember 1941, das heißt kurz nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Zu diesem Zeitpunkt waren Mordaktionen in verschiedenen Gebieten Osteuropas bereits im Gange. Für die These von der Grundsatzentscheidung liefert Gerlach eine dichte Kette an Indizienbeweisen, die sich primär auf die Aufzeichnungen von Joseph Goebbels über eine Tagung der Reichs- und Gauleiter am 12. Dezember stützt. Nach Gerlachs Interpretation gab Hitler hier seine Grundsatzentscheidung seinen engsten, langjährigen politischen Mitarbeitern bekannt.

Welche Bedeutung nahm nun laut Gerlach die Wannsee-Konferenz ein? Seiner Meinung nach brachte erst sie die organisatorische Vorarbeit dafür, daß das Mordprogramm auf alle Juden innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs ausgeweitet wurde; sie diente somit der grundsätzlichen Koordinierung des beschlossenen Mordprogramms. Aus der Sicht von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, war die Zusammenkunft erfolgreich, da diese Radikalisierung auf der Konferenz auf keinen Widerspruch stieß. Lediglich in der Detailfrage, wie mit "Mischlingen" umzugehen sei, ließ sich kein Konsens finden.

Die Diskussion diente zunächst der Rekonstruktion der komplexen Argumentation des Artikels. Außerdem wurde die Frage nach der Schuld, bzw. der Verantwortung für den Massenmord diskutiert, die diesem und allen anderen Beiträgen zum Thema zugrunde liegt. Dabei wurden die beiden großen Interpretationsmuster, die die historische Forschung lange Zeit prägten, erörtert: auf der einen Seite der "intentionalistische" oder "hitleristische" Ansatz, der ausgehend von der Person Hitlers und seiner Ideologie im Holocaust primär die Umsetzung von Hitlers Weltanschauung gesehen hat. Hitler nahm demnach in einem nach dem "Führerprinzip" aufgebauten, hierarchischen Staat die oberste Stellung in einer Befehlskette ein. Dementsprechend verorteten die Vertreter dieses Ansatzes die Hauptschuld für den Holocaust bei Hitler. Dagegen argumentierte in der Forschung auf der anderen Seite die "funktionalistische" oder "strukturalistische" Richtung, laut der Hitler im Machtgefüge des NS-Regimes eine eher schwache Position eingenommen habe. Die NS-Judenpolitik habe sich nicht geplant entwickelt, sondern sei unsystematisch und improvisiert verlaufen als Serie von Ad-hoc-Entscheidungen eines aufgesplitterten und chaotischen Regierungsapparats. Mehr als "intentionalististische" sehen "funktionalistische" Interpretationen die Schuld für den Holocaust bei nachgeordneten Instanzen des NS-Machtapparats. Beide Ansätze haben, wie die Diskussion zeigte, ihre Stärken und Schwächen. Eine Gefahr liegt auf jeden Fall in der Polarisierung, die droht, wenn eine der beiden Herangehensweisen verabsolutiert wird.

Deswegen hat sich in den letzten 10-15 Jahren ein Konsens in den geschichtswissenschaftlichen Debatten zugunsten einer vermittelnden Position herauskristallisiert. Wie die Diskussion in der Übung zeigte, weist auch der Artikel von Gerlach in diese Richtung, da er dem "Faktor Hitler" wesentliche Bedeutung zukommen läßt, zugleich aber nachgeordneten Institutionen eine gewichtige Rolle einräumt.

Textgrundlage der Sitzung:

GERLACH, Christian, Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in: ders., Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 85-166.

Weiterführende Literatur:

  • ALY, Götz, "Endlösung": Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/Main 1995.
  • ALY, Götz, HEIM, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/Main 1993.
  • GERLACH, Christian, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
  • HEHL, Ulrich von, Nationalsozialistische Herrschaft, München 22001 (1996) (Oldenbourg Enzyklopädie der Geschichte, Bd. 39).
  • HILDEBRAND, Klaus, Das Dritte Reich, München 51995 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 17).
  • KERSHAW, Ian, Hitler und der Holocaust, in: ders., Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 22001 (1999), S. 148-206.
  • LONGERICH, Peter, Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942: Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden. Öffentlicher Vortrag im Haus der Wannsee-Konferenz am 19. Januar 1998, ergänzt durch eine kommentierte Auswahlbibliographie zur Wannsee-Konferenz und dem Beginn des Völkermords an den europäischen Juden, Berlin 1998.

Christopher Egenberger/Gerd Kühling

 

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