Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichtswissenschaften
Neueste Geschichte
Dr. des. Kiran Klaus
Patel in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum
(DHM, Brigitte Vogel und Stefan Bresky, Museumspädagogik)
Wintersemester 2001/2, Mi 14-16 Uhr, Raum 3015
Die Vernichtung der
europäischen Juden
als Thema der Geschichtswissenschaft und einer Ausstellung des DHM
Protokoll für die 5. Sitzung
vom 14. November 2001
Textgrundlage der fünften Sitzung war das Kapitel
aus der neuesten Auflage von Ian Kershaws "NS-Staat",
das sich mit der Verfolgung und Vernichtung der europäischen
Juden beschäftigt. In diesen Überblick über die Forschungen
und die Interpretationen des Nationalsozialismus hat der britische
Sozialhistoriker die Studien der letzten Jahre, inklusive der in
Sitzung 4 diskutierten Thesen Gerlachs, bereits eingearbeitet. Zugleich
bietet Kershaw, einer der renommiertesten Historiker zur Geschichte
des NS-Regimes, in dem Kapitel eine eigene Interpretation der Ereignisse
an.
Nachdem in der Sitzung zunächst der Text von
der Studentin Dorit Günther vorgestellt wurde, widmete sich
die Diskussion folgenden Fragen:
1. Wie ist Kershaws Aufsatz allgemein einzuschätzen?
2. Wie deutet Kershaw die Vernichtung der europäischen
Juden?
3. Worin unterscheidet sich seine Interpretation von
der in der letzten Sitzung
besprochenen Position Gerlachs?
4. Zusammenfassung der Sitzungen 3 bis 5: Welche Interpretation
vertreten die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Übung nach Analyse der historischen
Debatten?
Zu 1:
Bei seiner Diskussion der Forschungsgeschichte zur deutschen Vernichtungspolitik
unterscheidet Kershaw grundsätzlich zwischen dem funktionalistischen
und dem intentionalistischen Ansatz (vgl. Protokoll der 4. Sitzung).
Diese polarisierende Darstellungsweise entspricht, wie die Diskussion
ergab, dem Stand der geschichtswissenschaftlichen Debatten der 1970er
und 1980er Jahre, als sich beide Schulen teilweise unversöhnlich
gegenüberstanden (Eine erste Fassung des "NS-Staats"
hat Kershaw übrigens 1985 publiziert). Der Mittelweg zwischen
Funktionalismus und Intentionalismus, der sich in den Debatten seit
den späten 1980er Jahren herausgebildet hat, tritt dagegen
bei Kershaw nicht sehr deutlich zum Vorschein. Außerdem kann
man ihm vorwerfen, daß er die Argumente der funktionalistischen
Richtung, der er selbst angehört, stärker macht als die
der Intentionalisten.
Zu 2:
Laut Kershaw brauchte Hitler selbst keine Anweisungen zu erteilen,
um den Radikalisierungsprozeß zwischen 1939 und 1941 zu fördern.
Vielmehr speiste sich dessen Dynamik, die schließlich zum
Genozid führte, aus einer Kombination bürokratischer Maßnahmen
und Ad-hoc-Initiativen in den besetzten Gebieten. Ohne den Beitrag
von Wehrmacht, Beamtenschaft und der deutschen Industrie wäre
laut Kershaw die "Endlösung" nicht möglich gewesen.
Hitler schuf demnach eine Atmosphäre extremen Judenhasses.
Er war außerdem über alle Vorgänge informiert und
billigte sie. Zugleich bezweifelt Kershaw, das Hitler jemals eine
einzelne, umfassende "Führerentscheidung" zum Genozid
gegeben habe.
Die chaotische und häufig improvisierte Entwicklung
der Verfolgungspolitik im Sommer und Herbst 1941 führt Kershaw
zu der Sicht, daß die "Endlösung" nicht in
einem Schritt, sondern in Form mehrerer Stufen beschlossen wurde.
Seiner Meinung nach bildete sich das umfassende Genozidprogramm
erst nach der Wannsee-Konferenz aus.
Zu 3:
Im Vergleich zu Gerlach gibt Kershaw der Tagung der Reichs- und
Gauleiter vom 12. Dezember 1941 eine geringere Bedeutung. Laut Kershaw
hat Hitler hier keine Grundsatzentscheidung bekanntgegeben, da ansonsten
die anderen Sitzungsteilnehmer dem Treffen größeres Gewicht
hätten beimessen müssen. Aus den überlieferten Tagebüchern,
Memoiren usw. sowie allen anderen Dokumenten läßt sich
das seiner Meinung nach aber nicht herauslesen. Vielmehr habe die
Wannsee-Konferenz in einer Phase stattgefunden, in der die "Lösung
der Judenfrage" raschen Perspektivwechseln unterlag. Die Zusammenkunft
diente demnach nicht der Koordinierung eines bestehenden Plans zur
"Endlösung" (was Gerlach meint), sondern leitete
"die Endphase der Eskalation der Vernichtungspolitik ein: die
Einbeziehung aller von Deutschland besetzten europäischen Länder
in ein umfassendes Programm zur systematischen Vernichtung der Juden"
(S. 200).
Zu 4:
Es ließ sich kein vollständiger Konsens unter den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern der Veranstaltung herstellen, welcher Interpretation
zu folgen sei. Manche neigten der Deutung Gerlachs zu, andere folgten
Kershaw; Dritte schlugen ganz andere Erklärungsmodelle vor.
Ein gewisser Minimalkonsens zur Bedeutung der Wannsee-Konferenz
ließ sich jedoch für die meisten Studierenden finden:
1. Trotz aller Forschungen ließ sich bislang
ein eindeutiger Befehl Hitlers, die Juden zu ermorden, nicht finden.
Allerdings schuf Hitler das geistige Klima, in dem sich radikale
Tötungsabsichten entwickelten; er war außerdem über
die Tötungsaktionen informiert und billigte sie. Es gab nicht
den einen Zeitpunkt, zu dem das Mordprogramm beschlossen wurde und
seit dem es ablief; vielmehr entwickelte sich der Genozid stufenweise
aus einem Zusammenspiel zwischen Einzelaktionen nachgeordneter Instanzen
und vereinheitlichenden Regelungen von oben. Diese Deutung liegt
auf dem Mittelweg zwischen vielen älteren, entweder funktionalistischen
oder interntionalistischen Interpretationen.
2. Eine isolierte Analyse der Ermordung der europäischen
Juden erscheint wenig sinnvoll. Vielmehr muß die Geschichte
dieses Genozids in den Kontext der Geschichte des Zweiten Weltkriegs
und in die Geschichte von Verfolgung und Ermordung anderer Gruppen
(z.B. Sinti und Roma, Kriegsgefangene) eingebettet werden.
3. Welche Bedeutung die Wannsee-Konferenz für
den Vernichtungsprozeß hatte, läßt sich nicht ganz
klären. Viel spricht aber dafür, daß sie zum einen
Informationscharakter zum Stand der Aktionen hatte. Zum anderen
wurden auf ihr künftige Aufgaben koordiniert, was eine weitere
inhaltliche Radikalisierung zur Folge hatte. Drittens sicherte sich
auf der Zusammenkunft das Reichssicherheitshauptamt seine Federführung
im Genozid ab. Viertens schließlich sollten hier Detailfragen,
vor allem zum Umgang mit "Mischlingen", geklärt werden.
Zusammenfassend stellt die Konferenz demnach wohl nur ein Glied
in der Kette der Planung und der Umsetzung des Völkermord dar;
ob ihr eine Grundsatzentscheidung Hitlers vorangegangen war, erscheint
als fraglich.
Textgrundlage der Sitzung:
KERSHAW, Ian, Hitler und der Holocaust, in: ders.,
Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick,
Reinbek 22001 (1999), S. 148-206.
Weiterführende Literatur:
- ARNOLD, Klaus Jochen, Hitlers Wandel im August
1941: ein Kommentar zu den Thesen Tobias Jersaks, in: ZfG 48 (2000),
S. 239-250.
- EVANS, Richard J., Der Geschichtsfälscher.
Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozeß,
Frankfurt/Main/New York 2001.
- JERSAK, Tobias, Die Interaktion von Kriegsverlauf
und Judenvernichtung. Ein Blick auf Hitlers Strategie im Spätsommer
1941, in: HZ 268 (1999), S. 311-374.
- KERSHAW, Ian, Hitler, 2 Bde., Stuttgart 1998/2000.
Christopher Egenberger/Gerd Kühling
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